Aktuell | El Salvador | Nummer 575 - Mai 2022 | Politik

DER AUSNAHMEZUSTAND WIRD ZUR NORM

Militarisierung der Politik und Abbau demokratischer Institutionen nehmen in El Salvador einen weiteren Schritt

Seit Ende März herrscht Ausnahmezustand in El Salvador. Die Regierung unter Präsident Nayib Bukele hatte die Maßnahme nach einer Mordserie krimineller Banden mit zahlreichen Opfern erlassen und inzwischen bis Ende Mai verlängert. In der Praxis dient der Ausnahmezustand inklusive Massenverhaftungen und Grundrechtseinschränkungen auch der Unterdrückung regierungskritischer Presse und der Ausweitung von Machtbefugnissen der Regierung Bukele.

Ingrid Wehr

Der neue Normalzustand Soldaten bei der Kontrolle von Passagieren eines Buses (Foto: Victor Peña (@victorpena84) für El Faro, April 2022)

El Salvador befindet sich seit dem 27. März im Ausnahmezustand. Nach einer brutalen Mordserie mit 87 Todesopfern innerhalb von drei Tagen, die im Wesentlichen auf das Konto der berüchtigten Gang Mara Salvatrucha 13 (MS-13) gehen soll, hatte Präsident Nayib Bukele das Parlament angewiesen, für 30 Tage den Ausnahmezustand zu verhängen. Inzwischen wurde die Maßnahme um einen weiteren Monat bis zum 27. Mai verlängert. Die Ausweitung der Ausnahmebefugnisse wurde vom Minister für Justiz und Innere Sicherheit, Gustavo Villatoro, damit begründet, dass bis zum 24. April zwar bereits 16.500 Bandenmitglieder verhaftet worden seien, aber etwa 70.000 Kriminelle nach wie vor auf freiem Fuß seien.

Außerdem hat das salvadorianische Parlament zusätzliche Mittel für Polizei und Militär in Höhe von 80 Millionen US-Dollar genehmigt. Nach Angaben des zentralamerikanischen Instituts für Steuerstudien ICEFI machte das Sicherheitsbudget des hoch verschuldeten Landes bereits vor der Erhöhung 11 Prozent der Regierungsausgaben aus. Im Jahr 2021 summierten sich die Ausgaben auf 846 Millionen US-Dollar.

Der Ausnahmezustand berechtigt die Regierung vier zentrale Grundrechte einzuschränken: das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit; das Briefgeheimnis und das Recht der Unverletzlichkeit privater Kommunikation ohne vorherige richterliche Genehmigung; das Recht, innerhalb von 72 Stunden nach Verhaftung einem Gericht vorgeführt zu werden und das Recht, über die Gründe der Verhaftung informiert zu werden sowie einen Rechtsbeistand und einen fairen Prozess zu erhalten. Gleichzeitig mit der Einführung des Ausnahmezustands im März wurden acht Reformen – ohne jegliche parlamentarische Mitsprache – durch den von Bukeles Partei Nuevas Ideas kontrollierten Kongress gepeitscht. Darin werden die bestehenden strafrechtlichen Mittel gegen Gangs, die bereits seit 2010 verboten sind, wesentlich verschärft. So kann die Mitgliedschaft in Gangs zukünftig mit 20 bis 30 Jahren Haft bestraft werden, Anführern und Financiers drohen gar Haftstrafen von 40 bis 45 Jahren.

Häftlinge ohne Rechtsschutz

Neu ist, dass nun auch Jugendliche ab zwölf Jahren zu Haftstrafen von bis zu zehn Jahren verurteilt werden können, Jugendliche ab 16 Jahren bis zu zwanzig Jahren. Eine Person, die der Bandenmitgliedschaft beschuldig wird, hat kein Anrecht darauf, nach zwei Jahren Untersuchungshaft entlassen zu werden, selbst wenn keine Beweise für eine Straftat oder einen Freispruch vorliegen, sondern bleibt in Haft, bis alle Instanzen durchlaufen sind. Prozesse können auch in Abwesenheit der Beschuldigten durchgeführt werden, aus Sicherheitsgründen sollen Richter*innen außerdem das Recht auf Anonymität erhalten.

Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen und Rechtsexpert*innen wiesen darauf hin, dass die im Eilverfahren verabschiedeten Reformen, vor allem im Falle minderjähriger Angeklagter, im Konflikt mit internationalen wie auch nationalen Normen stehen. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) veröffentlichte eine Stellungnahme, in der sie die Regierung Bukele bittet, die erlassenen Strafrechtsreformen für Minderjährige zu revidieren, da diese nicht im Einklang mit der UN-Kinderrechtskonvention stünden. Bezweifelt wurde ferner die Notwendigkeit der Anwendung des Ausnahmezustands, da auch die bereits bestehenden strafrechtlichen Instrumente dem Staat hinreichende Kompetenzen zur Verfolgung krimineller Banden erteilen.

