DER DEHNBARE BEGRIFF DER (UN-)FREIWILLIGKEIT
Interview mit Ana Jardón Hernández aus Mexiko
Ana Jardón Hernández forscht zu Migrant*innen, die aus den USA nach Mexiko zurückkehren mussten. (Foto: Universidad Autónoma del Estado de México)
Ihre Forschung beschäftigt sich mit dem Phänomen der zurückgekehrten Migrant*innen (migrantes retornados/as). Was impliziert dieser Begriff für Sie?
Das Konzept wird in der Migrationsforschung noch immer diskutiert, weil es keine klare Definition gibt, wann man von zurückgekehrten Migrant*innen spricht. Der Zeitraum, den jemand im Ausland verbracht haben muss, um als zurückgekehrt zu gelten, ist nicht klar benannt. Manche sind nur ein halbes Jahr im Ausland gewesen und versuchen nach der Abschiebung, sofort wieder zu migrieren. Dann wird in der Forschung noch die Frage nach den Motiven diskutiert und schließlich kommen wir zur Frage nach den Rückkehrbedingungen. Hierbei unterscheiden wir zwischen der freiwilligen und der erzwungenen Rückkehr, wobei in die letztgenannte Kategorie die Abschiebung fällt.
Was sind die größten Herausforderungen für die, die unfreiwillig aus den USA zurückkehren?
Nun, mit dem Konzept der Freiwilligkeit hab ich mich in letzter Zeit viel beschäftigt. Es gibt die, die abgeschoben werden und jene, die selbst die Entscheidung zur Rückkehr fällen. Aber auch sie tun dies oft nicht freiwillig, sondern weil sie sich aus ökonomischen, politischen und sozialen Gründen dazu gezwungen sehen. Die Begriffe von Freiwilligkeit und Zwang in Bezug zur Rückkehr sind also weit gefasst.
Besonders herausfordernd ist die Situation für jene, die abgeschoben werden. Einige von ihnen verbrachten ein halbes Jahr, andere zwanzig Jahre in den Vereinigten Staaten. Es gelingt ihnen nicht immer, wieder Fuß zu fassen an dem Ort, an den sie zurückkehren. Vielleicht weil die Familie sie nicht mehr akzeptiert, da sie sich in der langen Zeit im Ausland andere Umgangsformen angewöhnt haben oder einfach, weil die emotionale Distanz zu groß geworden ist. Das Land, in das sie zurückkehren, hat sich auch verändert.
Manche haben zudem Gesundheitsprobleme physischer oder psychischer Art. Letztere stehen häufig in Zusammenhang mit der Abschiebung und der Art, wie sie als Rückkehrer*innen aufgenommen werden. Denn es heißt, sie würden „mit offenen Armen“ (brazos abiertos lautet der Name des mexikanischen Regierungsprogramms für Zurückgekehrte) aufgenommen und unterstützt werden, aber diese Versprechen werden nicht gehalten, weil es nicht genügend Budget dafür gibt. Eine weitere Herausforderung zeigt sich in Bildungsfragen betreffend der minderjährigen Kinder von deportierten Migrant*innen. Viele von ihnen sprechen kein Spanisch, sie wurden US-amerikanisch sozialisiert und erleben hier Diskriminierung, das sogenannte bullying. Dann ist natürlich die Wohnungsfrage ein Problem, manche sind obdachlos und haben sich verschuldet, um den coyote (Anm. d. Red.: Schlepper) zu bezahlen. Eines meiner Hauptanliegen ist die Arbeitsproblematik. Viele der Betroffenen haben in Mexiko prekär gelebt, gehen in die USA, wo sich die Situation kaum verbessert, kommen zurück und arbeiten hier wieder prekär. Was sind ihre Strategien, um an ein Einkommen zu gelangen? Für viele ist es die Selbständigkeit im informellen Sektor, die ihnen jedoch kein stabiles Einkommen garantiert.
Sie arbeiten auch mit Migrant*innen in Chicago, die darüber nachdenken, nach Mexiko zurückzukehren. Was können Sie darüber berichten?
Ich bin über einen abgeschobenen Migranten, den ich im Zuge meiner Feldforschung in einem Dorf im Estado de México interviewt habe, mit einer Familie in Chicago in Kontakt gekommen. Wir haben zuerst über Skype telefoniert und so eine Beziehung aufgebaut und dann haben sie mich schließlich nach Chicago eingeladen. Dort habe ich mich mit einer Gruppe von Migrant*innen getroffen. Sie eint das, was ich die „Hoffnung auf Rückkehr“ nenne. Ob es dazu kommen wird, ist ungewiss, vor allem da es sich um Personen handelt, die schon seit Langem in den USA wohnen. Ich kenne ihre Migrationsgeschichten und sie unterscheiden sich von denen anderer Migrant*innen.
Es ist ihnen gelungen, sich etwas aufzubauen, sie haben trotz ihres undokumentierten Status eine Arbeit gefunden, in der sie mehr als den Mindestlohn verdienen, sie sprechen Englisch, sie kommen in den USA gut zurecht. Dennoch haben sie die Hoffnung, nach Mexiko zurückzukehren. Das kommt nicht von ungefähr. Sie werden nicht eines Morgens wach und denken sich: „Ah, ich will nach Mexiko zurück.“ Nein, die Idee zur Rückkehr entwickelten sie aufgrund des xenophoben Diskurses von Donald Trump. Als sie zu realisieren begannen, dass das, was im Jahr 2008 passiert ist, wieder passieren kann. Damals war – wie meine Interviewpartner*innen sagen – die migra (die us-amerikanische Migrationsbehörde) sehr präsent und es wurden viele Menschen abgeschoben. Und jetzt mit Trump passiert dasselbe, es gibt verstärkte Razzien in den Städten, in denen viele mexikanische und zentralamerikanische Migrant*innen leben. Deshalb beginnen diese undokumentierten Migrant*innen, ihre Situation zu reflektieren.
Es ist ein Tabu, sie wollen es nicht offen aussprechen, aber sie beginnen, sich auf die Situation einer Abschiebung vorzubereiten. Denn sie wollen nicht als gescheiterte Abgeschobene zurückkehren, sie wollen ein Ziel haben, das ihr eigenes Leben und das der zurückgebliebenen Familien in Mexiko verbessert. Sie haben das Bedürfnis, anderen zu helfen und Arbeitsplätze zu schaffen. Sie wollen nicht mit leeren Händen zurückkommen.
Ich sehe meine Forschung hier aus menschlicher Perspektive. Es geht nicht nur um Methoden und Studien, sondern ich möchte diese Personen auch wirklich bei der Entwicklung ihrer Projekte unterstützen und ihnen mein Wissen dabei zur Verfügung stellen.