Bolivien | Nummer 476 - Februar 2014

„Das was ich bin, bin ich dank meiner Arbeit“

Erwerbstätige Kinder wehren sich gegen ein Verbot der Kinderarbeit

Am 18. Dezember 2013 gingen bolivianische Polizisten in La Paz mit Tränengas gegen erwerbstätige Kinder und Jugendliche vor. Die wollten mit Parlamentsabgeordneten über das geplante Kinder- und Jugendgesetz diskutieren. Neben einigen Verbesserungen für Jugendliche, sah der Entwurf ein generelles Verbot der Arbeit für Kinder unter 12 Jahren vor. Das wird von den organisierten arbeitenden Kindern abgelehnt. Der Polizeieinsatz war national und international ein Mediendesaster für die bolivianische Regierung. Die Politik lenkte ein und lud die Organisation erwerbstätiger Kinder für Januar zu Verhandlungen ein.

Peter Strack

“Ich weiß, dass ihr genervt seid, aber ich werde jetzt mit euch über eure Rechte reden.“ Noemí versucht an einem Samstag im November 2013 die Aufmerksamkeit arbeitender Kinder der bolivianischen Bergwerksstadt Potosí zu gewinnen. „Bei mir war es genauso“, erklärt die 19-Jährige. Bis vor kurzem war sie noch Sprecherin der Organisation der erwerbstätigen Kinder und Jugendlichen (NATs) von Potosí. Noemí ist personifiziertes Gegenbeispiel zu der These, dass Erwerbstätigkeit Kinder notwendigerweise von der Schule fernhalte und ihnen deshalb eine bessere Zukunft verwehre. Wie Hunderte Gleichaltrige in Potosí hat Noemí als Kind mit ihrem Einkommen zum Unterhalt ihrer Familie beigetragen und die Kosten für das Schulmaterial und ihre Kleidung finanziert. Heute steht sie in einem biederen Kostüm vor der bunt zusammengewürfelten Gruppe von jungen Schuhputzer_innen, Bergarbeiter_innen, Hausangestellten, Verkäufer_innen. Noemí kommt gerade von einem der Touristenhotels der Kolonialstadt. Dort arbeitet sie neben ihrem Studium als Rezeptionistin. Viele ihrer jugendlichen Altersgenoss_innen haben keine Arbeit, geschweige denn eine Anstellung oder Studienplatz. Noemís Beispiel motiviert die Kinder für ihre Rechte zu kämpfen. Diese malen sie in Gruppen auf Plakate. Das fällt vielen der Anwesenden die neu sind, leichter, als vor allen zu reden. Da steht direkt unter dem Recht auf Freizeit das Recht, unter würdigen Bedingungen arbeiten zu dürfen. Sie wollen von niemandem zum Arbeiten, aber auch nicht in die Schule, gezwungen werden. Sie wissen, dass es in Bolivien Schulpflicht gibt. Weil Schule ihnen wichtig ist, hatte die Organisation zeitweise sogar die Regel, dass nur Mitglied werden könne, wer auch die Schule besucht oder eine Ausbildung macht. Doch die Erfahrung zeigte, dass Zwang weder die Lernmotivation erhöht, noch die Qualität des Unterrichts verbessert, die viele zum Schulabbruch bewegt.
Nach der Präsentation seiner Gruppe steuert Andrés, ein sehr lebendiger 16-Jähriger, noch eine Erfahrung bei: Der Vater seiner Freundin habe ihr den Umgang mit ihm verboten. „Er arbeitet, du brauchst nicht zu arbeiten“, habe er dies begründet. „Niemand hat das Recht uns zu diskriminieren, nur weil wir Geld verdienen“, bringt Andrés heraus, bevor ihm Tränen kommen. Erst müssen die Kinder ihr Leben selbst meistern und dann wird ihre Leistung nicht einmal anerkannt. Die meisten erwerbstätigen Kinder würden nur für Markenkleidung und anderen Luxus arbeiten, hieß es aus dem Arbeitsministerium. Nur ein geringer Anteil benötige das Einkommen wirklich. Für die werde es Sozialprogramme geben.
