„Dem Wahlergebnis fehlt Glaubwürdigkeit”
Interview mit der venezolanischen Menschenrechtsaktivistin Ana Graciela Barrios
Wie beurteilen Sie die vom Nationalen Wahlrat verkündeten Wahlergebnisse?
Wir sind der Meinung, dass völlige Intransparenz und ein Mangel an Glaubwürdigkeit in den offiziellen Ergebnissen des CNE vorherrschen. Der Versuch von Präsident Maduro, beim Wahlausschuss des Obersten Gerichtshofs (TSJ) einen Antrag zu stellen, um angeblich die Ergebnisse zu prüfen, hat dieses Ziel nicht erreicht. Im Gegenteil, es hat nur noch mehr Unklarheit über den gesamten Prozess geschaffen.
Warum bezweifeln Sie die Glaubwürdigkeit der vom CNE verkündeten Ergebnisse und das Urteil des TSJ?
Zunächst einmal ist es nicht die Aufgabe des Obersten Gerichtshofs, die Wahlergebnisse offiziell bekannt zu geben, sondern die des CNE selbst. Der Oberste Gerichtshof hat lediglich ein Bulletin des CNE unterstützt, dessen Zahlen jedoch nicht durch konkrete Belege oder die Ergebnisse, die die Menschen an den Wahlurnen sahen, gestützt werden. Zudem wurden nicht alle Prüfungssysteme des venezolanischen Wahlsystems angewandt – ein System, das allgemein für seine Zuverlässigkeit und die verschiedenen digitalen Kontrollen und Prüfungen anerkannt ist. Diese elektronischen Systeme wurden vom TSJ nicht genutzt, um die Ergebnisse zu bestätigen.
Wir glauben nicht, dass dieses juristisch-politische Manöver mehr Transparenz über den Prozess gebracht oder die großen Zweifel, die heute über die Wahlergebnisse bestehen, ausgeräumt hat. Der CNE blieb praktisch verschlossen, er schloss seine Türen nach dem ersten Bulletin in den frühen Morgenstunden, ohne dass alle Auszählungsprotokolle vollständig zusammengestellt worden waren.
Es gibt auch andere empirische Beweise: Menschen aus den ärmeren Schichten, die lange Zeit die Hochburgen der chavistischen Wählerschaft waren, geben offen zu, dass es eine massive Abstimmung gegen die Regierung von Maduro gab. Die Menschen wissen, was an den Wahlurnen passiert ist und haben ihre Unzufriedenheit mit den verkündeten Ergebnissen durch eine Reihe von Protesten und anderen Formen zum Ausdruck gebracht.
Wie verliefen die Proteste nach den Wahlen?
Die Proteste, die nach den Wahlen stattfanden, hatten zwei wesentliche Merkmale. Erstens waren es Massenproteste mit einer bedeutenden Mobilisierung jener Bevölkerungsgruppen, die traditionell die Hochburgen des Chavismus waren. Zweitens waren sie friedlich. Wir leugnen nicht, dass es bei einigen von ihnen zu Gewalt kam, aber die Mehrheit der Proteste war friedlich. Empörte Menschen, die wussten, was in vielen dieser Wahllokale abgelaufen war, wo der Unterschied zugunsten der Opposition überwältigend war, und die spürten, dass die offiziellen Ankündigungen des CNE diesen Willen missachteten, gingen auf die Straßen und demonstrierten auf friedliche Weise.
Die Venezolanische Beobachtungsstelle für soziale Konflikte berichtet, dass es in den ersten zwei Tagen, dem 29. und 30. Juli, 915 Proteste gab, von denen nur 138 gewalttätig waren. Das heißt, über 80 Prozent der Proteste waren friedlicher Natur.
Wie reagierte die Regierung auf die Proteste?
Die Reaktion der Regierung bestand darin, alle Proteste zu kriminalisieren und das Recht auf freie und friedliche Demonstrationen zu negieren. Sie nutzen die Repressionsmittel des Staates, um die Proteste zu unterdrücken. Die vom Präsidenten selbst anerkannten Zahlen sprechen von über 2.000 Festnahmen innerhalb einer Woche. In den Reden der Regierung hieß es, dass alle Demonstranten bezahlte, unter Drogen stehende Personen seien, die von der Opposition instrumentalisiert würden.
Hier bestätigt sich eine langjährige Praxis des Justizsystems, die wir immer wieder anprangern, da wir Fälle von jungen Menschen aus armen Vierteln begleiten, die ohne gerichtlichen Beschluss verhaftet, isoliert und von Rechtsanwälten und ihren Familienangehörigen ferngehalten werden. Ihnen werden schwere Straftaten wie Terrorismus, kriminelle Verschwörung, Hochverrat oder Anstiftung zum Hass vorgeworfen. Insbesondere die Gesetze zur Anstiftung zum Hass und zum Terrorismus sind relativ neue Gesetze, die hohe Strafen zwischen 10 und 30 Jahren vorsehen.
Wer findet sich auf der Anklagebank wieder?
