Nummer 349/350 - Juli/August 2003 | Ökonomie

“Der Freihandel birgt stark antidemokratische Tendenzen“

Interview mit Alberto Arroyo Picard

Der Soziologe Alberto Arroyo Picard arbeitet als Sozialforscher an der Autonomen Universität Mexikostadt (UAM) und ist Mitglied der Alianza Social Continental (ASC) ein Netzwerk von sozialen Organisationen, Gewerkschaften und städtischen Verbänden, das Gegenentwürfe zum Vertragswerk der geplanten gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA entwickelt. Außerdem arbeitet er in der Koordination des Mexikanischen Netzwerkes gegen Freihandel (RMALK). Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit ihm über Freihandelsabkommen im Allgemeinen und das Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit Mexiko im Besonderen.

Gregor Maaß,Anja Witte

Die Schaffung verschiedener Freihandelszonen wird von Kritik und Protesten begleitet. Sie beobachten diesen Prozess als Mitglied des Forums Alianza Social Continental. Worin besteht Ihre Kritik?

Die Kritik bezieht sich auf das Modell des Freihandels selbst. Es ist keine punktuelle Kritik, sondern sie richtet sich gegen die gesamte Stoßrichtung dieser Verträge. Der Protest wächst in Lateinamerika weil die Verträge eine Politik in Gesetzesform gießen, die es in unseren Ländern schon sehr viel länger gibt. In Mexiko konkret seit zwanzig, in Chile zum Beispiel schon seit dreißig Jahren.
Der Kern dieser Kritik ist, dass den großen Konzernen sehr weit gehende, so genannte Suprarechte eingeräumt und sie zudem noch mit den Instrumenten versehen werden, um diese Rechte effizient durchzusetzen. Währenddessen werden die Menschenrechte, insbesondere die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte, den Wirkungskräften des Marktes unterworfen und es gibt keine Möglichkeiten diese einzufordern.

Immer wieder wird behauptet, der Freihandel stärke die Demokratie. Wie beurteilen Sie dieses Argument?

Im Diskurs werden Freihandel und Demokratie sehr stark vermischt. Aber tatsächlich ist es so, dass in vielen Ländern die wichtigsten Entscheidungen für die Bürger trotz repräsentativer Demokratie überhaupt nicht mehr von den Repräsentationsinstanzen getroffen werden. Stattdessen sind die Entscheidungen auf die internationale Ebene ausgelagert, wo die Bürger unserer Länder eben überhaupt nicht mitbestimmen können. Daher würde ich eher davon sprechen, dass der Freihandel stark antidemokratische Tendenzen birgt, also zu weniger Demokratie führt.

Sehen Sie grundsätzlich andere Entwicklungsstrategien abgesehen von der Marktintegration?

Es stellt sich gar nicht die Frage, ob wir uns in die Dynamik der Weltwirtschaft integrieren. Das fundamentale Problem ist, dass wir alles auf den externen Wirtschaftssektor, auf Export und ausländische Investitionen setzen müssen. Das Herzstück oder der Motor der Wirtschaft jeden Industrielandes ist der Binnenmarkt.
Den Binnenmarkt stärken bedeutet die Armut zu bekämpfen, die Kaufkraft der Bevölkerung zu steigern. Die Wirtschaft muss durch die Konsumkapazität der eigenen Bevölkerung getragen werden. Der Export und die ausländischen Investitionen sollten ergänzende Elemente und nicht das Kernstück der Entwicklungsstrategie sein.
Wir müssen uns in die internationale Wirtschaftsdynamik integrieren. Wir müssen exportieren, denn das ist die einzige gesunde Form die notwendigen Importe zu begleichen.
Die Entwicklungsländer können nur schwer auf ausländische Investitionen verzichten. Aber nur unter klaren Regeln, im Sinne einer regulierten Weltökonomie, die im Gegensatz zur Doktrin des Freihandels steht.

Am ersten Juli 2000 trat das Freihandelabkommen zwischen Mexiko und der Europäischen Union (EU) in Kraft. Es ist das erste Freihandelsabkommen das die EU mit einem lateinamerikanischen Land abschloss. Welche Konsequenzen sind inzwischen ersichtlich und was lässt sich für die Zukunft prognostizieren?

Der Zeitraum ist noch sehr kurz, um die Konsequenzen festzustellen. Was ich bislang sagen kann ist, dass die Exporte von Mexiko nach Europa nicht zugenommen haben, umgekehrt aber die Importe von europäischen Gütern nach Mexiko sehr wohl gestiegen sind. Das Handelsbilanzdefizit von Mexiko hat sich vergrößert, es gibt also bislang nichts Positives zu berichten.
Wegen der Rezession in den USA hätte man erwarten können, dass die Exporte von Mexiko nach Europa ansteigen. Das war aber nicht der Fall.

In welchen Bereichen hatte das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA (North American Free Trade Agreement) zwischen Mexiko, Kanada und den USA die größten Auswirkungen und wo wird sich das Freihandelsabkommen mit der EU am deutlichsten bemerkbar machen?

