Indigene | Kolumbien | Nummer 563 – Mai 2021

DER KAMPF UM HARMONIE

Der indigene Rat CRIC wird 50. Zeit für ein Porträt einer der größten indigenen Bewegungen Lateinamerikas – Teil 1

Während die ganze Welt kapitalistisch scheint, bauen Indigene im Südwesten Kolumbiens eine Alternative abseits des Staates auf. Wie schaffen sie das? Ein Besuch vor Ort.

Von Fabian Grieger

50 Jahre CRIC Mehr als 20.000 Menschen kommen zur Jubiläumsveranstaltung zusammen (Fotos: Katherine Rodriguez)

Dort, wo der Dorfweg von El Pital endet, ist das Eingangstor einer riesigen Finca. Über mehrere Hügel erstrecken sich in diesen Tagen kleine und große Zelte mit schwarzem Plastikdach gegen den Regen. Menschen schlendern über die schlammigen Wege dazwischen, die meisten in Richtung des größten Zeltes, das auf dem höchsten Hügel gelegen ist. Dort steht auch eine riesige Bühne mit Veranstaltungstechnik. Auf den ersten Blick sieht es aus wie auf einem Musikfestival. Hier, im kolumbianischen Departement Cauca, wo der bewaffnete Konflikt derzeit so viele Opfer fordert wie in keinem anderen Teil des Landes.

Auf der Bühne steht ein Mann mit braun-beigem Poncho und einem Strohhut, der mit grünem und rotem Stoff umkleidet ist, am Mikrofon. Jetzt ruft er aus voller Kehle in die Menge: „Wo ist das Volk der Yanacona?“ „Hier“ schreit es ihm von hinten rechts im Publikum entgegen. „Wo ist das Volk der Nisak?“ „Hier“ kommt das Echo etwas leiser von der linken Seite. „Und wo ist das große Volk der Nasa?“ Jetzt wird es richtig laut: „Hier!“

Dann tritt eine Band auf die Bühne. Als die Musiker mit grün-rotem Halstuch und Panflöte loslegen, klingt das ein bisschen nach andinem Schlager. Doch der Text hat es in sich: „Wir leisten weiter Widerstand gegen die Invasion und verteidigen unsere Rechte im Kampf gegen die Unterdrückung“, singen sie auf Spanisch.

Es ist die Veranstaltung zum 50-jährigen Jubiläum des Regionalen Indigenen Rates im Cauca, in dem sich die indigenen Gemeinden der Region organisieren, landesweit besser bekannt unter seinem Kürzel CRIC. Dazu sind mehr als 20.000 Menschen gekommen, um die wohl stärkste indigene Autonomiebewegung Südamerikas zu feiern. Diese umfasst unter dem Dach des CRIC zehn indigene Gemeinschaften, unter denen die prägendste die der Nasa sind, die seit 500 Jahren im Südwesten Kolumbiens Widerstand gegen die Kolonialisierung leisten. Damals wollten die spanischen Eroberer den Indigenen der Region Steuern aufzwingen und ermordeten einen Kaziken (höchstrangige indigene Adlige oder Anführer*innen, Anm. d. Red.), der sich widersetzte. Daraufhin führte die Kazikin Gaitana 1539 eine erfolgreiche Revolte gegen die Kolonisatoren an, die den Indigenen ein knappes Jahrhundert Freiheit verschaffte, bevor die Rache der Spanier sie fast vollständig ausrottete. Die Nasa sehen sich heute als Erben der 600 Überlebenden.

Es ist ein Gänsehautmoment, als der Moderator auf der Bühne, der gerade noch die Party animierte, eine Schweigeminute für „die vielen Toten und Ahnen, ohne die wir heute nicht hier wären“ einleitet.

Auch nach der Unabhängigkeit Kolumbiens Anfang des 19. Jahrhunderts wurde den Nasa weiter der Krieg aufgezwungen. Sie lebten in der Region mit der fruchtbarsten Erde Kolumbiens, das die Begierde der Großgrundbesitzer weckte, die die Nasa gewaltsam immer weiter zurück in die Berge in steiles und wenig produktives Land drängten.

