Brasilien | Nummer 433/434 - Juli/August 2010

Der andere Wahlkampf

Jenseits des Präsidentenwahlkampfes bemühen sich tausende Abgeordnete um Stimmen – Ein Porträt über den regionalpolitiker Marcelo Freixo

Am 3. Oktober finden in Brasilien Wahlen auf allen Ebenen statt. Im Zentrum des Interesses steht die Präsidentenwahl, aber tausende KandidatInnen bewerben sich auch auf Plätze in den Landesparlamenten. Auf der regionalen Ebene können diese PolitikerInnen viel bewegen – wenn sie denn wollen. Einer von ihnen ist Marcelo Freixo. Doch er kann seinen Wahlkampf derzeit nur mit halber Kraft bestreiten.

Thilo F. Papacek

Regelmäßig zu den Wahlen in Brasilien beschweren sich die Leute über die Verschmutzung, die die Werbekampagnen der Parteien verursachen. Die KandidatInnen umwerben die WählerInnen, damit diese sie als Präsidenten/in, als GouverneurIn, oder AbgeordneteR für das Bundesparlament oder die Parlamente der einzelnen Bundesstaaten wählen. Und dies tun die PolitikerInnen vor allem auf der Straße. Ignorieren kann man das Spektakel nicht. Überall hängen Plakate, Handzettel werden verteilt. Einige KandidatInnen ließen auch schon überlebensgroße Kostüme von sich selbst anfertigen, mit denen dann bezahlte HelferInnen herumlaufen mussten. In den Zeitungen fragen sich dann immer wieder KommentatorInnen, ob man diesem Aufwand nicht per Gesetz Einhalt gebieten sollte. Denn nach der Wahl hängen noch Wochen die Plakate an den Wänden und viele Straßenzüge sind mit tausenden Handzetteln verunreinigt.
Mindestens ein Kandidat, der sich derzeit zur Wiederwahl stellt, beteiligt sich nicht an dieser Verschmutzung des öffentlichen Raums – allerdings tut er das nicht freiwillig. Der 43-jährige Marcelo Freixo ist Abgeordneter für die kleine Linkspartei P-SOL (Partei für Sozialismus und Freiheit) in der ALERJ, dem Parlament des Bundesstaates Rio de Janeiro. Vor vier Jahren beendete er seine Arbeit als Forscher bei der Menschenrechtsorganisation Justiça Global um in die Politik zu gehen. Nun stellt er sich der Wiederwahl. In den vier Jahren in der ALERJ hat sich Freixo als Abgeordneter zahlreiche Feinde gemacht – so viele und so mächtige, dass er nicht mehr gefahrlos Wahlkampf betreiben kann. Es gibt Morddrohungen gegen ihn und jeden, der für ihn Wahlkampf betreibt.In seiner Zeit bei Justiça Global beschäftigte sich Freixo hauptsächlich mit der Gewalt, die von der Polizei Rio de Janeiros ausgeht und sich vor allem gegen die Unterschichten richtet. Er denunzierte immer wieder die Verflechtung von Polizei mit Drogen- und Waffenhandel über korrupte Netzwerke. In Interviews, unter anderem mit den Lateinamerika Nachrichten, skandalisierte er, dass die Polizei rechtsstaatliche Standards systematisch missachte. Für ihn sei die enorm hohe Zahl von Tötungen durch die Sicherheitskräfte Rio de Janeiros ein Zeichen dafür, dass die Polizei weniger den Auftrag habe, die Rechte der BürgerInnen zu schützen, als die Klassenstruktur des Landes zu bewahren (siehe LN 397/398). Der Diskurs von einem Drogenkrieg, so Freixo, würde nur ein Klima der Angst erzeugen, das ganze Bevölkerungsteile – nämlich die BewohnerInnen der Favelas – kriminalisiere und so unmittelbar zu Menschenrechtsverbrechen durch die Polizei führe (siehe LN 415).
Bei den Wahlen 2006 entschloss sich Freixo dann, für das Landesparlament zu kandidieren. Er erhoffte sich davon die Möglichkeit, effizienter für die Einhaltung von Menschenrechten und rechtsstaatlichen Standards einzutreten. Dies tat er dann auch. Gegenüber den Lateinamerika Nachrichten erklärte er, dass er sich weniger als Repräsentant seiner Partei sehe, denn als Vertreter der Interessen der Basisorganisationen von Rio de Janeiro.
Dies behaupten allerdings praktisch alle Abgeordneten der Parlamente Brasiliens – zumindest vor der Wahl. Einmal in die Parlamente gewählt, geht es vielen von Ihnen nur noch darum, in die entscheidenden Kommissionen zu gelangen, um zum Beispiel Aufträge für öffentliche Bauvorhaben befreundeten UnternehmerInnen zukommen zu lassen. Diese zeigen sich im Gegenzug mit Spenden erkenntlich. Oft besuchen die Abgeordneten nicht einmal die Pflichtsitzungen der Parlamente. Diese Schamlosigkeit im Umgang mit den staatlichen Institutionen ist denn auch einer der Hauptgründe für die Politikverdrossenheit in Brasilien und der weit verbreiteten Meinung, dass es den PolitikerInnen ohnehin nur darum gehe, öffentliche Gelder zu veruntreuen. Dieses Verhalten wird regelmäßig in der Presse skandalisiert, auch von konservativen Medien, ohne dass diese Kritik aber irgendetwas ändern würde.