Viele der Fälle, die derzeit angeklagt werden, betreffen Menschen mit Behinderungen, Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren, die des Terrorismus beschuldigt werden, obwohl sie lediglich protestiert haben und vielleicht sogar einen Stein geworfen haben, aber nicht Teil einer terroristischen Struktur sind. Dennoch werden sie nach diesen Gesetzen angeklagt.
Es stimmt auch, dass es gezielte Festnahmen von Oppositionsführern gab, die derzeit inhaftiert sind. Diese gezielteren Verhaftungen wurden auch in den Bezirken durchgeführt, in denen der Unmut über die verkündeten Ergebnisse des CNE besonders groß war.
Es gibt auch Berichte von Menschen, die auf der Straße von Polizeibeamten festgenommen wurden, die offen ihre Telefone überprüften und sie auf Grundlage dessen, was sie auf WhatsApp fanden, festnahmen. Dies ging einher mit einer Reihe von Entlassungen im öffentlichen Dienst, bei denen Menschen entlassen wurden, weil sie protestiert oder nicht gewählt hatten. Ebenso wurden mehrere wichtige Journalistinnen und Journalisten festgenommen.
Wie beeinflusst diese Reaktion der Regierung das tägliche Leben im Land?
Die Menschen leben in Angst. Neben der Repression durch die staatlichen Sicherheitskräfte, woran sowohl die Polizei als auch die Nationalgarde beteiligt sind, gibt es auch bewaffnete Zivile, die sowohl einschüchtern als auch häufig Menschen festnehmen, die an Protesten beteiligt sind. Das sorgt dafür, dass die Menschen sehr eingeschüchtert sind und die Proteste auf der Straße nach zwei oder drei Tagen nach den Wahlen aufgehört haben.
Gibt es derzeit noch Festnahmen?
Ja, die Festnahmen, die derzeit stattfinden, sind eher gezielte Festnahmen. Sie sind nicht mehr so massiv wie in der ersten Woche, in der sie im Kontext von Protesten stattfanden, sondern es handelt sich um gezielte Festnahmen, die auch in den Wohnungen der Betroffenen durchgeführt werden.
Nichtregierungsorganisationen sprechen von über 20 Toten als Folge der Proteste nach den Wahlen. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
Wir führen eine Aufzeichnung der Todesfälle und zählen bis heute [26. August] 26 Todesfälle bei Protesten. Bei den meisten gibt es keinen identifizierten Täter. Mindestens 38 Prozent dieser Todesfälle gehen jedoch auf das Konto von staatlichen Organen oder bewaffneten Zivilen, die im Namen des Staates gehandelt haben. Dies ist eine sehr ungefähre Zahl, da wir davon ausgehen können, dass viele der nicht identifizierten Todesfälle auf staatliche Akteure zurückzuführen sind.
Die Aussagen des Generalstaatsanwalts, der alle Todesfälle während der Proteste der Opposition zuschreibt, sind also nicht wahr. In diesem Moment wäre es erforderlich, dass all diese Todesfälle gründlich und unabhängig untersucht werden, um die Verantwortlichen zu ermitteln und entsprechende Sanktionen zu verhängen.
Man muss auch sagen, dass es unter den Oppositionsgruppen, wie es in solchen Fällen immer vorkommt, sehr gewalttätige Aktionen gegeben hat. Es wurden zwei Frauen, Gemeindeführerinnen der Strukturen der PSUV (der Partei von Präsident Maduro), ermordet. Es gab auch andere Gewaltakte, wie zum Beispiel den versuchten Lynchmord in einem kommunalen Radiosender. Diese Vorfälle zeigen, dass es Gewalt gegeben hat, die jedoch nicht die Mehrheit der Proteste ausmacht. Es sind Fälle, die aufgetreten sind, angeprangert und untersucht werden müssen, die aber nicht das allgemeine Bild der Proteste prägen.
Es sind noch vier Monate bis zum 10. Januar, dem Beginn der neuen Amtszeit des Präsidenten. Was erwarten Sie bis dahin?
Die Missachtung des Volkswillens ist schwerwiegend und lässt sich nicht so einfach beenden. Es werden schwierige Monate sein, in denen die Herausforderungen des Alltags für die Menschen weiterhin bestehen bleiben. Es gibt keine Aussicht auf eine Verbesserung der Löhne, der öffentlichen Dienstleistungen, der Gesundheitsversorgung oder der Bildung. Die Ergebnisse lassen nicht darauf schließen, dass sich die Lebensbedingungen der Menschen verbessern werden.
Ana Graciela Barrios
arbeitet seit 30 Jahren im Bereich Menschenrechte und demokratische Prozesse als Wissenschaftlerin und Aktivistin. Seit 2015 ist sie Mitglied von Surgentes. Surgentes ist ein linkes, antikapitalistisches und antiimperialistisches Menschenrechtskollektiv. Vor der Wahl in diesem Jahr nahmen sie an „La Otra Campaña” (Die Andere Kampagne) teil, einer Kampagne, die betonte, dass die venezolanische Bevölkerung bei dieser Wahl keine*n Kandidaten*in hatte, der ihre Interessen vertritt.