Land und Freiheit | Nummer 461 - November 2012

Der Aufstand des Gewissens kommt!

Jean Ziegler über den alltäglichen Skandal des Hungers sowie die Ernährungssicherheit in Kuba und Brasilien

Der Schweier Bestsellerautor Jean Ziegler hat gerade sein neues Buch „Wir lassen sie verhungern“ vorgelegt. Die LN sprachen mit ihm in Berlin über Ernährungssicherheit.

Interview: Martin Ling

Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind unter zehn Jahren an Hunger. Für Medien hat das einen Nachrichtenwert wie „Hund beißt Mann“. Der alltägliche Skandal findet in den Medien nicht statt. Schlagzeilen machen „nur“ eskalierende Hungerkrisen, die spektakuläre Bilder liefern. Welche Erwartungen hegen Sie mit ihrem Buch „Wir lassen sie verhungern“, das den alltäglichen Hunger thematisiert?
Zu allererst wollte ich mit diesem Buch eine Bilanz über meine Tätigkeit als erster UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung (2000-2008) vorlegen. Nun kann ich endlich offen sagen, wer die Halunken sind und worin die Hoffnung liegt, den Kampf gegen den Hunger erfolgreich zu führen. Das tägliche Massaker des Hungers ist ein nicht hinnehmbarer Skandal: 18 Millionen Menschen sterben jährlich an Hunger, Unterernährung und daraus resultierenden Mangelkrankheiten. Hunger ist bei weltweit 70 Millionen Toten im Jahr die mit Abstand führende Todesursache.

An einem objektiven Mangel liegt das nicht …
Keineswegs. Das geschieht auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt. Der World-Food-Report der Welternährungsorganisation FAO dokumentiert diesen Widerspruch augenscheinlich: Er beziffert die Zahl der permanent Unterernährten auf eine Milliarde – ein Siebtel der Menschheit. Andererseits sagt exakt dieser Bericht, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase der Entwicklung der Produktionskräfte problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte – also fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Karl Marx dachte noch, dass der objektive Mangel den Menschen über Jahrhunderte begleiten würde. Aber der objektive Mangel ist überwunden. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. Das Fazit ist eindeutig: Es gibt keinen objektiven Mangel, es gibt ein objektives politisches Versagen.

Wer sind denn die Halunken?
Vor allem die zehn weltweit führenden Nahrungsmittelkonzerne. Entscheidend ist der Zugang zur Nahrung. Und wer entscheidet darüber? Die zehn Konzerne wie Cargill, Archer Midland, Bunge oder Louis Dreyfus, die weltweit 85 Prozent des Handels mit Grundnahrungsmitteln beherrschen. Diese Konzerne entscheiden jeden Tag – über ihren Einfluss auf die Preisbildung – ganz konkret, wer lebt und wer stirbt.

Eindeutig ist: Die Lebensmittelpreise zeigen in den letzten sechs, sieben Jahren trotz Schwankungen eine klare Tendenz nach oben. Fast alle Expert_innen halten die Spekulation für einen der gewichtigsten Preistreiber. Wie könnten die Regierungen sie bekämpfen?
Die Tendenz ist überdeutlich: Seit zwölf Monaten ist der Maispreis auf dem Weltmarkt um 63 Prozent gestiegen. Der Preis für die Tonne Weizen hat sich verdoppelt. Der Weltmarktpreis für Reis ist um 31,8 Prozent gestiegen. Und was passiert? Die Investmentbank Goldman Sachs legt munter neue Derivate auf, statt auf faule Immobilienkredite aber jetzt auf Soja, Reis, Mais oder Weizen. Die Spekulation mit Nahrungsmitteln läuft ungebremst weiter und ist durchaus legal.

Ist Spekulation auf Märkten nicht „normal“?
Mag sein. Aber sie könnte in Deutschland morgen gestoppt werden. Dafür reichte ein Bundestagsbeschluss, der das Börsengesetz entsprechend ändert. Jedes Land hat die gesetzgeberischen Möglichkeiten, die Spekulation einzudämmen. Allein 2008/2009 hat der internationale Bankenbanditismus 85 Billionen Dollar an Vermögenswerten vernichtet – die sogenannte Finanzkrise. Seither sind die großen Hedge-Fonds und Großbanken massiv auf die Rohstoffbörsen umgestiegen – insbesondere auf die Nahrungsmittelbörsen und machen dort astronomische Profite. Damit gefährden und zerstören sie das Leben von Millionen Menschen in der Dritten Welt. Nach der aktuellen Weltbankstatistik leben 1,2 Milliarden Menschen in extremer Armut, das heißt statistisch von weniger als 1,25 Dollar pro Tag.

