Erinnerung | Nummer 343 - Januar 2003

Das Unvorstellbare vorstellen

Folter auf der Bühne

Einige lateinamerikanische AutorInnen haben es gewagt: Sie schrieben Theaterstücke zum Thema Folter. Das berühmteste davon ist wohl Der Tod und das Mädchen von Ariel Dorfmann. Während er das Leben „danach“ in den Mittelpunkt stellt, bringen andere die Beziehung zwischen Folterer und Gefoltertem auf die Bühne.

Helga Dressel

Den Fluchtinstinkt kennt jeder: ich will es gar nicht so genau wissen. Ich weiß, es ist unvorstellbar, unmenschlich, unfass-bar. Und doch: die Abwehrhaltung zeigt, dass man sich genug vorstellen kann, um in Schreckensstarre zu verfallen. Ein Weg, dieser Starre zu entkommen, ist, der Öffentlichkeit auf künstlerischem Wege das Unvorstellbare näherzubringen, um eine Auseinandersetzung mit dem Geschehenen zu erreichen.
Die Diktaturen im südlichen Amerika der sechziger bis achtziger Jahre haben die Folter in den Blickpunkt auch des europäischen Diskurses gerückt. Von Argentinien und Chile über Uruguay und Paraguay bis nach Brasilien herrschte im südlichen Teil des Kontinents der „Condor“. Die repressiven Regime arbeiteten Hand in Hand und der Austausch und/oder die Entführung von Gefangenen war institutionell abgesegnete, gegenseitige Amtshilfe. Die „Operation Condor“ hat spätestens seit dem Archiv–Fund in Paraguay ihren Eingang in die Welt der anerkannten historischen Wahrheiten gefunden.
Bezüglich der Foltermethoden nahm Brasilien zunächst die Vorreiterrolle des Exporteurs ein, wenngleich es später insbesondere von Argentinien bezüglich eines flächendeckenden, die gesamte Gesellschaft durchdringenden Terrors bei weitem überholt wurde. Zurück blieben traumatisierte Gesellschaften, in denen sich Op-fer und Täter auf der Straße und im Parlament, wenn nicht gar zu Hause, begegnen. Einige machen sich schneller und deutlicher, andere langsamer und vorsichtiger an die Aufarbeitung der bleiernen Jahre.
In dieser individuellen und kollektiven Trauerarbeit nehmen die Künste eine nicht zu gering zu schätzende Rolle ein. Im Folgenden soll anhand einiger Stücke gezeigt werden, wie die verschiedenen Dimensionen der Folter auf der Bühne ausgelotet wurden.

Kollektive Traumata

Die Folter stellt den Fassungslosen vor viele Fragen.
Die Erste ist sicherlich: was genau verbirgt sich hinter der Folter?
Dann: wie kann jemand etwas Derartiges durchstehen? Und wie kann er danach mit dieser Erfahrung weiterleben?
Aber auch: Wie kann ein Mensch einem anderen so etwas antun? Und wie kann er danach mit seinen Taten weiterleben?
Nach diesen – aus Mitleid oder Abscheu motivierten – psychologischen Fragen richtet sich der Blick aber auch auf Fragen nach der politischen Funktion der Folter: Wem dient die Folter und wer zieht seinen Vorteil aus ihr?
Diese Fragen interessieren den Einzelnen wie die Gemeinschaft, denn die Gesellschaft, in der Folter stattfindet, ist als Ganze daran beteiligt – als Opfer, als Täter, aber auch als scheinbar „unbeteiligte“ Mitbürger – und daher auch als Ganze traumatisiert.
In Deutschland haben wir erfahren, wie Aufarbeitung und Trauerarbeit des Nationalsozialismus zunächst verdrängt wurden, dann aber als Notwendigkeit hervorbrachen und dieser Prozess bis heute anhält. Und wir haben erfahren, dass da nicht etwa ein „Ausnahmezustand“ seine langen Schatten wirft, der abgetrennt von der Gesellschaft betrachtet werden könnte, sondern ein Teil unserer identitätsbildenden Genese darauf dringt, als solcher aufgenommen zu werden.
Für Lateinamerika können wir analog von der Notwendigkeit sprechen, das kollektive Trauma zu verarbeiten. All diesen Fragen sind Theaterleute bereits in den Jahren der Diktatur nachgegangen und haben Zensur und Repression mit metaphorischen und parabelhaften Formen zu überlisten versucht. Dem Verhältnis von Unterdrücker und Unterdrücktem wurde beispielsweise in Familiendramen nachgegangen. Doch insbesondere die Zeiten der politischen Öffnung bereiteten den Boden für eine öffentliche Beschäftigung mit diesem Thema.