Auch Marcelo Freixo bemühte sich um Plätze in parlamentarischen Kommissionen. Von einer wurde er sogar der Präsident. Doch handelte es sich nicht um eine Kommission, mit der viele Gelder bewegt werden können. Freixo wurde zum Präsident der parlamentarischen Kommission für Menschenrechte. In dieser Funktion konnte er zahlreiche Menschenrechtsverbrechen durch öffentliche Institutionen des Bundesstaates Rio de Janeiro untersuchen. Als Präsident dieser Kommssion versuchte Freixo auch Mechanismen einzuführen, um die Anti-Folter-Gesetze des Staates Rio de Janeiro auch tatsächlich bei den Polizeikräften durchzusetzen und deren Einhaltung zu kontrollieren.
Doch die Leistung des Abgeordneten Freixo, die ihn am bekanntesten gemacht hat, war die Parlamentarischen Untersuchungskommission (CPI) zu den Milizen, die durch seine Initiative geschaffen wurde. Als Milizen werden Mafiagruppen bezeichnet, die meist von ehemaligen und aktiven Polizisten angeführt werden und die Schutzgelder aus der informellen Ökonomie einziehen. Die Milizen zielen dabei auf die Kontrolle ganzer Stadtteile ab und schüchtern alle ein, die eventuell gegen sie vorgehen könnten.
Die CPI zu den Milizen war ein mächtiges Instrument, um diese Mafias zu bekämpfen, deren Beziehungen bis tief in den Staatsapparat reichen, Im Zuge der Ermittlungen wurden hunderte Personen angeklagt und viele wurden zu langen Haftstrafen verurteilt. Darunter waren etliche Polizisten und sogar Kollegen von Freixo im Parlament von Rio de Janeiro. Eine ganze Welle von Hausdurchsuchungen und Verhaftungen war die Folge der CPI zu Milizen (siehe LN 425).
Bei zwei dieser Razzien wurden detaillierte Pläne gefunden, um Marcelo Freixo umzubringen. Seitdem kann sich der Abgeordnete nicht mehr frei in Rio de Janeiro bewegen. Sobald er sein Haus verlässt, wird er von mindestens fünf Leibwächtern begleitet. Die Milizen ließen nun zum Wahlkampf die Bevölkerung der Viertel, die sie kontrollieren, wissen, dass jede Person, die Wahlwerbung für Marcelo Freixo mache, „Blei abbekommen wird“. Deshalb verzichtet Freixo ganz auf Werbung in den Straßen der Westzone von Rio de Janeiro; Niemand verteilt dort für ihn Handzettel oder klebt Plakate. Freixo möchte nicht, dass jemand für ihn sein Leben aufs Spiel setzt. Und auch er selbst erklärte gegenüber dem Nachrichtenmagazin Istoé, dass er kein „toter Held“ sein möchte.
Deshalb verlässt sich Freixo ganz auf die ihm gesetzlich eingeräumte Sendezeit im Fernsehen, aber vor allem auf das Internet. Über Webseiten wie Twitter und Facebook informiert er die WählerInnen über seine bisherige Arbeit und seine weiteren Projekte. „Sehr große Teile der Bevölkerung haben inzwischen Zugang zum Internet, auch die ärmeren Bevölkerungsteile“, erklärte er der Internetzeitung terra. Dies haben inzwischen alle KandidatInnen Brasiliens im Wahlkampf erkannt. Auch die Präsidentschaftskandidaten José Serra und Dilma Roussef twittern ihre Botschaften im weltweiten Netz. Doch Freixo ist ausschließlich auf diese Form der Wahlwerbung angewiesen. Die größte Herausforderung ist es, seine Webseiten im Datenchaos des Internets hervorzuheben. „Wir nutzen die kurze Sendezeit im Fernsehen vor allem, um auf meine Webseiten hinzuweisen“, erklärte er gegenüber terra.
Die Presse kann dabei hilfreich sein, ist es aber nicht immer. Zwar nahmen sich einige Zeitungen und Magazine der Situation Freixos an und berichteten darüber, doch einige Zeitungen missachteten auch seinen Beitrag im Parlament. Die konservative Zeitung O Globo brachte zum Beispiel am 20. Juni einen Artikel, in dem wieder einmal die Respektlosigkeit der Abgeordneten gegenüber dem Parlament angeprangert wurde. Doch die Zeitung zitierte auch einige positive Bespiele für die Arbeit von Abgeordneten. Eines davon war die CPI der Milizen. Doch wer diese CPI eingeführt hatte, verschwieg die Zeitung. Dies kann als bewusste Desinformationspolitik ausgelegt werden. Offenbar hat die Zeitung doch kein Interesse daran, dass alle wissen, welche Abgeordneten ihre Aufgabe ernst nehmen.

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