Ecuador | Nummer 343 - Januar 2003

Der Ingenieur seiner Politik

Lucio Gutiérrez ruft nach seinem Wahlsieg zum nationalen Dialog auf

Mit Pragmatismus will der frisch gewählte Präsident Ecuadors, Lucio Gutiérrez, die Probleme des bankrotten und verarmten Landes angehen. Doch schon seine Suche nach einem Kabinett macht erste Grabenkämpfe deutlich. Die Ausrichtung zu einer Politik der Mitte droht seine linken Unterstützer zu vergraulen.

Tommy Ramm

Nennen sie mich Ingenieur. Oder einfach Lucio”. Als die letzten Auszählungen in der Nacht des 24. November den ehemaligen Armeeoberst Lucio Gutiérrez mit 54,7 Prozent der Stimmen bequem vor seinem Herausforderer Álvaro Noboa sahen, stellte sich der Gewinner den Journalisten. Siegesbewusst mit Victory-Zeichen, aber friedfertig. Er wolle nicht mehr Oberst genannt werden, schließlich sei er jetzt Zivilist mit Ingenieurs-Ausbildung. Und gewählter Präsident. Der 45-jährige Gutiérrez wird am 15. Januar die Amtsgeschäfte des kleinen südamerikanischen Landes übernehmen. Den Ruf des rebellierenden Militärs, der noch im Jahre 2000 den Präsidenten Mahuad aus dem Amt fegte, will er um alles in der Welt los werden.

Glückwünsche vom US-Präsidenten

Hatte Gutiérrez noch während der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen im Oktober heftig gegen die US-Politik in der Hemisphäre gewettert, brachte ihm eine fünfwöchige Metamorphose herzliche Glückwünsche des US-Präsidenten George Bush ein. Telefonisch übermittelte dieser zwei Tage nach dem Wahlsieg seine Grüsse und die Hoffnung, Gutiérrez demnächst im Weißen Haus empfangen zu dürfen.
Gutiérrez weiß, warum er seine alte Armeeuniform aus dem Wahlkampf schnellstens im Kleiderschrank verschwinden ließ und nun stattdessen einen maßgeschneiderten Anzug trägt. Er kann sich keine Konfrontation erlauben, schon gar nicht mit den Vereingten Staaten. Ausstehende Kredite entscheiden über das Wohlergehen des wirtschaftlich darnieder liegenden Landes. Und diese gibt es nur mit Einwilligung der USA, die die Finanzpolitik bei Weltbank und IWF bestimmen. Die viel kritisierte US-Militärbasis Manta an der Pazifikküste Ecuadors, deren Vertrag Gutiérrez mehrfach angezweifelt hatte, soll bestehen bleiben.
Auch den Antidrogeneinsätzen an der Grenzregion, die regelmäßig die ecuadorianische Bevölkerung in Mitleidenschaft ziehen, stimmte er nach seinem Wahlsieg zähneknirschend zu. Sein Kleiderwechsel steht sinnbildlich für den schnellen Wandel seiner Rhetorik. Hatte ihn sein Gegner in der Stichwahl noch einen „gefährlichen Kommunisten“ genannt, läutete Gutiérrez eine Politik des Konsens ein. „Pragmatisch“ nennt er diese, und sie soll „das Erbe“ des Landes aus Verschuldung und tiefer Armut aufarbeiten.

Mit Pragmatismus zum nationalen Dialog

Sofort nach seinem Amtsantritt will er einen nationalen Dialog ins Leben rufen, der der zukünftigen Regierbarkeit Gewähr leisten soll. Denn er kann auf keine Mehrheit im Parlament setzen, wenn er – wie versprochen – keine VertreterInnen der traditionellen Parteien ins Kabinett nimmt. Seine Bewegung „Patriotische Gesellschaft 21. Januar” hat nur zwei direkte Abgeordnete. Zusammen mit der indigenen Bewegung Pachakutik und der Linkspartei MPD (Demokratische Volksbewegung) kann sich Gutiérrez nur auf 14 Sitze von insgesamt 100 verlassen. Zu wenig, um gegen das Bollwerk der verfilzten Traditionsparteien linke Politik zu betreiben. So sollen Partei und Institutionen übergreifende Treffen im Januar zwischen Ex-Präsidenten, ÖkonomInnen, BankerInnen und VertreterInnen sozialer Strömungen gemeinsam ein Rahmenprogramm definieren, das die Kernpunkte der Politik von Gutiérrez durchsetzbar machen soll: Kampf gegen Korruption, Armut und Unsicherheit, Definition der Außenpolitik sowie Verbesserung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Ein Programm, mit dem schon traditionelle Parteien Wahlen gewonnen haben. Gutiérrez pocht jedoch auf seine Durchsetzung. Ob er es überhaupt kann, daran bestehen bereits Zweifel.