Die Opfer

Die lateinamerikanischen Diktaturen setzten die Folter gegen den „inneren Feind“ ein. Dieser innere Feind, die vornehmlich linke, sozial engagierte, gewerkschaftliche, kirchliche, in weiten Teilen jugendliche Bewegung, die sich gegen die wachsende Repression mit wachsender Gewaltbereitschaft zu wehren versuchte, bestand zu einem nicht geringen Teil aus Söhnen und Töchtern aus gutem Hause. So diente die Folter zunächst dem altbekannten Zweck, Informationen über „subversive Pläne“ und den Verbleib der noch nicht verhafteten GenossInnen zu erpressen.
Aus dieser Auffassung resultiert die Konzentration vieler Stücke einerseits auf Überlebensstrategien der Gefangenen und andererseits auf Strategien, der Folter zu begegnen, ohne Genossen Preis zu geben, ohne zu kollaborieren: schweigen, Geschichten erfinden, Wahres aber Irrelevantes mitteilen, Informationen so lange zurückhalten bis sie veraltet sind, sich das eigene Leben nehmen um nicht andere zu gefährden. Heldentum ist in dieser Konzeption möglich. Der Gefangene kann selbst bei Verlust des eigenen Lebens andere retten und die Folterknechte symbolisch besiegen.
In Mario Benedettis Pedro y el Capitán erklärt der Folterer: „da finde ich nur eine einzige Rechtfertigung für das, was ich tue: erreichen, dass der Häftling spricht, ihn so weit bringen, dass er uns die Information gibt, die wir brauchen. […] ich [kann] mich den Kindern gegenüber nur freisprechen durch das Bewusstsein, dass ich wenigstens das uns gestellte Ziel erreicht habe, nämlich Informationen zu bekommen. Auch wenn wir euch vernichten müssen. […] Aber damit hast du mich auch daran erinnert, dass ich dich zum Sprechen bringen muss. Denn nur so fühle ich mich gut vor meiner Frau und den Kindern.“ Mit dieser Erklärung begibt sich der Folterer moralisch in die Hände seines Häftlings, der ihm eben diese Information verweigert. So endet das Stück mit der flehentlichen Bitte des Hauptmanns „um eine halbwegs passable Rechtfertigung meiner Tätigkeit“ (…) „nicht eine Information, um das Regime zu retten, sondern eine Angabe, um mich zu retten, oder […] wenigstens ein kleines Stück von mir“. Pedro aber stirbt, ohne seinem Henker diese Genugtuung zu erweisen.
In diesem Kontext sollte neben Jorge Andrades Milagre na Celaauch Jean Paul Sartres Morts sans Sépulture / Tote ohne Begräbnis erwähnt werden. Sartres Stück ist im Kontext der französischen Resistance angesiedelt und lotet systematisch den Handlungsspielraum der Figuren aus.
Die Tatsache, dass Folter gegen andere Häftlinge schon vorher existierte, fand ihren Ausdruck höchstens in Nebenfiguren. Allerdings merkte Ruy Guerra bereits 1979 anlässlich seiner Inszenierung von Mario Pratas Fábrica de Chocolate in einer Fußnote an, dass das Verb “Foltern” manchmal dazu tendiere, in der Vergangenheitsform konjugiert zu werden. Es sei wichtig, daran zu erinnern, dass es auch in der Gegenwart – nun eher allgemein Häftlinge denn politische im Besondeen betreffend – konjugiert werde.

Der Terror

Nun dient die Folter auch dem Ziel, Terror zu verbreiten. Dazu gehört neben der zielgerichteten auch die willkürliche Misshandlung quer durch alle Teile der Gesellschaft. Insbesondere die argentinische Junta hat von Anfang an darauf gesetzt, massiv Menschen aller Altersgruppen und sozialen Schichten zu verhaften, zu foltern, zu töten, „verschwinden zu lassen“. Und da es sich um eine systematisch von Staats wegen eingesetzte Unterdrückungsmethode handelte, wird deutlich, dass dies mehr die Regel als die Ausnahme war.
Die Willkür nicht auf Information abzielender Folter gibt keinen Spielraum mehr zu heroischem Handeln. Die Willkür führt dazu, dass das Verhalten des Häftlings nicht mehr mit dem Handeln des Folterers dialogiert und ihm auch keine Illusion auf eine solche letzte Freiheit mehr möglich scheint.
Hier soll ein Hinweis auf das Stück des Briten Harold Pinter One For the Road / Noch einen Letzten erlaubt sein. Pinters Stück seziert in einem bewusst offen gehaltenen, modernen Kontext erbarmungslos genau die Macht des terroristischen Willkürstaates über seine Bürger und die Funktion des menschenverachtenden Terrors zum Machterhalt.