1,25 Dollar pro Tag ist aus westeuropäischer Sicht unvorstellbar. Wie haben Sie solche Verhältnisse konkret erlebt?
Zum Beispiel in den Favelas von Rio de Janeiro und São Paulo, in den Calampas von Lima, in den Slums von Karatschi. Die Mütter haben dort ganz wenig Geld, um die nötigen Nahrungsmittel zu kaufen. Und wenn die Preise explodieren, gehen die Kinder an permanenter schwerer Unterernährung zugrunde.

Wie sieht es in Kuba aus?
Kuba fällt positiv aus dem Rahmen. Dort gewährleistet die Libreta (Bezugsheft für Grundnahrungsmittel und Güter des täglichen Bedarfs, d. Red.) grundlegend und tatsächlich das Recht auf Nahrung.

Die Zukunft der Libreta wird im Zuge der Reformen diskutiert. Kuba stellt sich die Frage, ob es angesichts knapper Mittel nicht sinnvoller wäre, „nur“ die Bedürftigen zu subventionieren statt alle Bürger und Bürgerinnen. Wie sehen Sie das?
Sie werden das Richtige entscheiden. Kuba verteidige ich aus Überzeugung. In Kuba essen die Kinder, gehen zur Schule, werden gepflegt, Punkt. Auf diesem Kontinent ist das schon sehr viel.

Sie loben Kuba. Wie schätzen Sie die Politik in Brasilien ein? Der aus bitterarmen Verhältnissen stammende ehemalige Präsident Lula legte die Anti-Hunger-Kampagne „Fome Zero“ auf. Andererseits ist die Landreform, auf die vor allem die Landlosenbewegung MST gehofft hat, in seiner Amtszeit (2003-2011) ausgeblieben. Daran scheint sich auch unter seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff nichts zu ändern. Ist die Agrarindustrie-Lobby zu stark?
Ich nehme Lula sein aufrichtiges Bemühen im Kampf gegen den Hunger auf alle Fälle ab. Er hat in seiner Präsidentschaft erfolgreiche Sozialpolitik betrieben, aber auf Strukturreformen verzichtet. Dafür gibt es meines Erachtens zwei Erklärungen. Lulas Partei, die PT, hat weder im Senat noch im Abgeordnetenhaus, also in keiner der beiden Kammern des Kongresses, eine eigene Mehrheit. Das zwingt zu Kompromissen und erschwert eine radikale Politik. Andererseits liegt es auch an der Person Lula selbst. Ich habe ihn persönlich kennengelernt. Von seinen Überzeugungen her ist er ein christlicher Gewerkschafter. Er sagte ganz offen, dass es ihm an theoretischer Bildung fehle. Dafür hatte er seinen Berater Marco Aurélio Garcia, ein Marxist, der während der Diktatur in Paris im Exil war. Lula ist ein typischer Gewerkschafter, der im Arbeitskampf groß geworden ist, im Klassenkampf im Betrieb. Er ist ein bewundernswerter Gewerkschafter, aber seine analytischen Fähigkeiten sind trotzdem begrenzt. Deswegen ist er den Großkonzernen ziemlich hilflos ausgeliefert.
 
2005 verkündete die Regierung Lula das Nationale Biodieselprogramm. Mit ihm soll der Plan Pró Álcool ausgebaut werden, der in Brasilien seit 1975 die Produktion von Agrotreibstoffen aus Zuckerroh vorantreibt. Wie bewerten Sie diese Strategie?
Das ist eine Katastrophe. Die Umsetzung vom Plan Pró Álcool hat zu einer raschen Konzentration des Bodens in den Händen einiger Zuckerbarone und transnationaler Konzerne geführt. In einem Land wie Brasilien, in dem Millionen Menschen ihr Besitzrecht auf eine kleine Parzelle verzweifelt verteidigen und in dem die Ernährungssicherheit bedroht ist, stellt das Land Grabbing durch die Multis und Souveräne Staatsfonds einen zusätzlichen Skandal dar.

