Chile | Nummer 235 - Januar 1994

“Der Fall Letelier”

Ex-Geheimdienst-Chef Contreras verurteilt

Der Mord an Orlando Letelier, dem ehemaligen Außenminister Salvador Allen­des, ist durch das Fernsehinterview mit Michael Townly (vgl. LN 233) wieder aktuell geworden. Townly handelte im Auftrag der DINA, des ehemaligen Ge­heimdienstes der Militärdiktatur. Am 21. September 1976 sprengte er den Wa­gen Leteliers mitten in Washington in die Luft. Jetzt wurde der ehemalige DINA-Chef Manuel Contreras für das Verbrechen verurteilt.

LN

Die Verurteilung des Geheimdienstchefs und seines ehemaligen Operationschefs Espinoza war tagelang zentrales Thema der Medien. Anscheinend hatte kaum je­mand der chilenischen Justiz so etwas noch zugetraut. Der Sohn Leteliers und derzeitige Abgeordnete der “Partei für die Demokratie” (PDD), Juan Pablo Letelier, sprach von “großer Genugtuung, denn es zeigt sich, daß es in Chile unter der De­mokratie Gerechtigkeit geben kann.” Lob und Zustimmung rundum: Das geringe Strafmaß, sieben bzw. sechs Jahre (der Richter hatte eine Art Verjährung, “media prescripción”, berücksichtigt), schien bei der Bewertung durch die Politiker keine Rolle zu spielen. Die Wahrnehmung war reduziert auf die Tatsache, daß der einst fast allmächtige und noch immer einfluß­reiche DINA-Chef überhaupt von einem chilenischen Richter verurteilt worden war. Angesichts der herrschenden Un­rechtslage (Amnestiegesetz!) ist das Ver­brechen an Letelier ohnehin das einzige unter den vermutlich Tausenden, für das Contreras gerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden kann.
Die Auftritte Espinozas und Contreras’ ge­rieten zum Spektakel, als sie zur privaten Verkündung des Urteils vor das Oberste Gericht zitiert wurden: Espinoza, weiter­hin im aktiven Dienst, erschien in Uni­form; Contreras, von 70 Mann des Ge­heimdienstes des Heeres geschützt, er­klärte zuversichtlich, er werde keinen Tag im Gefängnis verbringen.
Inzwischen haben beide Seiten beim Obersten Gericht Berufung eingelegt. Die Schwester des Ermordeten, die Anwältin Fabiola Letelier, teilt die Genugtuung des Sohnes keineswegs und verlangt lebens­lange Haft; die Verurteilten natürlich Frei­spruch (die CIA hätte die Tat begangen), ersatzweise Amnestie.

Das juristische Gestrüpp

Daß der Letelier-Prozeß überhaupt durch­geführt werden konnte, beruht auf zwei ju­ristischen Besonderheiten:
1. In dem berüchtigten Selbstamnestiege­setz der Militärdiktatur wurde das Ver­brechen an Letelier – auf Druck der USA – ausdrücklich ausgenommen (neben anderen Delikten wie Abtrei­bung).
Dieses Zugeständnis an Washington mochte damals risikolos erscheinen, da im schlimmsten Fall das Verfahren eh vor ein Militärgericht gekommen und wie zig andere Prozesse eingestellt worden wäre.
2. Es gelang der Regierung Aylwin, ein Gesetz durchzubringen, das die Einset­zung von Richtern des Obersten Ge­richts als Sonderrichter (ministro en vi­sita) in den Fällen vorsieht, in denen die Beziehungen Chiles zu einer ausländi­schen Regierung betroffen sind.
Durch die erste Regelung führten die Un­tersuchungen auch zu einem Urteil. Die zweite Regelung erlaubte die Einsetzung des Richters Bañados zur Untersuchung des Falles. In ihrer Prozeß-Strategie haben die Verurteilten einmal gegen das Urteil Berufung eingelegt. In einem weiteren Schritt verlangen sie, die Ausklammerung des Falles Letelier aus dem Amnestiege­setz für verfassungswidrig zu erklären. (Juristisch merkwürdig ist eine so spezifi­sche gesetzliche Regelung gewiß.)
Wie wird das Oberste Gericht – vermutlich im März – entscheiden? Der Anmwalt der Menschenrechtsorganisation CODEPU (Comité de defensa de los derechos hu­manos) Ocampo wagt noch keine Pro­gnose, sieht aber düstere Anzeichen: Das Oberste Landesgericht hatte den Antrag Espinozas, das Verfahren bis zur Klärung der Amnestiefrage ruhen zu lassen, abge­lehnt; wenige Tage später gab es dem gleichen Antrag von Contreras (nach der Urteilsverkündung in der ersten Instanz) statt…

