Mexiko | Nummer 395 - Mai 2007

Der amerikanische Alptraum

Auf der Suche nach einem besseren Leben in den USA scheitern viele MigrantInnen bereits im Süden Mexikos

Für zentralamerikanische MigrantInnen auf dem Weg in die USA wird es zunehmend schwierig, überhaupt die mexikanische Nordgrenze zu erreichen. In Kooperation mit den USA rüstet der mexikanische Staat seine Südgrenze zu Guatemala auf. Doch die Abschottungspolitik verhindert nicht die undokumentierte Migration, wird aber für die MigrantInnen gefährlicher und teurer. Für den jungen Honduraner Donar Antonio Ramírez fand der Traum von einem besseren Leben in den USA im chiapanekischen Grenzgebiet ein jähes Ende.

Michael Schmidt

Drei Tage und drei Nächte hält er sich fest. An den Türgriff eines Waggons gekrallt trotzt Donar Antonio Ramírez Wind und Wetter des mexikanischen Südens. Ohne Schlaf, in ständiger Angst vor Überfällen und der Migrationspolizei. Bis der Zug kurz vor Oaxaca plötzlich stoppt. Der junge Mann will die Gelegenheit nutzen, sich einen Maisfladen in den Mund zu stecken. Das wird ihm zum Verhängnis. Als der Zug mit einem Ruck wieder anfährt, verliert er das Gleichgewicht, stürzt und gerät unter die Räder. Eine unwirkliche Schrecksekunde lang scheint die Welt still zu stehen. „Das Blut schoss mir aus den Beinen wie Wasser aus einem Gartenschlauch“, sagt der Honduraner und erinnert sich: Wohl eine Stunde lang lag er so am Streckenrand. Gerüche verschwammen, Geräusche verstummten, er verlor das Bewusstsein. Mit den Sinnen schwand auch sein Traum von einem besseren Leben in den USA, „el sueño americano“.
In den krisengeschüttelten Staaten Zentralamerikas träumt ihn fast jeder. Bis zu 5.000 Menschen versuchen Tag für Tag, in die USA zu gelangen: geschätzte 1,8 Millionen pro Jahr. Hungerlöhne und steigende Arbeitslosigkeit lassen die Menschen weiter verarmen, Hurrikane und Überschwemmungen verheeren das Land, zerstören Häuser und Felder. All das fördert den Exodus. Den meisten MigrantInnen geht es dabei wie Donar Antonio: Das Ziel ihrer Träume, die USA, erreichen die wenigsten. Politisch ist das gewollt. Seit Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA 1994 wurde die US-amerikanisch-mexikanische Grenze hochgerüstet, Posten verstärkt, die Polizei- und Militärpräsenz erhöht, Abschiebeknäste eingerichtet. Aber sie ist porös. Deshalb hat US-Präsident George W. Bush während seiner jüngsten Lateinamerika-Reise mit den Regierungen in Guatemala und Mexiko auch über eine Grenze gesprochen, die nicht die seines Landes ist. Aus Sicht der US-Regierung sollte es ungleich leichter sein, die nur 700 Kilometer lange Grenze zwischen Mexiko und Guatemala zu kontrollieren als die 3.200 Kilometer lange zwischen den USA und Mexiko. In den vergangenen Jahren hat Washington viel getan, mit Geld, guten Worten und Verträgen wie dem Plan Sur, den mexikanischen Staat dazu zu bewegen, seine Südgrenze für MigrantInnen aus Zentralamerika dichter zu machen. Der Deal lautet: Ihr unterbindet den Zustrom von MigrantInnen ohne Papiere, schiebt sie in ihre Heimatländer ab, und wir denken im Gegenzug über eine Verbesserung der Lage eurer „GastarbeiterInnen“ in den USA nach.