Brasiliens Regierung argumentiert, dass Zuckerrohr keine Nahrungspflanze ist und damit die Ernährungssicherheit gar nicht tangiert …
Das ist ein Totschlagargument. Die Agrargrenze verschiebt sich fortwährend. Und in dem Maße, wie Brasilien den Lebensmittelanbau durch Zuckerrohrpflanzungen ersetzt hat, wird es in den Teufelskreis des internationalen Lebensmittelmarktes hineingezogen: Gezwungen, Lebensmittel einzuführen, die es nicht mehr selbst erzeugt, verstärkt es die globale Nachfrage, die wiederum die Preise nach oben treibt. Insofern ist die Ernährungsunsicherheit, in der trotz „Fome Zero“ viele Brasilianer leben, unmittelbar mit dem Pró Álcool-Programm verknüpft.

Ein traditionelles Problem für den Süden sind die Exportsubventionen für die nördliche Agrarindustrie. Ist da Besserung in Sicht?
Nicht im Ansatz. Die Agrar- und Export-Subventionen der Industriestaaten sind mit Abstand am verheerendsten. Diese Subventionspolitik tötet Menschen. Lebensmittel aus der EU überschwemmen Afrikas Märkte. Sie können dort fast überall Produkte aus Deutschland, Frankreich oder Griechenland kaufen, die ein Drittel billiger sind als die einheimischen. Kein Wunder, schließlich haben im Jahr 2010 die in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vereinigten Staaten ihre Bauern mit 349 Milliarden Dollar unterstützt. Damit zerstören sie die Lebensgrundlage von Millionen Kleinbauernfamilien und stoßen sie ins Elend. Und wenn sie dann auf der Arbeitssuche nach Europa flüchten, versucht die EU, das mit militärischen Mitteln (Frontex) zu verhindern.

In Deutschland sind ein paar Banken aus dem Rohstoffhandel ausgestiegen. Zeichnet sich ein Wandel ab?
Nein. Die Banken sagen viel, wenn der Tag lang ist. Die kannibalische Weltordnung lässt ethisches Bankverhalten letztlich gar nicht zu. Ich rede mit Bankern, zum Beispiel vom Jabre-Fonds in Genf, und kann ihr Verhalten durchaus nachvollziehen. Die sagen mir klar, dass sie im Auftrag ihrer Kunden handeln. Die reichen Anleger wünschten eine möglichst profitable Geldanlage. Die Verpflichtung des Fonds sei es, die lukrativsten Anlagemöglichkeiten zu suchen. Verpflichtung?! Gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein hat da keinen Platz. Es geht um strukturelle Gewalt. Jean-Paul Sartre sagt: „Um die Menschen zu lieben, muss man sehr stark hassen, was sie unterdrückt.“ Nicht wer sie unterdrückt. Die kannibalische Weltordnung besteht aus der strukturellen Gewalt. Insofern halte ich es auch für reine Augenwischerei, wenn Banken ankündigen, sie würden aus dem lukrativen Rohstoffhandel aussteigen. Es sei denn, es wird gesetzlich angeordnet.

Dass ein Land vorprescht und die Nahrungsmittelspekulation verbietet, ist nicht absehbar.
Doch. In Spanien hat die Vereinte Linke im spanischen Parlament eine Gesetzesvorlage zum Verbot der Börsenspekulation mit Nahrungsmitteln eingebracht. Nach einem neuen UNICEF-Bericht vom Mai 2012 sind als Folge der absurden Austeritätspolitik der konservativen Regierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy 2,2 Millionen spanische Kleinkinder unter zehn Jahren permanent schwerst unterernährt. In Spanien, mitten in Europa! Und es gibt ähnliche Zahlen für England, Oxfam hat darüber eine Erhebung gemacht. Der wild wütende Raubtierkapitalismus rückt immer weiter vor nach Europa. Die hohen Lebensmittelpreise zerstören längst Familien in der Dritten Welt, in Lateinamerika, in Südasien und so weiter. Und bei uns fängt das jetzt an. Hartz IV ist nur ein Vorgeschmack. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen bei uns in Europa das einfach so hinnehmen.