Im Laufe des Ausnahmezustands sind derweil weitere Verhaftungswellen im Gange: Bis zum 2. Mai wurden laut Angaben der salvadorianischen Polizei, 22.754 Menschen festgenommen. Inzwischen häufen sich die Hinweise, dass es nicht nur zu einer Reihe von irrtümlichen Verhaftungen junger Männer kam, sondern zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Bei den Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und Cristosal gingen bis Ende April Informationen von über 160 willkürlichen Verhaftungen ein, sowie über brutale Gewalt gegen Inhaftierte. Nach Angaben der oppositionellen Kongressabgeordneten Claudia Ortiz sollen mindestens fünf Personen unter ungeklärten Umständen in Untersuchungshaft verstorben sein. Bereits vor der jüngsten Verhaftungswelle waren die salvadorianischen Gefängnisse hoffnungslos überfüllt: 39.147 Häftlinge gab es nach Angaben der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte im Land. Die Rate von 549 Häftlingen auf 100.000 Einwohner*innen wird in den Amerikas lediglich von den USA übertroffen. Bereits Anfang 2020 hatten die Bilder von zusammengepferchten, inhaftierten Bandenmitgliedern für weltweite Empörung gesorgt. In den vergangenen Wochen hat die Regierung erneut Bilder halbnackter tätowierter Männer veröffentlicht – mit dem Hinweis, dass der „Abschaum“ keine Menschenrechte besitze und den Häftlingen die Nahrung verweigert würde, wenn die Mordserie nicht abreiße. Regionale und internationale Menschenrechtsorganisationen, die ihre Sorge über die prekären Haftbedingungen zum Ausdruck bringen, werden pauschal als Sympathisierende der Gangs diffamiert. So twitterte Präsident Bukele am 28. März: „Diese windigen Typen von den internationalen NGOs geben vor, die Menschenrechte zu verteidigen, interessieren sich aber nicht für die Opfer, sondern verteidigen nur die Mörder, als ob sie die Blutbäder genießen würden“. Ein Großteil der Bevölkerung steht dem Populismus des Präsidenten jedoch positiv gegenüber. Laut einer Umfrage von Cid-Gallup vom April 2022 befürworten 91 Prozent der Befragten die gegen die Bandenmitglieder ergriffenen Maßnahmen.

Scharfe Kritik über die Landesgrenzen hinaus rief auch eine Reform hervor, die sowohl die Ausarbeitung und Verbreitung von Texten, Grafiken oder Graffiti unter Strafe stellt, die „Botschaften reproduzieren oder übertragen, die von Gangs oder angeblich von Gangs stammen und zu Angst oder Panik in der Bevölkerung führen können“. Präsident Bukele verglich die Maßnahme in einem weiteren Tweet mit dem Verbot von Nazi-Symbolen im deutschen Strafrecht, übersah hierbei jedoch, dass das salvadorianische Gesetz – anders als das deutsche – so vage und ambivalent formuliert ist, dass es grundsätzlich jegliche Form der Berichterstattung über Maras unter Strafe stellt. Bis zu 15 Jahren Gefängnis drohen damit Journalist*innen, die über Maras informieren.

Nach Ansicht der salvadorianischen Journalist*innenvereinigung APES handelt es sich dabei nicht um einen Formfehler, sondern um bewusste Zensur und einen Maulkorberlass. Die Reform soll die Berichtserstattung der unabhängigen Presse über Geheimverhandlungen der Regierung mit den Gangs unter Strafe stellen und verhindern, dass Informationen über die Freilassung von hochrangigen Bandenmitgliedern, deren Auslieferung US-amerikanische Gerichte fordern, publik werden.
Ähnlich kritisch wird auch die Aussetzung des Briefgeheimnisses und die Autorisierung von Abhörungen ohne Gerichtsbeschluss beurteilt. Bereits Anfang des Jahres war die Regierung Bukele in die Schlagzeilen geraten, nachdem bekannt geworden war, dass mehrere Dutzend Journalist*innen, insbesondere des Nachrichtenpools El Faro, monatelang mit dem Spionageprogramms Pegasus abgehört wurden. Die Regierung reagierte rasch und verabschiedete ein Gesetz über „digitale Undercover-Agenten“, das die rechtswidrige Spionage im Nachhinein legalisierte.

Schon seit Langem war der Regierung Bukele die Berichterstattung des unabhängigen Journalist*innenteams von El Faro ein Dorn im Auge. Während die Regierung mit dem expliziten Versprechen angetreten war, das organisierte Verbrechen und die brutalen Gangs mittels einer Politik der harten Hand unter Kontrolle zu bekommen, hatte El Faro aufgedeckt, dass Bukeles Regierung– wie auch bereits die Vorgängerregierungen unterschiedlicher politischer Ausrichtung – mit den Anführern der Gangs Geheimverhandlungen führte.

