Jugend | Nummer 303/304 - Sept./Okt. 1999

Der gewalttätige Däumling

Lorena Cuerno y Los del Bajo Mundo antworten mit Rockmusik und Kulturveranstaltungen auf die Gewalt der Jugendbanden

Die Projekte „Rock auf der Straße“ und „Kulturfestivals in öffentlichen Parks“ versuchen, den salvadorianischen Jugendlichen Alternativen zur alltäglichen Gewalt zu bieten. Der folgende Bericht von Gerardo Cotto, selbst Gitarrist von Los del Bajo Mundo – die aus der Unterwelt –, beschreibt den Alltag eines Projekts für und mit Jugendlichen.

Gerardo Cotto

Die Welt dreht ihre Runden, darin besteht kein Zweifel. Und sie dreht ihre Runden nicht nur als bläulicher Ball, sondern als lebendige, als soziale Welt. Sie dreht sich um sich selbst und sucht, wonach auch immer. Innerhalb dieser Welt existieren weitere Welten und eine davon, klein, kompliziert und widersprüchlich, heißt El Salvador: Das kleinste Land Zentralamerikas und eines der gewalttätigsten der ganzen Welt. In dieser kleinen und gewalttätigen Welt, die Gabriela Mistral den „Däumling Amerikas“ nannte, sterben tagtäglich Dutzende von Menschen – Opfer von Gewalt, Entführungen, Racheakten. Die Gefängnisse sind übervoll mit Gefangenen; Tausende von Anzeigen wegen sexuellen, emotionalen und psychologischen Mißbrauchs harren ihrer Bearbeitung.

Rock auf der Straße

In diese kleine Welt der Gewalt wurden wir geboren: Lorena Cuerno y los del Bajo Mundo. Unsere Band hat zur Zeit vier Mitglieder: Lorena singt, Juan Cruz spielt Bass, Octavio Salman Schlagzeug und ich, Gerardo Cotto, Gitarre. Jeden Morgen ziehen wir los in den Rauch und die Hitze des Asphalts, um in den Straßen der Elendsviertel Rockmusik zu machen, wo die Gewalt so alltäglich ist wie das Atmen. Warum? Um gegen die Gewalt anzukämpfen.
Unser Projekt heißt „Rock auf der Straße“, und unser Ziel sind eben jene Jugendliche aus den maras, die sich tagtäglich in den Straßen San Salvadors an den Kragen gehen. Wir machen in den ärmsten Vierteln des Landes und in Gefängnissen Musik, um die Jugendlichen dazu zu bringen, ihre Energie und Lernbereitschaft in künstlerische Tätigkeiten zu investieren, anstatt sie in ausweglosen Kriegen zu verpulvern.
Den Erlös aus den Konzerten steuern wir dem Bau von populären Kulturzentren bei, wo dann künstlerische und sportliche Aktivitäten angeboten werden. Das Geld reicht bei weitem nicht aus, und so veranstalten wir häufig mehrere Konzerte an verschiedenen Tagen. Es liegt dann bei der Gemeinde, mit Arbeit, Geld und Anstrengung zum Aufbau des Kulturzentrums beizutragen.
Mehrere Male mußten wir vor sechs oder sieben verfeindeten maras spielen, wobei die Gewalt jederzeit hätte ausbrechen können. Aber Lorena gelang es stets, die Jugendlichen zu beruhigen und sie davon zu überzeugen, daß es möglich ist, ein Rockkonzert gemeinsam zu hören und dann in das eigene Territorium zurückzukehren, ohne Probleme, ohne Tote und Verletzte.
Lorena veranstaltet außerdem Literaturworkshops in den Gefängnissen, um die Gefangenen zum Lesen und Schreiben zu bringen, damit andere Lebensformen kennenlernen. Lebensformen, von denen sie sich nicht einmal vorstellen können, daß sie überhaupt existieren: wie wäre es, durch die Straßen zu gehen, ohne die Angst, gleich rücklings von dem Mitglied einer verfeindeten Gang ermordet zu werden.

Parkfestivals

Mittlerweile haben einige Jugendliche aus den maras beschlossen, sich aus der Gewalt zurückzuziehen und in Fabriken, Werkstätten oder Maquillas zu arbeiten. Manche haben sogar ihre eigene Rock- oder Rapgruppe gegründet. Mit ihren Texten verfolgen sie meist das Ziel, den Jugendlichen bewußtzumachen, daß es noch andere Möglichkeiten gibt, das Leben zu leben und daß Veränderungen möglich sind.
Unsere „Kulturfestivals im Park“ veranstalten wir vor allem für Menschen, die es sich sonst nicht leisten können, an kulturellen Ereignissen teilzunehmen. Die Festivals dauern einen ganzen Nachmittag an. Ausstellungsgalerien mit Bildern, Skulpturen und Kunsthandwerk werden aufgebaut, in deren Mitte eine improvisierte Bühne steht: dort tragen Theatergruppen ihre Stücke vor, es werden Gedichte vorgelesen und Musik gespielt, von Salsa bis Heavy Metal. Das Publikum folgt dem Treiben regungslos: keine Gesten, kein Applaus, niemand geht. Die Feste laufen friedlich ab, ihre Aggressionen können die Jugendlichen hier beim Tanzen abreagieren.
Für die Stadtverwaltungen sind Rockmusik und populäre Kunst nur das Hobby einiger langhaariger Verrückter, die man mit Unterhaltung versorgt, damit sie keinen Streß machen und nicht gewalttätig werden. Auch die salvadorianische Regierung hat keine Ahnung davon, zu welchen künstlerischen Leistungen ihre Landsleute fähig sind. „Rock auf der Straße“ und die Parkfestivals können nur Dank ausländischer Hilfe verwirklicht werden.
Wir, Lorena Cuerno und die aus der Unterwelt, sind der Meinung, daß es nichts Schlimmeres gibt, als stillzuhalten und diese Welt einfach nur beschissen zu finden, sitzen zu bleiben und zu warten, bis sich die Dinge von selbst ändern.
Unsere Arbeit ist langsam, das ist uns bewußt. Jugendliche von der Gewalt abzubringen, die seit 15 oder 20 Jahren Teil von ihnen ist, ist kein Kinderspiel. Aber das rechtfertigt nicht das Nichtstun. Die physische und die ökonomische Gewalt machen aus El Salvador langsam aber sicher eine Irrenanstalt, denn El Salvador, ebenso wie der Rest der Welt, dreht sich um sich selbst und sucht, wonach auch immer.

Übersetzung: Markus Müller

Mehr Informationen über Lorena Cuerno y Los del Bajo Mundo gibt es auf der exzellenten Website: www.angelfire.com/ok/bajomundo

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