In diesem Kontext ist der Vorstoß der Vereinten Linken in Spanien ehrenwert, dass das jetzige Parlament sich dem anschließt, aber ausgeschlossen. Wo soll der Vorreiter denn herkommen?
Ich setze auf Deutschland. Deutschland ist die größte, lebendigste Demokratie des Kontinents und die dritte Wirtschaftsmacht der Welt. Das Grundgesetz erlaubt alles, alles. Die Waffen sind da. Die Politik hat die Möglichkeiten und in einer Demokratie kann sie vom Souverän, dem Volk, zu entsprechendem Handeln gezwungen werden. Merkel und Schäuble sind ja nicht von Gottes Gnaden in ihren Ämtern. Die sind da, weil sie die Mehrheit im Bundestag haben. Das kann sich ändern. Und man kann die Bundesregierung stürzen oder dazu zwingen, ihre Politik radikal zu ändern, was die Nahrungsmittelverteilung auf dem Planeten anbetrifft. Alle die mörderischen Mechanismen von Spekulation bis zum Land Grabbing sind Menschen gemacht – alle können demokratisch morgen früh gebrochen werden.
Was bis jetzt noch fehlt, ist das organisierte kollektive Widerstandsbewusstsein der Zivilgesellschaft. Aber das kommt. Der Aufstand des Gewissens, der kommt, der steht bevor. Er kündigt sich bereits an. Die Welt ist in Bewegung. Dafür sorgen Attac, Greenpeace, auch einige kirchliche Hilfswerke wie die Caritas, Care, Brot für die Welt etc. Das sind lebendige Organisationen. Sie machen mehr und mehr Druck.

Sie sind Optimist?
Ich halte es mit Antonio Gramsci: „Der Pessimismus des Verstandes verpflichtet zum Optimismus des Willens.“ Ich setze große Hoffnung auf die Zivilgesellschaft. Che Guevara hat gesagt: „Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse.“ Und Karl Marx sagte: „Der Revolutionär muss das Gras wachsen hören.“

Wo wächst es?
Zum Beispiel in vielen Ländern des Südens, auch wenn die europäische Presse darüber schweigt – die Lateinamerika Nachrichten sind wahrscheinlich eine der wenigen Ausnahmen. Da sind die Bauernaufstände. Unglaublich, was da passiert in Honduras, auf den Philippinen, in Indonesien oder im Norden Senegals. Dort kämpfen Bauern mit bloßen Händen oder mit ganz wenigen Waffen darum, ihr Land zurückzugewinnen. Es gibt blutige Auseinandersetzungen jenseits der Öffentlichkeit. Oder die brasilianische Landlosenbewegung MST. Dort sind vier Millionen landlose Bauern organisiert – in einer Bewegung, das ist doch großartig. In all diesen Organisationen ruht große Hoffnung. Und die Via Campesina – eine internationale Bewegung von Kleinbauern, Pächtern, Tagelöhnern und Landarbeitern mit mehr als 200 Millionen Mitgliedern – hat auf den Weltsozialforen und darüber hinaus eine unglaubliche Arbeit bei der Vernetzung der kleinbäuerlichen Bewegungen geleistet und umfasst inzwischen mehr als 100 Organisationen aus Europa, Amerika, Asien und Afrika. Es gibt diesen kollektiven Widerstand und der ist großartig. Sie haben unsere Solidarität mehr als verdient.

Die Via Campesina setzt sich auch für eine völkerrechtlich bindende Erklärung im Menschenrechtsrat ein, die die Rechte von Kleinbauern und ländlicher Bevölkerung festschreiben soll. Rechnen Sie mit einem Erfolg?
Ich hoffe darauf. Die Revolution ist ein mysteriöser Prozess. Immanuel Kant schreibt: „Die Unmenschlichkeit, die einem anderen -angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.“ Der Aufstand des Gewissens steht bevor.

Infokasten:

Jean ziegler

Aus Schaden wird man klug. Jean Ziegler hat neuerdings eine Klausel im Vertrag stehen, dass der Verlag für die Anwaltskosten aufkommen muss, wenn es Klagen gibt. Der Hintergrund: Mit seinem Buch „Die Schweiz wäscht weißer“ zog sich Ziegler in den 90er Jahren den geballten Unmut der Schweizer Banken zu. Sie drängten erfolgreich auf die Aberkennung seiner Immunität als Schweizer Parlamentsabgeordneter und überzogen ihn mit Klagen wegen Rufmordes. Als Vizepräsident des beratenden Ausschusses für Menschenrechte genießt Ziegler derzeit UNO-Immunität. So sieht er eventuellen Klagen gegen sein gerade erschienenes Buch „Wir lassen sie verhungern – Die Massenvernichtung in der Dritten Welt“ gelassen entgegen. Einige seiner Bücher wie „Das Imperium der Schande“ und „Der Hass auf den Westen“ wurden internationale Bestseller. Ziegler, Bürger der Republik Genf, ist Soziologe und emeritierter Professor der Universität Genf sowie der Sorbonne in Paris. Er war bis 1999 Nationalrat (Abgeordneter) im Eidgenössischen Parlament und von 2000 bis 2008 Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung. Ziegler ist Träger verschiedener Ehrendoktorate und internationaler Preise wie des Internationalen Literaturpreises für Menschenrechte (2008).

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