Klaffendes Haushaltsloch

Denn schon vor der Übernahme seines Amtes suchten Gutiérrez erste Hiobsbotschaften und Konflikte heim. Nach einem Gespräch mit dem derzeit amtierenden Präsidenten Gustavo Noboa entpuppte sich das Loch in der Staatskasse als weit größer als erwartet. Gehen offizielle Zahlen von einem Defizit von 250 Millionen US-Dollar aus, schätzt Gutiérrez dieses auf 900 Millionen. Ein bankrottes Land werde er übernehmen, erklärte er einigermaßen schockiert nach dem Kassenüberschlag mit dem Präsidenten. Um das Defizit zu mindern, wendete Noboa einen Trick an. Er verkaufte in diesem Jahr Erdöl auf Vorschuss, dass jedoch erst in den kommenden Monaten geliefert wird. Das bedeutet für den neuen Präsidenten, dass er für 2003 auf weniger Einnahmen aus dem Ölgeschäft zugreifen kann. Über zwei Milliarden US-Dollar müssen im kommenden Jahr an nationale und internationale Gläubiger abgeführt werden. Der finanzielle Spielraum für eine Politik der Armutsbekämpfung ist gleich Null, will Gutiérrez den Schuldenzahlungen ohne Verzögerung nachkommen.
Zu einer ersten Kraftprobe mit der Indígena-Partei Pachakutik, die politisch vom starken indigenen Dachverband CONAIE dominiert wird, kam es Anfang Dezember. Der so pragmatische Gutiérrez favorisierte bei der Aushandlung der 15 Ministerämter eine breit gefächerte Zusammenstellung. So sollte etwa das Wirtschaftsministerium von einem Industriellen besetzt werden, während die sozialen Ämter VertreterInnen sozialer Bewegungen zugedacht waren. „Wir sind nicht Teil der Regierung, wir sind die Regierung”, ließ der Gründer und Chef von Pachakutik Miguel Lluco den gewählten Präsidenten erbost wissen.

Spaltung verhindert

Hatte Gutiérrez seinen Wahlsieg besonders der Koalition mit Pachakutik zu verdanken, machte nur eine Woche später eine inoffizielle Kabinettsliste die Runde, die für die Indigenenbewegung ein Schlag ins Gesicht gewesen sein muss. Demnach waren nur die Posten des Tourismus- und Umweltministeriums für die Indígenas im Gespräch. „Wenn unsere Partizipation auf zwei Ministerien reduziert wird, ist es besser, dass wir uns aus dem Bündnis zurückziehen”, so die indigene Abgeordnete Nina Pacari. Pachakutik forderte mindestens vier Ministerien und Einfluss in allen öffentlichen Bereichen, während Gu-tiérrez in Interviews bekräftigte, sich nicht erpressen zu lassen. Das Gerücht einer Spaltung machte die Runde. In der zweiten Dezemberwoche unterzeichneten beide Bewegungen formell eine Allianz, um dem Konflikt zunächst ein Ende zu setzen. Die Ministerämter sollen ausgewogen verteilt werden, von Differenzen war offiziell keine Spur mehr.

Gezerre um Gutiérrez

Diese ersten Grabenkämpfe machen bereits deutlich, womit Gutiérrez in den nächsten Monaten zu kämpfen hat. Laut Analysten warten die im Parlament dominierenden Parteien aus Christdemokraten (PSC), der sozialdemokratischen Partei ID und der Partei des geschlagenen Gegenkandidaten Alvaro Noboa, PRIAN (Institutionelle Erneuerungspartei Nationale Aktion), nur darauf, die Regierung von Gutiérrez und geplante Reformen im Justizbereich zur Korruptionsbekämpfung zu blockieren. Schon bei der Ausarbeitung des politischen Rahmenprogramms in dem angekündigten Dialog könnten die Mitte-Rechts-Parteien so sehr Ablauf und Inhalte vorschreiben, dass Pachakutik und die teils linksradikalen Bewegungen dem Präsidenten die Gefolgschaft aufkündigen.
Denn der Konsens hat seine Grenzen. Gutiérrez drohen Proteste von der Straße, sollte sich seine Politik auf eine Notverwaltung des Landes beschränken. Geht er radikale Reformen an, macht ihm das Parlament einen Strich durch die Rechnung. Eine Zwickmühle, wie es Gutiérrez selbst milde ausdrückte. Das Gezerre um seine realpolitische Positionierung als Präsident hat erst begonnen. Trotz Rebellion vor zwei Jahren ist sein politisches Blatt kaum beschrieben. Der gelernte Ingenieur Gutiérrez wird sich erst als Ingenieur seiner eigenen Politik beweisen müssen.

Tommy Ramm

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