Ziel des NAFTA sollte das Wachstum der mexikanische Wirtschaft sein und zwar vor allem durch den Export von Manufakturgütern und über die Zunahme von ausländischen Investitionen. Tatsächlich exportiert Mexiko auch mehr, vor allem in die USA. Es hat auch viele ausländische Investitionen gegeben. Aber das erwartete Wirtschaftswachstum ist nicht eingetreten. Es sind auch keine neuen Arbeitsplätze geschaffen worden, eher im Gegenteil.
Es geht in diesen Verträgen weniger um Handel als um Investitionen. Im Abkommen mit Europa spielt vor allem der Finanzsektor eine große Rolle. Insbesondere spanisches Kapital hat sich in die nationalen Banken eingekauft, mit der Konsequenz, dass es überhaupt keinen mexikanischen Finanzsektor mehr gibt. Alle Banken haben eine mehrheitlich ausländische Beteiligung, außer einer einzigen ganz kleinen und unbedeutenden Bank. Ähnliche Effekte gibt es auch in anderen Sektoren, wie dem Kommunikationssektor. Das Problem ist, dass die Investoren keine neuen Betriebe schaffen, sondern dass sie bereits bestehende aufkaufen und entnationalisieren.
Wir hatten eigentlich die Hoffnung, dass die Verträge mit der EU zu fortschrittlicheren Ergebnissen führen würden als NAFTA. Aber das hat sich nicht bewahrheitet. Die Europäische Union hat intern für sich bestimmte Regeln aufgestellt, die allerdings nach außen überhaupt nicht gelten. Was schließlich umgesetzt wurde, war eher noch schlimmer als das, was mit den USA im NAFTA-Abkommen ausgehandelt werden konnte.

In welcher Hinsicht noch schlimmer?

Der Vertrag sei fortschrittlicher, heißt es, da er sich als Globalabkommen darstelle, das aus drei großen Teilen besteht: dem Freihandelsabkommen, einer Demokratieklausel und einem Kooperationsteil, der sich die politische Zusammenarbeit auf die Fahnen schreibt. Konkret umsetzbar ist einzig und allein der Freihandelsteil. Der politische Kooperationsteil enthält lediglich thematische Skizzen von Bereichen, in denen vielleicht später mal ein Kooperationsvertrag unterzeichnet werden könnte. Außerdem findet politischer Dialog lediglich zwischen den Regierungen statt. Es gibt keinen Austausch zwischen den Legislativen und erst recht nicht zwischen den Zivilgesellschaften beider Vertragspartner. Man hat durch all das versucht, sich ein anderes Image zu geben als NAFTA, also dass Europa eben viel gründlicher und umfassender arbeite. Aber das ist letztendlich nur Makulatur.
Der Vertragsteil, der den Freihandel betrifft, ist dem NAFTA in vielen Punkten sehr ähnlich, aber an einigen Stellen weitaus schwammiger formuliert. Diese Mehrdeutigkeit kommt letztendlich dem stärkeren Verhandlungspartner zu Gute.

Die Demokratieklausel ist eine Besonderheit des Abkommens zwischen der EU und Mexiko. Was besagt diese Klausel und was hat sie für Auswirkungen?

Diese Demokratieklausel ist eine hübsche Prinzipienerklärung, ohne jeglichen praktischen Effekt. Die Klausel bildet den Artikel eins des Abkommens, der aber überhaupt keine Formen zur Umsetzung festlegt. Letztendlich sind das einfach hohle Worte, die einem bestimmten Bild dienen, das die EU nach außen hin abgeben will. In Mexiko wird die Forderung erhoben, diese Klausel in eine wirkliche Menschenrechtsklausel umzuarbeiten, die praktisch wirken kann und vor allen Dingen ein Vorgehen festlegt, wie diese Wirkungen erzielt werden können.

Wie könnte die derzeit leere Demokratieklausel gefüllt werden?

Es gab einen Vorschlag zur Ausweitung der Demokratieklausel, der sowohl im EU-Parlament als auch in Mexiko besprochen wurde. Es ging darum, Formen des Drucks zu entwickeln, die weniger auf Strafmechanismen basieren, als auf Anreize. Das heißt, dass die Unternehmen begünstigt werden, die mehr Menschenrechte, soziale Rechte, Arbeitsrechte, Umweltschutz und so weiter verwirklichen. Des weiteren gibt es den Vorschlag ein Freihandels-Observatorium einzurichten, das ständig die aktuelle Demokratie- und Menschenrechtslage in der EU und in Mexiko beobachtet und bewertet.
Das Problem ist natürlich nicht eindimensional. Nicht nur Europa muss darauf achten, dass in Mexiko die Menschenrechte eingehalten werden. Sondern auch die Menschenrechtsverletzungen, die in Europa passieren, müssen Teil der Beobachtung sein. Der Dialog, den bislang nur die Regierungen zwischen den betreffenden Ländern führen, muss auf die Parlamente und auch auf die Zivilgesellschaften ausgeweitet werden. Das könnte dann zu einem Übereinkommen in Sachen Menschenrechte führen, der die Demokratieklausel mit Inhalt füllt und stärkt.
Die Kontrolle durch die Zivilgesellschaften ist sehr wichtig. Wenn alles nur in den Händen der Politiker liegt, gibt es keine positiven Ergebnisse. Der Dialog zwischen der deutschen und der mexikanischen Zivilgesellschaft existiert beispielsweise schon länger, aber eben auf einer selbstorganisierten Basis. Und bislang ist er offiziell in keiner Weise anerkannt worden. Vorschläge gibt es inzwischen eine ganze Reihe, die auch schon in offiziellen Kontexten vorgestellt worden sind und da muss etwas draus gemacht werden.

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