Deutschland | Mexiko | Nummer 533 - November 2018 | Sport

DAS UNSICHTBARE MASSAKER DER SPIELE

Interview mit Georg Fehst, Mitglied der DDR-Jugenddelegation in Mexiko während der Olympischen Spiele 1968

50 Jahre nach dem Massaker wenige Tage vor den Olympischen Spielen berichtet ein DDR-Zeitzeuge von seinen Erinnerungen in Mexiko – und blättert in DDR-Olympiabüchern. Im Sommer 1968 wird das Leben des DDR-Oberschülers Georg Fehst nachhaltig erschüttert. Der 18-Jährige wird ausgewählt, die Jugenddelegation des Arbeiter-und-Bauern-Staats bei den Olympischen Spielen in Mexiko-Stadt zu verstärken. Für ihn war es „das prägende Ereignis meiner Jugend“, für die DDR sportlich und diplomatisch ein riesiger Erfolg. Erst später erfährt Fehst, der bis zur Rente für Die Linke in der Bundestagsfraktion arbeitete, vom Ausmaß der brutalen Repression, die dem sportlichen Großereignis vorausging. Die Hintergünde zum Thema befinden sich im Kasten am Ende des Interviews.

Interview: Nils Brock

Mit 18 Jahren aus einer ostdeutschen Kleinstadt nach Mexiko-Stadt zu reisen – das geht auch 2018 noch als großes Abenteuer durch. Aber damals muss diese Nachricht Sie doch völlig umgehauen haben …

Ich bekam einen Anruf von meinen Eltern, als ich gerade bei meiner Freundin im Vogtland war. Ich müsse sofort nach Hause nach Altenburg kommen, es gäbe eine sensationelle Neuigkeit. Also fuhr ich gleich zurück. Das war just der 22. August 1968, also am letzten Tag des Prager Frühlings, als die UdSSR in Prag einmarschierte. Zurück in der Schule informierte mich ein Lehrer: „Es könnte sein, du fährst mit ‘ner Jugenddelegation zu den Olympischen Spielen nach Mexiko. Aber wir beide wissen auch, was heute passiert ist. Also, die Chancen sind wohl nicht sehr groß.“ Letztlich hat es dann doch geklappt.

Glück für Sie. Was war das für eine Delegation?

Es gab im Rahmen der Olympischen Spiele in Mexiko zwei wesentliche Rahmenprogramme: Das eine war die Kultur-Olympiade und das zweite war ein internationales Jugendlager, an dem ungefähr 850 Jugendliche aus aller Welt teilnahmen. Die DDR schickte 25 junge Leute.

Die DDR wollte in Mexiko bei den Wettkämpfen richtig groß auftrumpfen. Gerade weil das Land das erste Mal mit einem eigenen Team am Start war.

Ja, das hatte einen riesigen Stellenwert. Bis 1964 war ja immer eine gemeinsame deutsche Mann­schaft angetreten. In Mexiko startete die DDR als East Germany, mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne mit den Olympischen Ringen drin. Beethovens Neunte wurde als Hymne gespielt. Am ersten Tag der Olympischen Spiele in Mexiko hat das IOC dann beschlossen, dass die DDR bei den nächsten Spielen mit eigener Hymne und Fahne antreten kann. Ich denke, das alles war Teil des Kampfes um diplomatische Anerkennung – letztlich auch die entsendete Jugenddelegation.

Mexiko nahm erst 1973 offizielle diplomatische Beziehungen zur DDR auf. Wie wurde das Land denn vorher politisch eingeordnet, als Sie auf Reisen geschickt wurden?

Mexiko war weder Bruderland, noch Verbündeter. Es wurde überwiegend positiv dargestellt, als ein Land, in dem das Pro-Kopf-Einkommen stieg. Und mit Blick auf die Olympischen Spiele wurde die Einweihung jedes mexikanischen Sportplatzes auch in der DDR als Errungenschaft gefeiert. Daran schloss dann immer ein „aber“ an: „Aber es gibt auch Einschränkungen der Meinungsfreiheit, aber es gibt auch viele soziale Probleme“, und so weiter.

