Kunst | Nummer 382 - April 2006

Den Alltag in Kunst verwandeln

Ein kubanischer Künstler in Mexiko-Stadt

Ariel Orozco hinterfragt mit seiner Aktionskunst die Selbstverständlichkeit des Alltäglichen und verwischt bewusst die Grenzen zwischen den sozialen Klassen.

Madlen Schering

Was unterscheidet Kunst von Nichtkunst? Nach welchen Kriterien können wir entscheiden, ob wir einem Objekt Kunstcharakter zu- oder absprechen dürfen? Wo hört der Alltag auf und beginnt die Kunst? Und wie lässt sich der Alltag selbst in Kunst verwandeln? Diese Fragestellungen reflektiert der Aktionskünstler Ariel Orozco, geboren 1979 in Sancti Spíritus in Kuba, wenn er beispielsweise einen weißen Straßenköter in einen Fußball verwandelt, indem er ihn mit schwarzen Rhomben bemalt. – Ein Kunstobjekt? mag man sich fragen, wenn man eine Fotografie des Hundes später in der Galerie betrachtet. Doch der Zweck ist nicht das Objekt an sich – es geht dem Künstler weder wie Duchamp mit seiner Kloschüssel um eine Entheiligung des Kunstwerkes noch um die Ästhetisierung des Alltags, sondern um die Idee, die sich im Objekt materialisiert.
„Jedes Element, sei es banal oder transzendental, ist Teil des kollektiven Bewusstseins und kann als Bedeutungsträger fungieren”, erklärt Orozco. In diesem Sinne ist Perro Balón („Hund-Ball”) ein Kommentar zur Grausamkeit gegenüber den Straßenhunden, die wie ein Fußball herumgekickt werden. Oder, auf eine gesellschaftliche Ebene übertragen, eine Solidarisierung mit den Marginalisierten der Gesellschaft, eine Reflektion über die Härte des Überlebens auf der Straße.

Konfrontation mit dem Alltäglichen

Orozcos Aktionen sind Interventionen in den städtischen Alltag, in denen sich die PassantInnen in die ProtagonistInnen eines Kunstwerks verwandeln. Von subjektiven Erlebnissen ausgehend, sucht Orozco alltägliche Situationen in einen sozialen und politischen Kontext zu stellen.
„Der städtische Raum ist für mich ein großes Laboratorium voller Problematiken jeder Kategorie. Es geht mir darum, alltägliche Situationen aufzufinden und in sie einzugreifen, um sie mit neuer Bedeutung aufzuladen. Ich gebe nicht vor, die Verhältnisse verändern zu wollen, wohl aber die Wahrnehmung der BetrachterInnen und ihr Bewusstsein in Bezug auf bestimmte Situationen. Mein Ziel ist es, eine Reflektion, eine Auseinandersetzung mit der Problematik in den Köpfen der Menschen anzuregen.“
Yo paso por la cuidad y la cuidad pasa por mí („Ich gehe durch die Stadt und die Stadt durch mich“) ist der Titel einer Aktion auf den Straßen von Mexiko-City, in der der Künstler, in einen Marken-Anzug gekleidet, einen weniger gut gekleideten Passanten anspricht und ihn einlädt, mit ihm die Kleidung zu tauschen. Es finden eine Reihe von Kleidungswechseln statt, wobei die Kleidung immer einfacher wird, bis der Künstler am Ende der Aktion in den Lumpen eines Obdachlosen durch die Straßen geht.
In diesem Akt verringert Orozco Schritt für Schritt seinen sozialen Status und konterkariert somit das Verhalten der Gesellschaft, die stets bestrebt ist, ihren Status zu überhöhen. Mit dem Kleidungswechsel kritisiert Orozco das oft oberflächliche und vorschnelle Urteil der Gesellschaft, die die Individuen nach reinen Äußerlichkeiten in soziale Klassen einteilt und in der die Kleidung entscheidet, ob man respektiert oder geschmäht wird.
Das Umherschweifen im (sub)urbanen Raum und die genaue Beobachtung des sozialen Verhaltens seiner BewohnerInnen bringt Orozco in inaltliche Nähe zu den Situationisten, die vor einem halben Jahrhundert ein Kunstkonzept proklamierten, in dem das Leben selbst zum Kunstwerk werden sollte. Sie konstruierten Situationen, nahmen psycho-geographische Untersuchungen des städtischen Raums vor und trieben Verhaltensexperimente voran, mit dem Ziel, die Kunst in der alltäglichen Lebenswelt zu verankern.
Die Installation Aires de la Ciudad („Stadtluft“) füllt den Galerieraum mit bunten Luftballons. Begleitend dazu ist eine Serie von Fotografien ausgestellt, auf denen die Personen, die die Luftballons aufgeblasen haben, porträtiert sind, ausschließlich Menschen, die auf der Straße Mexiko-Citys ihr Überleben suchen. Die Luftballons enthalten den Atem der Ärmsten der Armen, der Marginalisierten der mexikanischen Gesellschaft und transportieren ihn in die Exklusivität des Galerieraums. Diese Installation vergeht in dem Maße, in dem die Luft aus den Ballons weicht und in die Stadt zurückkehrt. Der in den Ballons gespeicherte Atem entweicht in den Galerieraum, wo er sich mit dem des Kunstpublikums vermischt. Für Orozco stellt das eine gewollte Provokation dar, auf diese Weise die feine Gesellschaft mit den Menschen zu konfrontieren, die sie im Alltag diskriminiert und sie zu zwingen, deren Atem einzuatmen.
Ariel Orozco erschien auf der Bildfläche der internationalen Kunstszene, nachdem der mexikanische Galerist Gonzalo Mendez bei einem Kuba-Besuch die Arbeit Orozcos kennenlernte und diesen einlud, in Mexiko eine Ausstellung in der Galerie Myto zu realisieren. Seit einem halben Jahr lebt Orozco nun in Mexiko-City und erkundet den urbanen Raum auf der Suche nach Situationen, die den sozialen, ökonomischen und politischen Kontext dieser Megametropole symbolisieren.
„In meinem Werk versuche ich, soziale Fragen auf einem Niveau der Vereinfachung auszutragen, so dass sie leicht verständlich werden. Indem ich die Probleme zu synthetisieren und in eine minimalistische Form zu bringen versuche, ist es mein Ziel, das Große im Kleinen zum Ausdruck zu bringen. Mich interessiert, etablierte Strukturen aufzubrechen – nicht nur die menschlichen Verhaltensweisen im Alltag, sondern die Kunst selbst – und die Medien und Räume zu vermischen, die die KünstlerInnen benutzen, um ihre Produktion zu erhöhen oder zu banalisieren.“