Die jüngste Etappe des Widerstands leitete die Gründung des CRIC 1971 ein. Es war die Zeit, in der die kolumbianische Regierung den letzten ernsthaften Versuch einer Agrarreform in einem der Staaten mit der ungerechtesten Landverteilung der Welt ins Leere laufen ließ. Es war aber auch die Zeit, in der die Befreiungstheologie den Samen des Widerstands der Ausgebeuteten säte. So schlossen sich die Indigenen der Region zusammen, um für ihr Recht auf Land und Selbstbestimmung zu streiten. Sie besetzten Land, das einst ihnen gehört hatte, und erkämpften so Hektar für Hektar, stets unter großer Repression, die den Schmerz über ermordete Familienmitglieder dem Gedächtnis der indigenen Gemeinden eingebrannt hat. Dabei verfolgte die Bewegung verschiedene Strategien, um Land und damit die Möglichkeit der Versorgung zurückzugewinnen: besetzen, kaufen, juristisch erstreiten. Letzteres funktionierte besonders gut, seit in der Verfassung von 1991 umfassende indigene Rechte festgeschrieben wurden. So folgte der Legitimität auch die Legalität und die formale Anerkennung indigener Selbstverwaltung.

Das eigene Land ist dabei für die Nasa viel mehr als nur Anbaufläche. Das Leben beginnt mit der Verbindung zum Territorium, mit den Tieren und Pflanzen, mit der gesamten Umwelt, mit der zusammengelebt wird. Die Nasa nennen das: Harmonie. Ein allumfassender Begriff, der das Leben zwischen den Menschen und mit der Natur beschreibt. Den Weg dorthin weisen die Ältesten und Ahnen der Gemeinschaft, die mayores genannt werden. Der westliche Kapitalismus hingegen mit seinem Raubbau an Natur und Mensch erzeugt Disharmonie in den Beziehungen; das erklärt mayor Julio, wie er liebevoll genannt wird. Julio Cesar Caldón, so sein vollständiger Name, trägt eine Brille mit dicken Gläsern und dunklem Rand; er hat ein auffallend rundes Gesicht. Vor dem Interview pustet er Tabakrauch in die Luft und gen Erde und wiederholt das mehrfach. Er sei in Verbindung mit den Wolken getreten, um sich über den anstehenden Regen auszutauschen, erklärt er und im Gespräch wird deutlich, wie die Nasa die Welt denken. Der 53-Jährige ist dabei einer jener hochgeschätzten Älteren der Bewegung, die wesentliche Weichen des Autonomieprozesses mitgeprägt haben. 20 Jahre lang war er „Gouverneur“, gewählte Führungspersönlichkeit seines Cabildos, wie die Indigenen ihren Gemeinderat nennen. Über den Cabildos steht nur die Asamblea, die Vollversammlung, in der die wesentlichen Entscheidungen von allen Gemeindemitgliedern getroffen werden. Ein eigenes Regierungssystem erfordert auch ein eigenes Bildungssystem und so half mayor Julio dabei mit, die erste staatlich anerkannte indigene Universität Lateinamerikas aufzubauen: die UAIIN.

Es ist die Antwort auf ein Unbehagen: „Das staatliche Bildungssystem wurde uns aufgezwungen und wir haben 1.000 Dinge dadurch verloren. Wenn ich heute an einer Schule als Lehrer Koka kaue, dann werde ich schief angesehen. Außerdem wurden wir genötigt, Spanisch zu lernen und unsere eigenen Sprachen zu vergessen.“

Mayor Julios Stimme senkt sich etwas: „Ich spreche zum Beispiel keine unserer Sprachen und nur schlechtes Spanisch, weil es mich nicht ausdrückt in meiner Essenz, sondern ich das Gefühl habe, in einer fremden Sprache zu sprechen.“

Aber die Kritik geht noch tiefer: „Die staatliche Form von Bildung basiert auf Lehrplänen, die von oben nach unten funktionieren: vorgegebene Bücher lesen, Hefte führen, Tabellen ausfüllen“, erklärt Julio. „Es gab nie eine Schule, die wirklich anders funktionierte. Die Klassenzimmer hatten immer vier rechtwinklige Wände und eine Tür. Es sind Orte, die einen einsperren und nicht darüber hinaus denken lassen.“ Menschen Wege zu versperren und ihnen eine Richtung vorzugeben, erzeuge Disharmonie.

„Machen statt kopieren.“

Die Schulen des CRIC und die seit 2018 staatlich anerkannte Universität wollen es jetzt anders machen. Es gibt keine Lehrenden, sondern alle Beteiligten sind dinamizadores, etwa „Impulsgebende“. Die Universität hat keinen festen Standort, sondert wandert in die verschiedenen Reservate, wo der Unterricht stattfindet. „Wir haben immer gesagt: Die Universität sollte zu den Leuten in die Dörfer gehen und nicht anders herum, denn unser Ziel ist nicht, dass die jungen Leute ihre Dörfer verlassen, sondern sie darin zu bestärken, dass sie dort bleiben, während die anderen Universitäten die jungen Menschen in die Stadt locken, um dort dem Kapitalismus zu dienen.“

