Aktuell | Ecuador | Nummer 608 - Februar 2025

Der Fall Malvinas

In der Küstenregion Ecuadors werfen systematische Übergriffe durch das Militär ein düsteres Licht auf Präsident Noboas Sicherheitspolitik

In Ecuador sorgt der Fall von vier verschwundenen Jugendlichen aus Guayaquil für Entsetzen. Nach ihrer Festnahme durch das Militär wurden ihre Leichen Wochen später nahe einer Militärbasis gefunden. Der Vorwurf: erzwungenes Verschwindenlassen. Der Fall rückt das Problem des Machtmissbrauchs durch das Militär ins Licht, das sich bereits seit einem Jahr abzeichnet.

Von Valeria Bajaña
„Sie fehlen uns” Josué, Saul, Ismal uns Steve, die 4 aus Guayaquil (Bild: Chikaru)

Überwachungskameras zeigen schockierende Szenen: Mindestens zwei Kinder sind auf den Aufnahmen zu erkennen. Sie liegen übereinander in einem Transportbehälter auf der Ladefläche eines weißen Pickup-Trucks. Das Fahrzeug ist umringt von Männern in Stiefeln und Militärkleidung. Drei dieser Männer befinden sich ebenfalls auf der Ladefläche. Einer von ihnen schlägt einem der Kinder ins Gesicht.

Diese Videoaufnahmen wurden Ende Dezember 2024 von der ecuadorianischen Nationalversammlung veröffentlicht. Sie zeigen, wie Minderjährige gegen ihren Willen in der Hafenstadt Guayaquil vom Militär verschleppt werden – so lautet der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Angeklagt sind 16 Soldaten, die an der Operation am 8. Dezember 2024 beteiligt gewesen sein sollen.

Die Geschwister Josué und Ismael Arroyo (14 und 15 Jahre alt), Saúl Arboleda (15 Jahre alt) und Steven Medina (11 Jahre alt) befanden sich auf dem Weg zu einem Fußballplatz, als sie von Militäragenten festgenommen und in ein Fahrzeug gebracht wurden. Danach verlor sich jede Spur von ihnen. Die Kinder blieben über 23 Tage verschwunden, bis am 24. Dezember in Taura, einer kleinen ländlichen Gemeinde etwa eine Stunde von Guayaquil entfernt, in der Nähe einer Militärbasis, verkohlte und gefesselte Leichen gefunden wurden. Die Familien der Kinder und zivilgesellschaftliche Organisationen, die bis dahin intensiv nach ihnen gesucht hatten, forderten eine Identifizierung der Leichen. Die Staatsanwaltschaft bestätigte am 31. Dezember, dass es sich um die vermissten Kinder handelte. Noch am selben Tag ordnete ein Richter Untersuchungshaft gegen die 16 Soldaten an, die nun wegen des Verbrechens des erzwungenen Verschwindenlassens angeklagt sind.

In einem Interview mit Tinta Digital erklärte Isabel Palacios, Menschenrechtsanwältin und Justizkoordinatorin der Beobachtungsstelle für Rechte und Justiz (ODJ), was genau unter dem Delikt des „Verschwindenlassens” zu verstehen ist. „Dieses Verbrechen stellt eine Kette von Menschenrechtsverletzungen dar,“ so Palacios. Ihrer Meinung nach scheinen im Fall der verschwundenen Kinder die drei zentralen Elemente dieses Delikts erfüllt zu sein: „Als erstes ist die Beteiligung staatlicher Akteure oder anderer Personen zu nennen, die mit Duldung oder Billigung des Staates handeln“, erklärt Palacios. „Zweitens liegt eine Freiheitsentziehung der Betroffenen vor. Drittens folgt die Entfernung der betroffenen Personen aus dem rechtlichen Schutzrahmen.“ Der Anwältin zufolge werfe der Fall viele Fragen zum Verhalten der Streitkräfte auf, das mit diesen drei Merkmalen übereinstimmt.

Der Anwalt der beschuldigten Soldaten, Jesús López, behauptet, die Militärangehörigen hätten die Kinder im Rahmen einer „Anti-Kriminalitätsverfolgung“ festgenommen. In einer der ersten Versionen der Ereignisse erklärte López selbst, dass die Kinder in der Nähe von Taura wieder freigelassen worden seien. In einem Interview mit Ecuavisa schilderte der Vater eines der Kinder, er habe einen Anruf von einem Unbekannten erhalten, der helfen wollte, nachdem die Kinder angeblich von den Soldaten ausgesetzt worden waren. Im Gespräch mit seinem Sohn erfuhr der Vater, dass die Militärangehörigen die Kinder geschlagen und ihrer Kleidung beraubt hätten. Auf Basis dieser Informationen hinterfragte Isabel Palacios das Vorgehen des Militärs.