Doch die kleinen Arbeiter_innen verweigern sich dem Klischee der Hungerleidenden, die Objekte fremder Hilfe sind. Ebenso dem Idealbild einer behüteten Kindheit zwischen Schule, Spielplatz und Zuhause. „Das was ich heute bin, bin ich dank meiner Arbeit“, richtet Noemí schließlich ihren Appell an die nachfolgende Generation. „Jetzt muss gehandelt werden“. Rubén und Lourdes werden zu den neuen Sprecher_innen gewählt. Die beiden stehen am 18. Dezember 2013 zusammen mit anderen Delegierten der Union der erwerbstätigen Kinder und Jugendlichen in Bolivien (UNATSBO) vor der Absperrung in La Paz. Sie wollen mit den Parlamentsabgeordneten reden, die an diesem Tag über das neue Kinder- und Jugendgesetz abstimmen sollen. Stein des Anstoßes ist der geplante Paragraph 126: Ein pauschales Verbot der Erwerbstätigkeit von Kindern unter 12 Jahren. Das widerspricht Artikel 61 der bolivianischen Verfassung. Bei deren Verabschiedung hatte die UNATSBO erreicht, dass bildende und sozial nützliche Arbeit im familiären und gemeinschaftlichen Kontext anerkannt wird. Nur die Ausbeutung ist verboten.
An diesem 18. Dezember kommt es bei dem Versuch, in die Bannmeile zu kommen, zu Rangeleien. Die Polizei setzt Tränengas ein, verhaftet drei Jugendliche kurzfristig. Zwei Mädchen müssen im Krankenhaus behandelt werden. Die Bilder erreichen nationale und internationale Medien. Am Tag nach den Auseinandersetzungen, nach vielen Interviews auf dem Murillo Platz vor dem Parlament, nimmt Lourdes vor diesem die Einladung der Senatspräsidentin Gabriela Montaño zu den geforderten Verhandlungen entgegen.
„Wir hoffen, dass wir wirklich Ernst genommen werden. Jedes Gesetz sollte unter Beteiligung der Betroffenen formuliert werden: Nur so findet man Antworten auf die realen Probleme der Bevölkerung, in diesem Fall der erwerbstätigen Kinder und Jugendlichen“, so Lourdes. Immerhin handelt es sich um schätzungsweise 850.000 Kinder und Jugendliche, ein gutes Viertel der fünf bis 17-Jährigen in Bolivien. Schon kurz nach der Verabschiedung der Verfassung hatte die UNATSBO einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt, der den Schutz der Rechte arbeitender Kinder in den Mittelpunkt stellt. Den Entwurf hatten sie an alle Abgeordneten und zuständigen Ministerien verteilt. Die Ortsgruppe von Tarija hatte das Büchlein höchstpersönlich dem Präsidenten Evo Morales übergeben. Der hatte ihnen wenig später in seiner Ansprache zum Tag des Kindes seine Unterstützung zugesagt.
Doch vielen Abgeordneten und Ministerialangestellten ist die Welt der arbeitenden Kinder fremd. „Sie glauben, sie leben in der Schweiz“, stichelte die ehemalige Parlamentspräsidentin Rebecca Delgado. Sie hatte mit der UNATSBO über ihren Gesetzentwurf diskutiert und die Kinder bei seiner Verbreitung unterstützt. Dahinter steht die Frage, ob die Erwerbstätigkeit der Kinder Ursache von Armut ist, oder ob die Armut und die prekären Arbeitsverhältnisse von Kindern wie Erwachsenen Ursache dafür sind, dass Kinder Geld verdienen müssen.
Bolivien steht unter internationalem Druck. Vor allem das Arbeitsministerium, das seine Programme auch aus Mitteln der ILO finanziert. Die Internationale Arbeitsorganisation kümmert sich weltweit um die Durchsetzung von Rechtsstandards wie der ILO Konvention 138, die Bolivien vor 16 Jahren ratifiziert hat.
Bei aller Empörung über die – zudem unnötige – Polizeigewalt, muss anerkannt werden, dass die arbeitenden Kinder vom für das Kinder- und Jugendgesetz verantwortlichen Justizministerium in öffentlichen Veranstaltungen zuvor angehört worden waren. Im Fall von Potosi zwar erst auf expliziten Wunsch der Kinder und im allerletzten Moment, als der Entwurf bereits dem Parlament vorlag. Doch damit dürfte Bolivien den meisten Staaten weit voraus sein, was die Umsetzung der Beteiligungsrechte der UN-Kinderrechtskonvention betrifft. Einige Paragraphen im Gesetzentwurf versuchten auch, den Spagat zwischen internationaler Rechtslage und nationalen Realitäten zu überbrücken. So verpflichtet der Artikel 14 nicht