Das Umfeld als Thema

Orozcos Werk impliziert – wie auch schon bei den Situationisten – eine Thematisierung der Ausstellungsbedingungen selbst. Seine erste Ausstellung Ejercicio de peso („Schwere Leere“) präsentierte der Absolvent der Kunsthochschule von Havanna dementsprechend nicht in einem Museum oder einer Galerie, sondern im Krankenhaus von Havanna in der psychatrischen Abteilung, bewusst auf die Diskrepanz zwischen den beiden anwesenden Gruppen des Publikums bauend: das Kunstpublikum, das gekommen war einer Ausstellung beizuwohnen und das der psychisch Kranken, die in dieser Anstalt interniert waren. Orozcos Anliegen bestand darin, einen Kontaktpunkt zwischen den beiden sonst getrennten Sphären zu schaffen und das Publikum einer ungewohnten Erfahrung auszusetzen, in der sich die Grenzen zwischen Kunst und Alltag verwischen und eine Reflektion über die Definition von Kunst und Nicht-Kunst stattfindet.
Das ausgestellte Kunstwerk – die fotografische Dokumentation einer Aktion oder die aufgeblasenen Luftballons – funktioniert für Orozco nicht als ästhetisches Kunstobjekt im White Cube. Das bedeutet, dass das Objekt erst durch seine Ausstellung im „weißen Raum“ zu einem Kunstwerk transformiert wird. Statt dessen dient es Orozco als Verweis auf eine persönliche Erfahrung, die außerhalb des Galerieraums gemacht wurde. Die Vorgeschichte, die zu dem Objekt führte, das Nicht-Anwesende, ist das eigentliche Kunstwerk. Die Aktion Desapareciendo el museo („das Museum zum Verschwinden bringen“) ist Orozcos spielerisch-kritischer Kommentar zur Trennung der Sphären von Kunst und Alltag. In dieser Fotoserie konkurrieren zwei Elemente, das Museum der Schönen Künste in Havanna sowie ein angeknabbertes Sandwich in der Hand des Künstlers, um die visuelle Vorherrschaft im Bild, wobei das Sandwich zunehmend an Bildpräsenz gewinnt und das Museum schliesslich gänzlich verschwindet.
Die neuesten Arbeiten Ariel Orozcos werden auf der diesjährigen internationalen Messe für zeitgenössische Kunst (MACO) zu sehen sein, die vom 26.-30. April 2006 in Mexiko-City stattfindet. Aktionskunst ist eine oftmals sehr exklusive, auf ein elitäres Publikum ausgerichtete Strömung. Orozcos Beitrag zu derselben besteht darin, sie durch die Einfachheit seiner Ideen, die dennoch auf komplexen Konzepten aufgebaut sind, einem breiten Publikum geöffnet zu haben.

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