Literatur | Nummer 567 – September 2021 | Sachbuch

DEKOLONIALER FEMINISMUS

Mit Rita Segatos Wider die Grausamkeit liegt erstmals eine deutsche Übersetzung einer der bedeutendsten feministischen Stimmen Lateinamerikas vor

Von Theresa Thuß

Anthropologie und Aktivismus Rita Laura Segatos Analyse deckt die vielschichtigen Dimensionen geschlechtsspezifischer Gewalt auf (Foto: Universidade de Brasilia CC BY 2.0)

Die leidvolle Realität geschlechterspezifischer Gewalt an Frauen und Queers und die dagegen gerichteten Kämpfe lateinamerikanischer Feminismen sorgen auch im hiesigen Kontext für immer größere Aufmerksamkeit. Ende 2019 ging etwa das Video der Performance des chilenischen Kollektivs LasTesis „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) viral und wurde weltweit nachgeahmt (Interview in den LN 547). LasTesis klagen an: „Der repressive Macho-Staat vergewaltigt uns mit jeder Tat!“ Dabei beziehen sie sich explizit auf die Theorien der argentinischen Anthropologin Rita Laura Segato (LN 553/554, Interview in den LN 525). Die Übersetzung ihres ursprünglich 2018 erschienenen Buches Wider die Grausamkeit zeigt nun erstmals einer deutschsprachigen Leser*innenschaft eine akademische Perspektive auf das Thema auf. Segato verwebt die Kerngebiete ihres Schaffens – den Feminismus und die Dekolonialität – miteinander. Darüber hinaus stellt sie ihr Werk der Dominanz des eurozentristischen Systems der Wissensproduktion entgegen.

Die Analyse folgt ihrem Werdegang als Anthropologin, sowie ihrem aktivistischen Kampf für Rechtsgrundlagen in verschiedenen lateinamerikanischen Kontexten, so etwa ihre Schlüsselrolle bei der Durchsetzung der Quote für Schwarze und Indigene Studierende an den brasilianischen Universitäten Anfang der 2000er Jahre. Das Buch greift auch die zentralen Gedanken ihrer wichtigsten Publikationen auf.
Eine der ersten Stationen ist dabei ihre Auseinandersetzung mit der zunehmenden geschlechterspezifischen Gewalt im öffentlichen Raum in Brasília Anfang der 1990er Jahre. Ethnographische Gespräche mit verurteilten Vergewaltigern im Gefängnis bringen sie zur Annahme, dass Vergewaltigungen für die Täter keine „instrumentelle” Funktion erfüllen, also nicht der Befriedigung ihres sexuellen Triebes dienen: Mit dem Akt der Vergewaltigung kommuniziert der Angreifer auf einer Ebene komplizenhaft mit anderen Männern, um das „Mandat der Männlichkeit” zu erfüllen, das vom Mann das Eintreiben eines „Tributs” von der „weiblichen Position” fordert.

Bei einem Forschungsaufenthalt im mexikanischen Ciudad Juárez im Jahr 2004 sucht Segato nach Antworten auf das massenhafte Verschwindenlassen, Vergewaltigen und Ermorden von meist jungen Fabrikarbeiterinnen in der Zeit nach der Verabschiedung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens. Segato stellt die politische These auf, dass para-staatliche Akteure der organisierten Kriminalität ihre „Fähigkeit zur Grausamkeit“ in den entstellten und willkürlich entsorgten Körpern der ermordeten Frauen mit der stillen Billigung des Staates „einschreiben” und somit ihre Macht über ein „Körper-Territorium“ demonstrieren. Diese Feminizide, die Segato in ihrem Ausmaß auch als „Femigenozid“ einstuft, sind kein bloßes Mittel, sondern der Höhepunkt einer kriegerischen Strategie.