Warten auf den „Todeszug“

Donar Antonio Ramírez verließ Honduras im Frühjahr 2005. Ohne Papiere, mit wenig Geld, viel Gottvertrauen und noch mehr Hoffnung. Er durchquerte Guatemala, setzte über den Río Suchiate nach Mexiko über und machte sich auf zum Bahnhof von Tapachula, wo er auf einen der berüchtigten Güterzüge wartete, der ihn seinem Glück näher bringen sollte. Jetzt, zwei Jahre nach seinem Aufbruch, sitzt der 28-Jährige in der schwülen Nachmittagshitze von Tapachula im spärlich begrünten Innenhof der Albergue Jesús el Buen Pastor (Notunterkunft Jesus, der gute Hirte), fährt mit dem Rollstuhl über den ausgetrocknet-rissigen Lehmboden und erzählt uns seine Geschichte. Mit dem Sturz vom Zug hat die Reise ins gelobte Land ein frühes Ende gefunden. Das Leben, das schlichte Noch-am-Leben-Sein, ist alles, was ihm blieb. Und die Erinnerung. An Bilder, die er nicht mehr loswird. Die Erinnerung, heißt es, ist das einzige Paradies, aus dem der Mensch nicht vertrieben werden kann. Für Donar Antonio ist sie die Hölle.
Wie Donar Antonio als blinder Passagier auf einen der Güterzüge aufzuspringen ist die schnellste, die billigste, aber auch die gefährlichste Möglichkeit, das riesige Transitland Mexiko zu durchfahren. Zwei- bis dreimal pro Woche fährt der Zug vom Bundesstaat Chiapas aus in Richtung US-Grenze. Jedes Mal warten die Menschen zu Hunderten in Bahnhofsnähe und entlang der Gleise, um einen Platz auf den Waggons zu ergattern, in denen Treibstoff und Düngemittel transportiert werden. Den Zug, der von einer schweren Lokomotive gezogen, sich auf alten, tief liegenden Gleisen vorwärts schiebt, kennt hier jeder. Die Menschen nennen ihn „tren de la muerte“: Todeszug.
Auch Donar Antonio harrte damals auf dem Bahnsteig aus, schlaflos, um den Zeitpunkt der Abfahrt nicht zu verpassen. Eine unbestimmte Spannung lag in der Luft: Denn alle wollten sie das Gleiche – doch das machte sie nicht zu Freunden, sondern zu Konkurrenten. Donar Antonio war damals 26 Jahre jung, klein, aber von kräftigem Körperbau, ein Familienvater, der sein Geld – „ein paar lumpige Lempiras“ – bis dahin als fliegender Händler und Parkplatzwächter verdient hatte. Doch nicht die Aussicht auf Reichtum lockte ihn in die USA, sondern der bescheidene Wunsch nach „einer anständigen Arbeit, die anständig bezahlt wird“. Um sich, seiner Frau und seinen drei Kindern ein Leben in Würde zu ermöglichen. Ob er, wenn er genug verdient hätte, zurückkommen oder seine Liebsten nachholen würde, darüber hatten sie damals nicht gesprochen, ja nicht einmal nachgedacht. Es galt, die Zukunft bei den Hörnern zu packen. Wozu da viele Worte machen?
Heute wirkt das Bahnhofsgebäude von Tapachula mit seinen blinden Fenstern unwirklich, wie eine Filmkulisse. Nachdem der Hurrikan Stan im Jahr 2005 Gleise und Gleisbett zerstört hat, sind die MigrantInnen gezwungen, in manchmal treckähnlichen Kolonnen ins 50 Kilometer nördlich gelegene Arriaga weiterzumarschieren. Damals aber, als Donar Antonio auf den Zug wartete, rangen drei-, vier-, vielleicht sogar fünfhundert zu allem Entschlossene um die besten Plätze, manche bewaffnet mit Steinen und Stöcken, um sich gegen Überfälle von Jugendbanden wehren zu können, manche allzeit zum Sprung bereit, für den Fall, dass die Migrationspolizei den Zug anhält und nach Papieren verlangt.
Der Zug fuhr, wie meistens, nachts ab. Weil andere schneller reagierten und das Dach der Waggons binnen Kurzem hoffnungslos überfüllt war, klammerte Donar Antonio sich an einen der seitlichen Türgriffe. Bis zu jenem verhängnisvollen Stopp in Oaxaca. Er wäre gestorben, hätte ihn nicht ein Mexikaner gefunden und in ein Krankenhaus gebracht. Dort haben sie ihm beide Beine amputiert.