Die Klassenräume in den Dörfern haben nur ein Dach, aber keine Wände: „So kann die Bildung hinein und hinaus gehen.“ Überhaupt findet das Lernen aber eher unterwegs statt als an einem festen Ort. „Wir lernen bei der Gemeinschaftsarbeit oder bei jeder Begegnung.“ In der Schule wird Mathematik anhand des Webens von Stoffen gelehrt. Bei Reisen sollen die Studierenden die verschiedenen Reservate kennenlernen und so eine Einheit formen. Mayor Julio fasst das so zusammen: „Sprechen und machen statt kopieren.“

Aber: „Wir bilden uns zuerst zu 200 Prozent mit unserer eigenen Bildung und dann in der westlichen Form. Erst lernen wir, wo wir selbst herkommen und dann, was es außerhalb noch gibt. Aber das darf uns nicht von unserem eigenen Weg abbringen.“ So umfasst die Universität zehn Studienrichtungen, die hier „Gewebe“ genannt werden, zum Beispiel: Wiederbelebung der Mutter Erde, Indigene Justiz oder Buen Vivir („Gutes Leben“). Letzteres ist das Äquivalent zu Politikwissenschaft. „Dabei steht im Zentrum die Frage: Wie erträumen wir uns unser Leben und Land? Wie können wir in Kontakt mit Erde, Wasser und Sonne leben?“, erklärt Julio.

Der CRIC hat darauf in den letzten Jahren einige Antworten gefunden. So wurde eine eigene Krankenkasse gegründet, die mittlerweile staatlich so subventioniert ist, dass sie allen Indigenen kostenlose schulmedizinische Versorgung ebenso wie traditionelle Behandlungsmethoden und Rituale ermöglicht. Dazu kommt ein eigenes Rechtssystem: Mitglieder der Gemeinden, die gegen die Regeln des Zusammenlebens verstoßen, werden nicht vor einen Richter geführt oder gar ins Gefängnis gesteckt. Stattdessen berät die gesamte Gemeinschaft, welche Maßnahmen eine Veränderung des Straffälligen ermöglichen. Dabei leisten sie Gemeinschaftsarbeit oder erhalten in Rehabilitationszentren spirituelle Unterstützung.

Zunehmend versucht der CRIC auch auf eigenen wirtschaftlichen Beinen zu stehen. Manche indigene Gemeinden haben nach Jahrhunderten von Vertreibung nicht mehr genug fruchtbares Land, um sich selbst mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen. Außerdem schützen die Menschen im CRIC Wälder und Wasserläufe, sodass 60 Prozent ihres Territoriums Naturschutzgebiet sind. „Ökonomisch betrachtet ist das aber eine Herausforderung“, erklärt Aparicio Rios, Spezialist für indigene Ökonomie aus dem Reservat Paniquita. Seine Idee: „Wir müssen uns in dieser Welt mit anderen sozialen Bewegungen organisieren, um eine eigene Ökonomie aufzubauen.“ So organisierte er vor einigen Jahren mit der Zentralen Kooperative des CRIC den Import von 35 Tonnen Salz von den indigenen Wayuu im Nordosten des Landes um so einen solidarischen Handel zwischen indigenen Völkern aufzubauen. Mittlerweile sei das Projekt aber eingeschlafen. Alle zwei Jahre wechseln aus demokratischen Gründen alle Funktionsträger*innen im CRIC. „Aus administrativer Sicht ist das nicht gut. Alle zwei Jahre neue Leute auszubilden, die dann effizient arbeiten, ist schwierig“, bemängelt Rios mit Blick auf sein Ziel: „In dieser Welt ist die Wirtschaft der entscheidende Machtfaktor, damit wir dem kolumbianischen Staat wirklich auf Augenhöhe entgegentreten können.“ Noch hängen die Reservate am Tropf staatlicher Finanzierung oder ausländischer Fördermittel, welche die formalisierten Organisationen und Verbände akquirieren.

Wie es in Zukunft vielleicht einmal anders funktionieren könnte, zeigen die Stände unterhalb des großen Bühnenzeltes. Hier bewerben Kooperativen aus den indigenen Gemeinden ihre eigenen Produkte: Wein aus der Andenblaubeere, Öl aus der Inka-Erdnuss Sacha Inchi und Koka-Bier.

Während Neugierige hier unten die Produkte begutachten, schallt von der Hauptbühne der Lautsprecher über das Festgelände: „Compañeros, kauft lieber unsere eigenen Getränke als Coca-Cola.“ Es folgen weitere Hinweise für das Gemeinschaftsleben: „Compañeros, gestern Abend haben Leute mit Schuhen auf den Stühlen getanzt und jetzt sind die voll mit Schlamm.“ oder „Compañeros, der Chirrincho (Schnaps) ist lecker, aber wer nachts zu viel trinkt, verpasst morgens die politischen Diskussionen.“ Es wird kollektiv gedacht, nicht individuell. Dazu passend: Kaum jemand läuft unbegleitet über die Veranstaltungsfinca und auch alle Zelte sind in großen Gruppen mit Gemeinschaftsküchen organisiert.