Es galt ja die Formel: Mit Staaten aus dem damaligen Ostblock wird sozialistischer Internationalismus gepflegt und mit den Ländern der sog. 3. Welt anti-imperialistische Solidarität. Letztere wurden motiviert, den kapitalistischen Wachstumspfad zu verlassen. Sollten dabei auch die Jugendlichen Überzeugungsarbeit leisten?

Ich bin da kein Experte. Ich glaube, das Interesse der DDR, diplomatische Anerkennung zu erlangen, dominierte alles. Mexiko positiv darzu­stellen, war auch deshalb ein Ziel, um dort für das eigene gute Ansehen zu arbeiten. Wir haben Mexiko damals nicht als Bruderland gesehen und ich glaube, auch eher zurückhaltend, was eine linke Entwicklung im weitesten Sinne betrifft.

Und wie haben Sie dann die Ankunft erlebt?

Unser Flieger kam am 2. oder 3. Oktober an. Von den schweren Auseinandersetzungen haben wir bei der Fahrt vom Flughafen durch die Stadt nach Oaxtepec zunächst mal überhaupt nichts mitbekommen. Der Ort lag so 70 bis 80 Kilometer außerhalb der Stadt. Untergebracht waren wir in einem Ferienkomplex der mexikanischen Sozialversicherung – mit Blick auf den Vulkan Popocatépetl.

Und da war dann die 68er-Jugend aus dem Ost- und Westblock untergebracht. Wie wurde diskutiert in dem Jugendlager?

Wir haben uns radebrechend auf Englisch verständig. Aber an die Details der Gespräche kann ich mich nicht mehr erinnern. Die Vielzahl der Ereignisse war einfach zu gewaltig. Die einzelnen Delegationen organisierten Treffen mit Jugendlichen anderer Länder und wir redeten darüber, was in der Welt passierte, mit Sicherheit auch über Prag. In meiner Erinnerung wurde es zurückhaltend besprochen und ich kann mich nicht an Vorbehalte oder Vorwürfe uns gegenüber erinnern. Mit der Delegation der BRD praktizierten wir, was damals offizielle Politik war: Maximal noch „Guten-Tag“-Sagen. Mehr ist da nicht passiert.

Die DDR war mit ihren 250 Sportler*innen sehr erfolgreich, gewann insgesamt 25 Medaillen. Waren Sie auch mal im Stadion?

Wir waren bei der Eröffnung dabei und dann erneut im Stadion, als Christoph Höhne das 50km-Gehen gewann, mit 10 Minuten Vorsprung. Alle dachten: „Hoffentlich hat er keine Abkürzung genommen.“ Das war wirklich sensationell. Auch in Xoximilco waren wir dabei, wo die DDR zwei Goldmedaillen im Rudern gewann.

Als die schwarzen US-Athleten auf dem Podium die Black-Panther-Faust in die Höhe reckten, waren Sie nicht zufällig in der Nähe?

Nee, aber das kriegten wir natürlich mit und haben das begeistert aufgenommen.

1968 blieb für sie ein wichtiges Ereignis. Wie entwickelte sich denn das vage Wissen, dass da auf dem Platz der Drei Kulturen in Tlatelolco noch etwas anderes passiert war? Kam da irgendwann noch ein Schub an Informationen?

Das kann ich nicht beantworten. Das weiß ich echt nicht mehr. Woran ich mich noch einigermaßen erinnere: Dass wir noch in Mexiko, oder relativ zeitnah danach, erfahren haben, dass es nicht nur um eine Demonstration oder Protestaktion ging, sondern dass da Schlimmeres passiert sein musste. Aber das ist so fast das Einzige…

Goerg Fehst versucht, zu rekonstruieren, was er damals wissen konnte. Er schlägt im Buch „Olympia 1968. Grenoble und Mexiko-Stadt“ und dem offiziellen DDR-Olympiaband nach, die beide 1969 erschienen sind. Dort heißt es einmal: „Nachdem es [das mexikanische Volk, Anm. d. Red.] in den Wochen vor den Olympischen Spielen Tage sozialer Erschütterung […] erlebt hatte, verschob es diesen Kampf, um die Durchführung der Spiele nicht zu gefährden.“ An anderer Stelle werden zumindest „fortschrittliche Studentengruppen“ erwähnt, deren Proteste „Todesopfer gekostet haben“.