Neue Grenzregime

Die „Bestie“ ist in den vergangenen Jahren ein eingängiges Kürzel für den Todeszug geworden, fast so locker gebraucht, als handle es sich um den Namen eines neuen Popstars, copyright-geschützt. „Aber“, sagt Pfarrer Guillermo Nieto, „das Problem ist nicht der Zug. Das Problem sind Regierungen, die der Armut nicht Herr werden – und die Migrationspolitik der USA.“ Der Geistliche arbeitet als Migrationsbeauftragter der Caritas in Tapachula. Wie viele, die Bush im März in Mexiko und Guatemala mit Protesten empfingen, stört ihn das Gefühl, Mexiko würde als Türsteher missbraucht. Mexiko habe sich zum willfährigen Instrument der US-Politik degradieren lassen, der man die Schmutzarbeit für ihre Abschottungsstrategie abnimmt, kritisiert er. Tatsächlich werden jährlich um die 200.000 MigrantInnen aus Mexiko abgeschoben. Gleichwohl hat diese Politik noch keinen Ausreisewilligen von seinem Vorhaben abgebracht.
Für den Migrationsexperten Júlio Buendía von der Caritas El Salvador geht es um mehr. Die ganze Welt blicke immer nur auf die Nordgrenze Mexikos – „aber die Südgrenze der USA ist hier: zwischen Mexiko und Guatemala.“ Hier sei die Nahtstelle, die den amerikanischen Kontinent in zwei Welten teile: den reichen Norden und den armen Süden. Hier sei das Nadelöhr, durch das sich die MigrantInnenströme zwängen. „Dies ist eine vergessene Grenze“, sagt er. Die menschlichen Dramen, die sich hier Tag für Tag abspielten, würden gar nicht erst wahrgenommen.
Mehrere tausend Menschen kommen jedes Jahr auf der Route nach Norden ums Leben. Sie ertrinken im Fluss, verdursten auf dem Marsch durch die Wüste, sie ersticken in LKW-Laderäumen, werden von Schleusern im Niemandsland ausgesetzt, von Giftschlangen gebissen oder Opfer brutaler Raubüberfälle, Vergewaltigungen und Morde.
Im ungeschriebenen Lexikon der MigrantInnen heißt der mexikanische Bundesstaat Chiapas deshalb „Friedhof ohne Kreuz“. Dennoch überqueren Zehntausende täglich die Grenze zwischen Guatemala und Mexiko. Die meisten auf legalem, nicht wenige auf illegalem Wege.
Hier arbeitet René Hernández als Fährmann. Arbeitskleidung: nichts als kurze rote Shorts. Arbeitsgerät: ein Floß aus alten LKW-Schläuchen. Kaum 500 Meter von der offiziellen Grenze entfernt, einer streng bewachten Brücke, bringt der 49-Jährige hier, an einer seichten Stelle des sachte dahin fließenden Río Suchiate, Menschen über die Grenze. Vielleicht – wer weiß – war er es, der Donar Antonio vor zwei Jahren auf seinem unter der Last von Kisten und Paketen schwankenden Floß von Tecún Umán in Guatemala nach Ciudad Hidalgo in Mexiko gezogen hat, an einem Seil, das er sich über die muskulöse Schulter wirft, wenn er barfuß, mit kräftigen Schritten durch den milchkaffeebraunen Fluss watet. Vielleicht hat auch damals ein Polizist von einem schattigen Plätzchen am mexikanischen Ufer aus das geschäftige Treiben beobachtet – und sich nicht gerührt. Meistens aber, weiß Hernández zu erzählen, bereichern sich Polizei und Militär an den MigrantInnen, nehmen ihnen, die im Heimatland ihr Hab und Gut verkauft, vielleicht sogar Schulden gemacht haben, das Reisegeld ab und stecken es in die eigene Tasche.