Doch nicht alles ist harmonisch innerhalb der Gemeinschaft, darüber spricht Luciana Velazco, Regionalkoordinatorin des Programms für Frauen des CRIC. „Wir machen seit 26 Jahren Arbeit gegen patriarchale Gewalt, aber innerhalb der Organisation sind wir kaum sichtbar“, kritisiert sie. „Die Mehrheit unserer Frauen leiden unter psychischer und physischer Gewalt. Das wissen wir schon sehr lange. Aber wenn Frauen Vorfälle melden, hören ihnen die Autoritäten kaum zu.“ Deswegen organisieren Luciana und ihre Mitstreiterinnen Bildungsangebote für Frauen, um patriarchale Gewalt als solche zu erkennen und melden zu können. Doch es geht um mehr: „Dass andere wissen, dass ich misshandelt werde, erzeugt oft Scham. Aber in unseren Treffen schaffen wir einen vertrauensvollen Raum, in dem die Frauen von ihren Erfahrungen berichten“, erklärt Luciana. Eines der zentralen Probleme sei das fehlende Verständnis unter den gewählten Autoritäten, von denen ein Großteil Männer sind. Hinzu kommt: „Wir sind im CRIC nur drei Regionalkoordinatorinnen und das reicht einfach nicht aus, um mit allen Autoritäten ins Gespräch zu kommen.“

So wäre auch eine Weiterentwicklung des autonomen Justizsystems notwendig, „denn viele der Autoritäten sind der Meinung, dass häusliche Gewalt ein Problem ist, dass im Privaten gelöst werden muss und nicht von der gesamten Gesellschaft. Es gibt auch nicht wirklich eine Strategie für die Unterstützung von betroffenen Frauen, zum Beispiel durch psychologische Hilfe.“ Dazu komme es nach einer Anzeige oft zu einer Reviktimisierung durch den Ehemann, der Rache an seiner Frau übt. […]


Mayora Blanca Eine der ältesten und weiterhin aktiven CRIC-Mitglieder

Mayora Blanca Andrade: Die alte Radikale

Die mayora Blanca kommt nur langsam voran beim Gang durch die Menge. Ständig fragen sie Menschen, ob sie ein Foto mit ihr machen können. Dabei fällt auf: Es sind vor allem Jugendliche, die ein Bild mit einer der Gründer*innen des CRIC ergattern möchten. Die mayora Blanca nickt dann und lächelt, sie hat eine sehr zarte und liebevolle Art. Aber sie nimmt kein Blatt vor den Mund wenn es darum geht, die Jugend zu kritisieren: „Manchmal denke ich heute darüber nach, wie es damals war und dann denke ich: Heute ist der Kampf viel einfacher geworden. Viele Menschen kommen, um das bereits fertig gekochte Essen zu verspeisen.“ Sie meint die Früchte des jahrelangen schwierigen Kampfes der Vorgängergenerationen. Dank ihnen verfügen die Gemeinden heute über mehr Land und Ressourcen.

Die mayora Blanca nahm nach der Ermordung ihres Ehemanns 1982 eine Führungsposition im CRIC ein, während sie sich weiter um ihre drei Kinder kümmerte. „Wir haben nichts einfach so erreicht. Alles war ein Kampf und wir mussten laut sagen: Das sind unsere Rechte!“ Wer im CRIC war, hatte es schwer. Die Stigmatisierung war groß, berichtet die mayora. „Heute wollen alle Anführer des CRIC sein. Die Leute haben ihre Technik und ihre Autos. Sie laufen nicht mehr, deswegen sind die Anführer von heute dick geworden.“ Dabei ist klar, dass die mayora Blanca mit jedem Satz eine tiefere Bedeutung als das Profane ausspricht. Noch etwas passt ihr nicht von der aktuellen Linie mancher CRIC-Anführer*innen: „Früher hatten wir eine starke Abneigung gegen Verhandlungen mit dem Staat. Ich glaube, dass wir hier an Kraft verlieren. Ich hab immer gesagt: Wir als Indigene sind keine Bettler. Wir brauchen keine Legalität, weil wir Legitimität haben. Sie müssen uns zurückgeben, was sie uns über die vielen Jahre gestohlen haben, dafür braucht es keine Verhandlungen.“

Was sie sich für die nächsten 50 Jahre CRIC wünscht? „Manchmal denke ich: Warum sollte Kolumbien nicht auch mal einen indigenen Präsidenten haben so wie Bolivien?“

Fortsetzung aus unserer Juni-Ausgabe hier

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