Der Fall Soria

Ein weiteres düsteres Zeichen bedeutet die Entwicklung im “Fall Soria”. Im Jahre 1976 wurde der Spanier Carmelo Soria von der DINA in Santiago ermordet; er arbeitete mit diplomatischem Status für die CEPAL (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika) und hatte Kontakte zur chilenischen KP im Untergrund.
Unter Hinweis auf die Belastung der aus­wärtigen Beziehungen hatte die chileni­sche Regierung (zögerlich genug, wie die Tochter des Ermordeten erklärt) auch hier die Einsetzung eines Sonderrichters ver­langt. Bislang ruht das Verfahren bei der Militärjustiz.
In einer 7:6-Enscheidung hat eine Kam­mer des Obersten Gerichts den Antrag der Regierung abgelehnt – die sieben konnten eine Belastung der Beziehungen nicht er­kennen. Damit darf der Fall weiter bei der Militärjustiz ruhen, die ihn (nicht) verfolgt und auch jede Veröffentlichung darüber in den Medien verhindern kann…
Mit ihrer Ablehnung haben sich die Rich­ter eine eigene Wertung der auswärtigen Beziehungen angemaßt – und somit ihre Kompetenzen überschritten.
Um den Standpunkt der Aylwin-Regie­rung zu stützen, hat die spanische Regie­rung ein Signal gesetzt und ihren Bot­schafter zur Berichterstattung nach Madrid zitiert. Die Regierung wird den Antrag noch einmal stellen.

Kasten:

Punto Final: Ein Urteil mit Vorzügen und Schwächen

In der auf Konsens getrimmten chilenischen Gesellschaft wirkt eine Position wie die von “Punto Final” wie der Rufer in der Wüste; wir zitieren aus dem Beitrag des An­walts Carlos Margotta:
“Der Inhalt des Urteils und der Widerhall darauf bestätigen einen bekannten Aphoris­mus, nach dem Urteile Kinder ihrer Zeit sind. Eine unleugbare politische Bedeutsam­keit hat das Urteil, das der Richter des Obersten Gerichts, Adolfo Bañados, in erster Instanz fällte. Das Urteil ist charakteristisch für den Übergang zur Demokratie, mit Vorzügen und enormen Schwächen.”
Carlos Margotta kritisiert, daß der Richter die Verantwortung für den Mord auf Con­treras und Espinoza beschränkt und nicht den direkten Vorgesetzten, Pinochet, miteinbezieht. Daß ein Mord dieser Tragweite von Contreras auf eigene Faust ent­schieden worden sei – dem militärischen Rang her war er lediglich Oberst – sei un­wahrscheinlich.
“Diese wenig überzeugende Einschränkung mindert die Kraft des Urteils. Sie bringt einen auf den Gedanken, daß ein Teil der Untersuchung noch anhängig ist, den man nicht durchführen wollte oder konnte. Sehr wenige glauben ehrlich, daß die Verant­wortung für das Verbrechen bei Contreras und Espinoza beginnt und endet.” Was Wahrheit und Gerechtigkeit betrifft, sei im Gegensatz zu anderen Verbrechen in die­sem Fall die Wahrheit seit Jahren bekannt gewesen. Im Hinblick auf das Strafmaß sind die Strafen, die gegen Contreras und Espinoza ausgesprochen wurden, lächerlich im Vergleich zu denen, die routinemäßig gegen gewöhnliche Verbrecher wegen weni­ger schwerer Delikte verhängt werden. […]
Diesem Anspruch wird das Urteil des Richters Bañados angesichts der voraussehbaren Entwicklung des Prozesses nicht gerecht. Das kollektive Empfinden verlangt Gerech­tigkeit und Strafe für die Verbrecher und nicht nur eine moralische Verurteilung.”
“Die Zuversicht Manuel Contreras’ und das demonstrative Auftreten Espinozas in Uni­form mit offenkundiger Unterstützung des Heeres lassen Befürchtungen über das end­gültige Urteil aufkommen.”

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