Zuflucht auf Zeit

So kommen viele bereits abgebrannt, hungrig und ernüchtert bei María Esther Rosales Mediana an. Die resolute Frau ist Vize-Direktorin der Albergue Belén in Tapachula. Die kirchliche Herberge für MigrantInnen ist ein Refugium der Ruhe, ein Informations-Umschlagplatz, eine Schlaf- und Raststätte für die indocumentados – MigrantInnen ohne gültige Papiere. Hier können sie sich ausruhen und von einem Arzt behandeln lassen. Im schattigen Patio steigt der Geruch frisch gewaschener Wäsche von den Leinen herab. Die bunt gestrichenen Wände zieren Bibelzitate und Sinnsprüche, Tröstendes, Aufmunterndes, Politisches: „Migration ist nicht das Problem, die Ursachen für Migration sind das Problem.“ Warmes Essen gibt es für die Ausgehungerten, Hosen und Schuhe für jene, denen Jugendbanden bis auf die Unterhose alles geraubt haben.
María Mediana wünschte, die Herberge wäre auch ein Ort des Innehaltens, der Umkehr: Durch die Glasscheibe ihres Büros blickt sie auf eine Landkarte Mexikos an der gegenüberliegenden Wand. Ein aufgeklebter Zettel informiert über die nächste Etappe der Reise: Tapachula – New York: 4.375 km, Tapachula – Los Angeles: 4.025 km, Tapachula – Houston 2.930 km. „Abschrecken lassen sich davon nur wenige“, sagt María Mediana, „die Verzweiflung der meisten ist größer als die Angst ums eigene Leben.“
Wie bei Donar Antonio. Der hatte einmal nur Glück im Unglück: Bevor das Krankenhaus ihn vor die Tür setzte, nahm Olga Sánchez Martínez ihn in der Herberge für Zugopfer auf. „Sie hat mich gerettet“, sagt er über die Frau mit den langen schwarzen Haaren im weißen Kleid. Seit achtzehn Jahren kümmert sich Doña Olga in Tapachula um die Opfer der „Bestie“: Mehr als 5.000 schwer verletzte MigrantInnen hat die 49-Jährige in ihrer Herberge Jesus, el buen Pastor schon verpflegt und medizinisch versorgt. Obwohl sie dafür 2004 von Ex-Präsident Vicente Fox mit dem mexikanischen Menschenrechtspreis ausgezeichnet worden ist, erhält sie weiterhin keinerlei staatliche Unterstützung. Weil Geld knapp ist und Medikamente, Prothesen und Rollstühle teuer sind, ist alles in dieser Herberge einfach: Die Zimmer sind spärlich beleuchtet, die Möblierung beschränkt sich auf einen Nachttisch, die Krankenhausbetten sind eher praktisch als gemütlich, ein kleiner Ventilator kämpft vergeblich gegen die feuchte Hitze. Alles hier sagt: Ich helfe dir, und ich helfe dir gern – aber nur auf Zeit. Ich bin nicht dein Zuhause.
Donar Antonio kann nicht bleiben, wo er ist. Er kann aber auch nicht dorthin zurück, wo er herkommt. Vor einem halben Jahr hat ihn Doña Olga begleitet. Zurück zu seiner Familie. Doch die, sagt er, wollte ihn nicht mehr haben. Sah nur einen zusätzlichen Esser in ihm. Einen Krüppel noch dazu. Wie sollte der ihnen helfen? „Sie waren froh, als ich wieder verschwand“, sagt er. Und lacht. Ein dem Schicksal trotzig abgerungenes, ein deprimierend grundloses Lachen.

Kontakt zu Olga Sánchez:
alberguejesuselbuenpastor@yahoo.com.mx

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