Journalist*innen werden als „Informationsterroristen“ gebrandmarkt

Reportagen von El Faro vom September 2020 und August 2021 belegen mit offiziellen Dokumenten und Fotografien, dass die amtierende Regierung praktisch seit Amtsantritt mit inhaftierten Anführern der Maras verhandelt hat. Eine Reportage, die von BBC Mundo Ende April 2022 veröffentlicht wurde, bestätigte diese Geheimverhandlungen anhand von Aussagen der Mara Barrio 18-Sureños. Nach den Recherchen sollen gegen die Zusicherung der ranflas (der nationalen Führungsriegen der Gangs), die Mordraten zu senken sowie bei den Wahlen Anfang 2021 die Regierungspartei zu unterstützen, Hafterleichterungen und ökonomische Anreize zugesagt worden sein. Dies hatte dazu geführt, dass das US-Außenministerium Sanktionen gegen die beiden Verhandlungsführer der Regierung verhängte: den Gefängnisdirektor und Vizeminister für Sicherheit und Justiz, Osiris Luna, sowie den Direktor des Sozialprogramms Tejido Social, Carlos Marroquin.

Auch die Staatsanwaltschaft in El Salvador hatte unter der Führung des damaligen Generalstaatsanwaltes Raúl Melara begonnen, die Geheimverhandlungen der Regierung mit den kriminellen Banden zu untersuchen. Die Untersuchungen fanden jedoch Anfang Mai 2021 ein abruptes Ende, nachdem die Regierung in einer verfassungswidrigen nächtlichen Hauruck-Aktion – abgesegnet durch das Parlament – Melara durch einen regierungstreuen Staatsanwalt austauschen ließ, gemeinsam mit allen Richter*innen des Verfassungsgerichts. Die Verantwortung für den sogenannten Fall Catedral blieb in den Händen von Rodolfo Delgado, der die Anti-Mafia-Sonderkommission GEA auflöste und inzwischen sogar ein Strafverfahren gegen die sieben Staatsanwälte eingereicht hat, die die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung Bukele untersucht hatten. Trotz des umfangreichen Beweismaterials und der belastenden Aussagen des geschassten Sonderermittlers Germán Arriaza gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters bestreitet die Regierung hartnäckig, dass die Verhandlungen mit den kriminellen Banden stattgefunden haben, und droht den Journalist*innen von El Faro, die als „Informationsterroristen“ gebrandmarkt werden, mit Strafrechtsprozessen.

So auch den Brüdern Oscar und Juan José Martínez, die in ihrem Buch El niño de Hollywood: una historia personal de la mara salvatrucha, anhand einer einzelnen Biografie eine bedrückende Aufnahme der politischen Ökonomie der Gewaltstrukturen der Maras liefern. Die Verlängerung des Ausnahmezustands im April wurde von einer Reform begleitet, die es der Regierung erneut ermöglicht, sich über die gesetzlichen Regelungen bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen hinwegzusetzen. Dies erinnert an die Situation 2020, als die Regierung zu Beginn der Pandemie alle Kontrollen für öffentliche Anschaffungen abschaffte und damit der Korruption Vorschub leistete (siehe LN 551). Nach Angaben der – inzwischen abgesetzten – Staatsanwälte wiesen bis Ende 2020 zwei Drittel aller staatlichen Einkäufe Unregelmäßigkeiten auf. Eine Reportage von El Faro hatte aufgedeckt, dass der Unterhändler des Paktes mit den Maras, Gefängnisdirektor Osiris Luna, die Notstandsbefugnisse während der Pandemie genutzt hatte, um 1,6 Millionen US-Dollar, die eigentlich für Lebensmittelhilfe vorgesehen waren, zu veruntreuen.

Keine Kontrollen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge mehr

Bereits zuvor waren die Befugnisse des Nationalen Instituts für den Zugang zu Öffentlicher Information (IAIP) stark beschnitten worden. Die Transparenzbeauftragte Liduvina Escobar sah sich nach Drohungen gezwungen, gemeinsam mit ihrer Familie ins Exil zu gehen (siehe Seite 36-40).

Leider deutet daher alles darauf hin, dass sich der rapide Abbau rechtsstaatlicher Strukturen und Kontrollen in El Salvador unter der Regierung Bukele noch weiter beschleunigt – und der Ausnahmezustand zur Norm wird. Nach der Gleichschaltung von Justiz und Staatsanwaltschaft am 1. Mai 2021 (siehe LN 564) werden nun der unabhängige Journalismus und zivilgesellschaftliche Organisationen, die nicht auf Regierungslinie liegen, zunehmend Opfer von Einschüchterungskampagnen. Zwar konnte ein Agent*innengesetz, das auf die Stummschaltung von Presse und Zivilgesellschaft ausgerichtet war, nach massivem internationalen Protest zunächst gestoppt werden. Die Kriminalisierung zivilgesellschaftlicher Organisationen nimmt jedoch zu. Ende April forderte Arbeitsminister Rolando Castro die Gewerkschaften auf, die traditionellen Demonstrationen zum Internationalen Tag der Arbeit abzusagen. Wer trotzdem marschiere, sei ein Sympathisant der Banden. Der Einschüchterungsversuch war nur teilweise erfolgreich. Der Minister konnte die Demonstrationen zwar nicht verhindern, die Beteiligung war jedoch deutlich schwächer als im Vorjahr.

Dieser Artikel erschien ursprünglich bei der Heinrich Böll Stiftung

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