Im „Fall Malvinas“ – benannt nach dem Bezirk „Las Malvinas“ in Guayaquil, wo die Kinder zuletzt gesehen wurden – bleibt ungeklärt, warum die Militärangehörigen mit den Kindern auf dem Weg zur Militärbasis waren. In einem von den involvierten Militärangehörigen vorgelegten Bericht hieß es, die Kinder seien in kriminelle Aktivitäten verwickelt gewesen, doch die Staatsanwaltschaft stellte fest, dass es dafür keine Beweise gibt. Sowohl im Dezember 2024 als auch Anfang Januar 2025 fanden in Guayaquil und Quito zahlreiche Kundgebungen und Demonstrationen statt, die von Organisationen der Zivilgesellschaft organisiert wurden, die den Fall und die Eltern der Kinder begleiteten. Auf Schildern und Transparenten ist immer wieder der Satz zu lesen: „Lebend haben sie sie verschleppt, lebend wollen wir sie zurück“. Wer auf Social Media die Versammlungen verfolgt, merkt: Die Trauer und Wut über den Fall sitzen tief.

Machtmissbrauch und Racial Profiling

Für Organisationen wie Mujeres de Asfalto aus der Küstenregion der Provinz Esmeraldas, die sich seit Anfang 2024 mit ähnlichen Fällen beschäftigen, sind die verschwundenen Minderjährigen leider nur ein Beispiel von vielen. Immer wieder berichtet das Kollektiv von Machtmissbrauch durch das Militär, welcher sich systematisch fortsetzt. In einem Interview für den Podcast „Ohren für Lateinamerika“ berichtete vergangenes Jahr die Leiterin des Kollektivs, die afroecuadorianische Aktivistin Juana Francis, über diese alarmierende Situation: „Wir haben über 30 Fälle von jungen Leuten, die in Häusern angegriffen wurden, die das Militär angeblich irrtümlich gestürmt hat. Dabei wurden Frauen und Kinder verletzt, Menschen aus ihren Häusern entführt und verschwinden gelassen.“ Francis beschreibt, die Situation sei am gravierendsten für junge Schwarze Männer, die vermehrt der Praxis des Racial Profiling ausgesetzt seien.

Der Machtmissbrauch durch das Militär steht in engem Zusammenhang mit der ersten Ausrufung des Ausnahmezustands durch Präsident Daniel Noboa im Januar 2024, die eine verstärkte Militärpräsenz im gesamten Land zur Folge hatte. Angesichts der eskalierenden Gewalt setzte der Präsident auf eine harte Sicherheitspolitik. Drogenhandelsorganisationen wurden als „Terroristen“ eingestuft, ein „interner bewaffneter Konflikt“ erklärt, und die Ausnahmezustände im Rahmen des sogenannten Plan Fénix mehrfach verlängert. Diese gehen einher mit der Einschränkung bestimmter verfassungsmäßiger Rechte, der Mobilisierung von Sicherheitskräften und der Einführung von Ausgangssperren – mit dem erklärten Ziel, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen und die öffentliche Ordnung in Ecuador wiederherzustellen.

Menschenrechtsorganisationen äußern Kritik

Noboas Sicherheitspolitik der harten Hand fordert jedoch ihren Preis: Menschenrechtsverletzungen. Zwischen Januar und November 2024 meldete die Staatsanwaltschaft neun Fälle von erzwungenem Verschwindenlassen, 15 außergerichtliche Hinrichtungen und über 80 Fälle von Folter, wie ein Bericht von Human Rights Watch zeigt. Die meisten Opfer waren junge Menschen aus verarmten Stadtvierteln, darunter viele aus afroecuadorianischen Gemeinschaften in Esmeraldas, Guayas, Manabí und Los Ríos. Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD) kritisiert, dass das Militär nicht für die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit ausgebildet sei. Diese Aufgaben sollten von einer zivilen Polizei übernommen werden; der Einsatz der Armee dürfe internationalen Standards zufolge nur in absoluten Notfällen erfolgen – in Ausnahmefällen, vorübergehend und ergänzend.

Ständige Angst durch Militarisierung

Bis heute hat der Präsident nicht konkret auf die Forderungen von Menschenrechtsorganisationen reagiert. In einem Interview mit La Mega 90 FM zum Fall Malvinas schlug er vor, die Kinder als „Helden der Nation“ zu erklären.

Für die afroecuadorianische Bevölkerung in den Küstenregionen bedeutet die Militarisierung ihrer Viertel, so Juana Francis, ein Leben in ständiger Angst: „Das Racial Profiling, das unter dem Vorwand der Sicherheit durchgeführt wird, bedeutet, zu behaupten, dass Schwarze Körper unsichere Körper sind, die keine Sicherheit verdienen. (…) Diese nekropolitische Agenda, die von den Regierungen und Staaten gesteuert wird, sieht uns nicht als Rechtssubjekte. Sie sehen uns als Objekte. Und wenn man Menschen und Gemeinschaften auf Objekte reduziert, sind wir entbehrliche Wesen. Wir sind austauschbare Wesen.“

Gleichzeitig gehen die Menschen, insbesondere in Guayaquil, weiterhin auf die Straße, um vom Staat Gerechtigkeit im Fall der vier verschwundenen Kinder zu fordern. Ihre Namen fügen sich somit in die Liste von Personen ein, für die sowohl Sicherheitskräfte als auch die Regierung noch Rechenschaft ablegen müssen.


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