zu den andernorts üblichen Programmen zur Ausrottung der Kinderarbeit, sondern zur Abschaffung der Ursachen von Kinderarbeit. Und Artikel 124 und 125 erkennen Tätigkeiten im familiären und gemeinschaftlichen Kontext an. Dabei wird jedoch der Begriff Arbeit vermieden. Für die UNATSBO dient freiwillige Arbeit aber nicht nur zur Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse, sondern auch der persönlichen Entwicklung und Selbstverwirklichung in der Gesellschaft. Sie unterscheiden das von Zwangsarbeit und Ausbeutung. Davor müssten alle, vor allem aber die jüngeren Kinder geschützt werden. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Krankenversicherung, das Recht, Zeiten für den Schulbesuch frei zu bekommen – das alles war im Gesetzentwurf nur für die Jugendlichen vorgesehen. Und bei der Liste der Tätigkeiten, die für Kinder wie Jugendliche generell verboten sind, finden sich solche, die in vielen indigenen Gemeinden selbstverständlich auch von den Kleinen im familiären Rahmen erledigt werden: Das Hüten von Vieh, oder das Fischen in Flüssen. Dabei sehen sie keine besonderen Gefahren, die ein Verbot rechtfertigen würden.
Welche paradoxen Folgen ein Verbot bewirken kann, haben die Jugendlichen in den Bergwerken von Potosí erlebt. Weil Polizist_innen vor die Stollen postiert wurden, gingen sie im Morgengrauen in den Berg und kamen erst nach Dunkelanbruch wieder heraus. Und wer einer „verbotenen“ Tätigkeit nachgeht, kann schwerlich bei der Arbeitsbehörde Unterstützung einfordern, wenn ihr_ihm der vereinbarte Lohn verweigert wird oder die Arbeitszeiten einen Schulbesuch unmöglich machen. Hinzu kommt, dass die Lösungsvorschläge der Erwachsenen, Stipendienprogramme, nicht neu sind. Die meisten sind inzwischen ausgelaufen, ohne dass sich an der Situation der Kinder etwas geändert hat. Entsprechend skeptisch ist die UNATSBO gegenüber den Ankündigungen, die Arbeit der Kinder mit ähnlichen Maßnahmen überflüssig zu machen.
Am 7. Januar fuhren Lourdes und Rubén aus Potosí wieder nach La Paz, um zu insgesamt sieben Artikeln ihre Änderungswünsche einzubringen. Dass alle ihre Wünsche umgesetzt würden, konnten sie nicht erwarten. Aber auch nicht, dass die Unterstützung, die ihnen Präsident Evo Morales nach dem Konflikt mit der Polizei zugesagt hatte, so wenig Wirkung haben würde. Mit dem Senat einigte man sich darauf, dass Zwangsarbeit, Ausbeutung und gesundheitsschädliche Tätigkeiten ausgeschlossen werden müssen. Das Mindestalter solle in Einklang mit der Verfassung stehen. Die Frage, ob das Mindestalter nur für Beschäftigungsverhältnisse aber nicht für unabhängige Erwerbstätigkeit gelten solle und ob das Mindestalter gesenkt werden oder ganz wegfallen könne, wurde an eine Arbeitsgruppe verwiesen. Ebenso die Überarbeitung der Liste verbotener Tätigkeiten.
Um so größer war der Zorn der UNATSBO, als die Regierungszeitung Cambio am nächsten Tag einen Artikel veröffentlichte, in dem René Zavaleta, Vorsitzender der Kinderkommission des Unterhauses, ankündigte, dass die Kinderarbeit in den nächsten fünf Jahren mit individuellen Hilfsangeboten abgeschafft werde. Viele Arbeiten, die Kinder erledigen müssen, mögen nämlich körperliche Schmerzen verursachen. Eine solche Missachtung getroffener Vereinbarungen jedoch schmerzt in der Seele. „Wir wollen keine Almosen, sondern würdige Lebens- und Arbeitsbedingungen“, entgegnete Lourdes, wie die Mehrheit der arbeitenden Kinder in Protestschreiben. Dafür setzen sie sich in den noch andauernden Verhandlungen ein.

Hintergründe // http://www.michaela-schonhoeft.de/2013/09/11/interview-mit-peter-strack-von-terre-des-hommes-über-arbeitende-kinder-in-bolivien/

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