1981 reiste Erich Honecker nach Mexiko und versuchte, Kontakte mit einer kleinen sozialistischen Einheitspartei links der etablierten PRI zu etablieren. Da setzte die DDR wohl weiter Hoffnungen auf einen Dialog.
Ja, richtig, aber das war überhaupt kein Vergleich mit den Beziehungen zu Chile Anfang der 1970er. Mexiko war unter „ferner liefen“. Mit eben dieser einen Ausnahme 1968. Zugespitzt formuliert geschah das aus egoistischen Gründen: Die DDR wollte sich zeigen, als politisch zunehmend anerkanntes Land und als sportliche Großmacht – auf dem dritten Platz in der Länderwertung. Das wurde über alles gestellt und deckte alles andere zu.

Ende September dieses Jahres hat die mexikanische Regierung erstmals von einem „Staatsverbrechen“ auf dem Platz der Drei Kulturen 1968 gesprochen. Sollte die Erinnerung an Tlatelolco nicht immer dazugehören, wenn von den Olympischen Spielen in Mexiko-Stadt die Rede ist? Als eine mahnende dunkle Wolke…

Selbstverständlich gehört das dazu. Ich zögere nur bei diesem Bild, weil, wenn ich meine eigenen Erinnerung bemühe, dann schwebt da nichts über den Olympischen Spielen, weil wir einfach nichts mitbekommen haben.

Und heute?

Heute muss man das einbeziehen. Wenn man sich die euphemistischen Formulierungen in dem DDR-Olympia-Band anschaut: na, Hallo! Es ist wichtig, dass Klarheit geschaffen wird, darüber, wie vielen Menschen dort ganz, ganz Schlimmes passiert ist. Das steht außer Zweifel.

 

Das Massaker von Tlatelolco

1968 ist in der kollektiven Erinnerung aus mexikanischer Sicht heutzutage nicht mehr vorrangig das Jahr der Olympischen Spiele, sondern vor allem das des Massakers an friedlich protestierenden Studierenden auf der Plaza de las Tres Culturas im Stadtteil Tlatelolco von Mexiko-Stadt.
Am 2. Oktober, wenige Tage vor der Eröffnung der olympischen Sommerspiele, wurde die Operación Galeana durchgeführt. Diese Operation sollte der endgültigen Zerschlagung der Studierendenbewegung dienen, die immer mehr Rückhalt in der mexikanischen Gesellschaft gewonnen hatte. Im Zuge dieser Aktion massakrierte die mexikanische Armee gemeinsam mit einer paramilitärischen Einheit, dem sogenannten Batallon Olimpia, mit 18 Heckenschützen aus den umliegenden Wohnhäusern und aus einem Hubschrauber heraus Hunderte, die an der friedlichen Demonstration teilnahmen. Die Zahl der Toten konnte nie genau beziffert werden, wird jedoch von Zeug*innen auf 300 bis 400 Personen geschätzt.
Schnell wurde klar, dass Präsident Gustavo Díaz Ordaz, der bereits zuvor für die systematische Unterdrückung der Studierendenbewegung, unter anderem auch für die gewaltsame Besetzung des Campus der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) durch das Militär wenige Tage zuvor, verantwortlich gewesen war, das Blutvergießen höchstpersönlich angeordnet hatte. Dieser Moment gilt als historischer Katalysator, der zahlreiche Widerstandsbewegungen gegen den autoritären Regierungsstil der Partido Revolucionario Institucional (PRI) hervorbrachte, die langfristig nachwirkten – obwohl oder gerade weil das Verbrechen in den meisten Medien zunächst totgeschwiegen wurde und von staatlicher Seite keinerlei Auseinandersetzung stattfand. Die Gründung der Nationalen Menschenrechtskommission im Jahr 1990 gilt beispielsweise als eine Spätfolge der eigentlich gescheiterten Studierendenbewegung und den in der Folge des Massakers entstandenen zivilgesellschaftlichen Initiativen.
Jährlich findet in Gedenken an die Opfer am 2. Oktober eine Demonstration in Mexiko-Stadt statt, zu der tausende Demonstrierende auch aus anderen Bundesstaaten anreisen. Dieses Jahr nahm die Demonstration zum 50. Jahrestag besonderen Bezug auf die gewaltsame Auflösung einer Versammlung auf dem Campus der UNAM am 3. September 2018.

// Elena von Ohlen

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