Kunst | Nummer 499 - Januar 2016

Der dunkle Teil des Kontinents

Zeitgenössische lateinamerikanische Kunst im Kunstmuseum Wolfsburg

Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt bis zum 31. Januar unter dem Titel „Dark Mirror. Lateinamerikanische Kunst seit 1968“ eine umfangreiche Ausstellung zeitgenössischer Kunst aus zehn Ländern Lateinamerikas. Aus den Beständen der Daros Latinamerica Collection in Zürich wurden 175 Arbeiten aller Gattungen ausgewählt.

Claudia Fix

Womit beginnt eine Ausstellung lateinamerikanischer Kunst in der Autostadt Wolfsburg? „Ayate Car“ heißt die Skulptur der Mexikanerin Betsabée Romero, ein Ford Victoria von 1955, den sich die Tropen einverleiben. Der Innenraum des Wagens ist mit 10.000 Rosenblüten gefüllt, seine Heckflossen mit Gewebe aus Agave-Fasern überzogen, die Karosserie mit Blumen bemalt. Jenseits des Verweises auf den Standort des Kunstmuseums lässt „Ayate Car“ zwei wiederkehrende Themen der ausgewählten künstlerischen Arbeiten der Ausstellung anklingen: Die Auseinandersetzung mit der kulturellen Dominanz des übermächtigen Nachbarn im Norden und mit der Gewalt. Denn die automobilen Liebesgrüße aus Mexiko schickte die Künstlerin an die Grenze mit den USA als Denkmal „für all die, die es eben nicht geschafft haben über die Grenze. Und natürlich auch als ein Hinweis darauf, dass viele Frauen darunter leiden, die zurückbleiben.“
Ebenfalls ganz am Anfang der Ausstellung steht die Animation „Logo for America”, die der Chilene Alfredo Jaar 1987 auf dem New Yorker Time Square gezeigt hat. Auf einer riesigen Werbetafel leuchtet der Schriftzug „Dies ist nicht Amerika“ über der Karte des nordamerikanischen Teils des Kontinents und einer US-amerikanischen Flagge, die dann durch das Aufleuchten einer Karte des gesamten Kontinents ersetzt werden. Nadín Ospina aus Costa Rica nimmt das Thema des Kulturimperialismus in ihren Skulpturen auf, in denen sie Formen präkolumbianischer Keramik mit Micky Mouse und anderen Comic-Helden kreuzt. Und Antonio Caro aus Kolumbien setzt auf einerlackierten Metalltafel das Wort „Colombia“, in den typischen Farben mit dem klassischen Schriftzug von Coca-Cola. Der größte Verbündete der USA in Südamerika wird so geradezu zur Verkörperung der amerikanischen Konsumkultur.
Dass Tod und Gewalt in vielen künstlerischen Arbeiten thematisiert werden, ist wenig überraschend, viele Einzelarbeiten sind es durchaus. Beeindruckend und in ihrer organischen Form beängstigend ist die zehn Quadratmeter große Installation „Field“ aus echtem Frauenhaar von Teresa Serrano. Sie soll, ebenso wie ihre Videoinstallation, in der ein Mann langsam und genüsslich eine weibliche Puppe zerschlägt, an die hunderten ermordeten Frauen in der mexikanischen Stadt Ciudad Juárez erinnern. Abstrakter, aber nicht weniger eindrucksvoll ist Miguel Angel Ríos‘ Videoinstallation „A Morir”, in der traditionelle mexikanische Holzkegel auf einem überdimensionalen Triptychon einem wiederkehrenden Spiel auf Leben und Tod folgen. Der dunkle Raum steht unter dem Zitat von Jorge Luis Borges: „Zum Sterben braucht es nicht mehr, als dass einer lebt.”
Eine Entdeckung sind die 33 Exponate von Luis Camnitzer. Den Arbeiten des 1937 in Lübeck geborenen Uruguayers ist ein eigener Raum gewidmet. Für die Konzept- und Objektkunst in Lateinamerika spielte er eine überragende Rolle und seine Arbeiten bringen eine gewisse Leichtigkeit in Ausstellung. Auch wenn sein Werk „Die Reise“ gleichzeitig zu den bedrohlichsten gehört: Drei Messerklingen ragen in den offenen Raum, zwei silberne Christbaumkugeln hängen von jeder der Klingen, unter denen die Namen Nina, Pinta und Santa Maria stehen. Sie erinnern an die Schiffe von Christoph Kolumbus, mit denen die Eroberung Lateinamerikas samt aller bis heute fortwirkenden negativen Begleitumstände begann.
Zu den visuellen Höhepunkten der Ausstellungen gehören auch die 1989 erstmals ausgestellten Fotografien des Chilenen Paz Errázuriz Körner, Teil des künstlerischen Kollektivs Grupo 8. Er hielt noch während der Pinochet-Diktatur in der Serie „Adamsapfel“, heute Teil der ständigen Ausstellung der Tate-Galerie in London, den Mikrokosmos der Transvestiten in der Stadt Talca auf eine sehr berührende Weise fest.
Ralf Beil, neuer Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg, möchte das Programm des Hauses zukünftig globaler und politischer gestalten. Dies ist mit „Dark Mirror“ gelungen: Auch wenn die Ausstellung keine repräsentative Auswahl zeitgenössischer Kunst aus Lateinamerika bietet, lädt sie zur Reflektion über ästhetische und politische Traditionen des Kontinents ein.

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