Die Folterer

Sehr früh schon beschäftigten sich die Autoren mit den Folterern, der Dynamik unter ihnen und ihrer „Menschlichkeit“. Was bringt einen Menschen dazu, andere zu misshandeln, zum Folterer qua Amt zu werden? Das Bild des pathologischen oder sadistischen Folterers tritt in den Hintergrund und der Folterer wird als der freundliche Nachbar von nebenan aussondiert, als Mensch wie du und ich.
Es wird hervorgehoben, dass Folterer aus dem selben Stoff sind wie andere Menschen auch, dass sie aus der Bevölkerung rekrutiert werden. Folter wird gelehrt und gelernt. Und zur Wahrung des Korpsgeistes wird penibel darauf geachtet, dass auch keiner sich drückt und etwa sauber bleibt („Besudelungstheorie“).
Mit der Dynamik der Folterer untereinander beschäftigen sich neben Eduardo Pavlovskys El Señor Galíndez auch Carlos Verezas Transaminases und Mario Pratas Fábrica de Chocolate. In letzterem wird zudem die beratende Rolle der USA thematisiert. So doziert ein Folterer seinem Kollegen: „Man nennt es die englische Methode, aber es ist natürlich eine Erfindung der Amerikaner. Die Amerikaner sind in diesen Dingen unübertrefflich. Eigentlich in allem. Letztes Jahr haben wir eine Gruppe Anfänger hin geschickt, damit sie die englische Verhörmethode lernen. Irgendwann, wenn wir bei dir zu Hause beim Whisky zusammensitzen, erzähle ich dir, wie die englische Verhörmethode funktioniert. […] Die Amerikaner übertreffen sich immer wieder selbst. Und bald werden wir schon auf einer Stufe mit ihnen stehen. Und der Tag wird kommen, das wir know–how exportieren werden“.

Die Gesellschaft

Zur Vermeidung einer zwangsneurotischen Wiederholung des immer Gleichen bedürfen traumatisiertes Individuum wie traumatisierte Gesellschaft der Trauerarbeit, verstanden als seelischer Vorgang, bei dem gelernt wird, einen Verlust mit Hilfe eines wiederholten, schmerzlichen Erinnerungsprozesses langsam zu ertragen und durchzuarbeiten.
„Und weißt du, worauf ich gekommen bin, was letztlich das einzige ist, was ich wirklich will? – Ich will, dass er gesteht. Ich will, dass er vor diesem Kassettenrecorder sitzt und mir erzählt, was er getan hat – nicht nur, was er mir angetan hat, sondern jedem, alles – und dann soll er es eigenhändig niederschreiben und es unterzeichnen, und ich hätte für immer eine Abschrift – mit allen Informationen, mit Namen und Daten, allen Einzelheiten. Das ist es, was ich will.“ – Soweit das Folteropfer Paulina in Ariel Dorfmans La Muerte y la Donazella / Der Tod und das Mädchen als sie Jahre später ihrem Folterknecht begegnet und ihn nun in ihrer Gewalt hat. Nicht physische Rache will sie, denn sie spürt, dass dies ihr Leid nicht aufwiegen wird, sondern Anerkennung ihres Leidens durch den Täter und durch die Gemeinschaft Im vorliegenden Fall verdichtet in der Figur ihres Ehemannes und gleichzeitigem Mitgliedes der Kommission zur Aufklärung der Verbrechen der Militärdiktatur. Der Tod und das Mädchen feierte gleich nach Erscheinen Anfang der neunziger Jahre weltweit Erfolg. Es verhandelt die Zeit danach. Der Rausch der Gewalt ist vorbei. Die Gesellschaft muss sich zusammenraufen. Opfer und Täter sitzen in einem Boot. Wie aber den Opfern Genugtuung erweisen ohne einen nicht geringen Teil der Mitbürger wegzusperren?
Dieses Problem treibt mit der Auflösung der ehemaligen Ostblockstaaten, dem Ende der Apartheid in Südafrika und jüngst wieder in Ost–Timor Gesellschaften an vielen Ecken und Enden der Welt um. Die Lösungsansätze für den bestmöglichen Umgang variieren, sei es das Stasi – Akten – Gesetz oder aber die südafrikanische Wahrheitsfindungskommission.
In Lateinamerika haben die Staaten verschiedene Wege aus den diktatorialen Regimen gefunden und die Zivilgesellschaft ist von Fall zu Fall recht unterschiedliche Kompromisse bezüglich der Amnestie eingegangen.
Die Frustration der Opfer, nicht zuletzt über diese im Namen einer versöhnlichen Rekonstruktion der Gesellschaft eingegangenen nationalen Kompromisse hat den Ruf nach einem internationalen Gerichtshof verstärkt. Den Opfern Recht widerfahren zu lassen, ohne dabei den konsensualen Einigungsprozess der jeweiligen Gesellschaft zu gefährden, hierum geht es in Ariel Dorfmans Analyse.
Die einzige Frage, die auf der Bühne umgangen wird, ist die erste: was man sich konkret unter Foltermethoden vorzustellen habe. Natürlich wird insbesondere per Botenbericht andeutungsweise auf gewisse Praktiken hingewiesen. Die physische Folter findet in den meisten Stücken im Nebenraum, zwischen den Szenen, im Rückblick statt, oder aber wird per Lichttechnik, Choreographie und Ähnlichem in stilisierter Form angedeutet. Der Kunstgriff der Stückeschreiber besteht darin, das Publikum nicht mit naturalistischer Darstellung zu verschrecken, sondern es in eine gefasste, konzentrierte und offene Haltung zu bringen, die ihm ermöglicht, sich den verschiedenen schmerzlichen Dimensionen des Themas Folter wirklich zu öffnen. Und so wird per Auslassung die Folter zur Hauptperson der Stücke.

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