Zentral ist auch Segatos Verständnis der Kategorie Geschlecht als in seiner strukturellen Entstehung parallel zu „Raza“ (race). Im Kern werden biologische Unterschiede festgeschrieben, um Ungleichheit zu zementieren. Sie folgt dabei der Theorie der „Kolonialität der Macht“ des peruanischen Soziologen Aníbal Quijano, der die historische Entstehung des Systems Rassismus zu Beginn der Conquista verortet. Anders als Raza sei Geschlecht laut Segato aber so alt wie die Menschheit selbst. Sie geht davon aus, dass selbst vor der Kolonisierung und bis heute, in autochthonen Gesellschaften ein „Patriarchat niedriger Intensität“ besteht. Hier beobachtet sie einen schleichenden Prozess der Verdrängung eines „pluralistischen Dualismus“ der Geschlechter, in dem die Existenz von trans und nicht-binären Identitäten selbstverständlich ist, durch einen eurozentristischen „modernen Binarismus“, der die Frau immer als „das Andere des Mannes“ konstruiert.

In Anlehnung an Quijano bevorzugt Segato den dekolonialen in Abgrenzung zum postkolonialen Begriff, um das Fortwirken von kolonialen Beziehungen zwischen Lateinamerika und dem globalen Norden zu betonen. Hier merkt sie auch an, dass viele „afroindigene“ Pueblos sich dieser Dynamik bewusst entziehen und sich ihre Zukunft durch ein eigenes „historisches Projekt“ erhalten. Aufgrund ihrer „Scharnierposition zwischen zwei Welten“ sind Männer dieser Gesellschaften jedoch korrumpierbarer hinsichtlich des eurozentristischen „Projekts der Dinge“, einschließlich weißer Männlichkeit. Daher tragen hier Frauen die Verantwortung und Chance eines lebensbejahenden „historischen Projekts der Bindungen“, wozu auch der Kampf gegen die Entpolitisierung des häuslich-familiären Kontextes mit der damit einhergehenden Angreifbarkeit ihrer Körper gehört.

Segato hat in Wider die Grausamkeit eine Kompilation von Vorlesungen mit anschließenden Gesprächsrunden zusammengestellt – unkonventionell und nahbar. Sandra Schmidt liefert eine gelungene Übersetzung und Aufbereitung für die deutschsprachige Leser*innenschaft, mitsamt hilfreichen editorischen Einordnungen emischer Begriffe. Segatos Stil – eine Mischung aus „mäandernder“ Analyse und sprachlicher Direktheit – bleibt in der Übersetzung ebenfalls erhalten. Es entsteht das Gefühl, mit ihr im Hörsaal zu sitzen.

Leider beantwortet Segato die intersektionale Frage danach, warum und wie rassifizierte, prekarisierte und dadurch mehrfach marginalisierte Frauen und Queers besonders von geschlechterspezifischer Gewalt betroffen sind, nur unzureichend. So findet etwa der alarmierende Anstieg von Transfeminiziden in Lateinamerika nicht ausreichend Beachtung.

Die Erwartungshaltung bezüglich eines neuen feministischen Gesellschaftsentwurfes von Segato sollten die Leser*innen zurückschrauben. Denn Lösungsansätze reißt sie nur als Gegenüberstellung zur „Pädagogik der Grausamkeit“ an. Eigentlich lässt ihre Profession als Anthropologin, deren Methode das Forschen mit den Menschen darstellt, aber gerade die Beleuchtung handfester Strategien erhoffen, die die Erfahrungen von widerständigen Gemeinschaften und Aktivist*innen ausmachen. Doch Segato erwähnt nur flüchtig die Gesprächspartner*innen ihrer Feldforschungen und konzentriert sich mehr auf analytische Schärfe und klare Thesen. Sie sieht ihre Verantwortung als Wissenschaftlerin vielmehr darin, so viele Fäden wie möglich zu einer „wirkmächtigen Rhetorik“ zusammenzuweben, nutzbar für das historische Projekt der Bindungen.

So ist Rita Laura Segatos Werk zu einem theoretischen Fundament für Aktivist*innen der Vierten Feministischen Welle in Lateinamerika geworden. Ihr „Vokabular“ vermag es auch hierzulande, ungehorsame Gedanken und Aktionen sowie die weitere transnationale Verbindung feministischer Kämpfe anzustiften.

Rita Laura Segato // Wider die Grausamkeit. Für einen feministischen und dekolonialen Weg // übersetzt von Sandra Schmidt // Mandelbaum // 2021 // 204 Seiten // 17 Euro


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