Nummer 289/290 - Juli/August 1998 | Sport

Der Klassiker im Fußball Uruguays

Bei Peñarol – Nacional wird das Stadion zum Mikrokosmos

Es gibt sie überall in Südamerika. Die sogenannten clásicos. Damit werden die Spiele der Spiele bezeichnet, das Aufeinandertreffen der traditionsreichsten und populärsten Klubs der jeweiligen Länder. Mit dem Klassiker Uruguays, Peñarol gegen Nacional beginnen die LN eine Reihe, die mit dem brasilianischen Fla-Flu und dem argentinischen Boca gegen River ihre Fortsetzung finden wird.

Susanne Schindler

Estadio Centenario, Montevideo, Uruguay, an einem Samstag im November 1997. Man nennt es den clásico: das Topereignis im uruguayischen Fußball. Es spielen Peñarol und Nacional, die beiden großen Vereine, die seit Jahrzehnten die Ligaspitze stellen und fast ausnahmslos Jahr um Jahr wieder um den Meistertitel kämpfen. Seit Gründung der Liga im Jahre 1900 wurde die Meisterschaft nur fünfzehnmal von einem anderen Verein gewonnen. Auch auf kontinentaler Ebene zählen die Hauptstadtklubs zur Elite und stehen an zweiter und dritter Stelle bei der Gewinnerliste der Copa Libertadores, der südamerikanischen Vereinsmeisterschaft.
Der clásico verkörpert das Land, denn die drei Millionen Menschen, die hier leben, teilen sich zu gleichen Teilen in ein schwarz-gelbes und in ein rot-weiß-blaues Lager. Auch wenn man einen anderen Verein unterstützt, kommt man nicht darum herum, sich zum einen oder anderen der beiden Großen zu bekennen. Meist ist einem diese Entscheidung bei der Geburt abgenommen worden: die Familie ist das eine oder eben das andere.
Regionale Vereinszugehörigkeit gibt es in Uruguay nicht. Denn wie sich auch sonst das ganze Leben der Republik in der Hauptstadt konzentriert, so auch beim Fußball. Es gibt keine guten Vereine im interior, wo immerhin die Hälfte der Bevölkerung lebt. Die uruguayische Liga besteht einzig aus Vereinen aus Montevideo. Die beiden besten, Peñarol und Nacional, ziehen die Bevölkerung des gesamten Landes in ihren Bann. Der clásico schafft in seiner Konzentration der Fans, der hinchas, im 100.000-Plätze-Stadion Centenario einen Mikrokosmos Uruguays.
Der Ursprung des uruguayischen Fußballs geht auf die Briten zurück, die lange Jahre den Handel und die Wirtschaft des Landes — Stichwort Fleischkonserven — dominierten. So wurden Mitte des letzten Jahrhunderts die ersten Sportclubs von Briten gegründet, waren aber nur für jene offen. 1913 ging Peñarol aus dem 1891 von Briten gegründeten Central Uruguay Railways Cricket Club CURCC hervor. Die Statuten wurden ins Spanische übersetzt und die Mitgliedschaft für Uruguayer geöffnet. Der Name entstammt des im Norden von Montevideo gelegenen Stadtteils Peñarol, das damalige Zentrum der sich in britischem Eigentum befindenden Eisenbahn. Der Verein Nacional wurde 1899 gegründet, mit dem ausdrücklichen Ziel, als Gegenstück zu den elitären Britischen Clubs einen angemessenen Sportclub für Uruguayer zu bilden. Der Name macht dies deutlich genug. Aus diesen Gründungsgeschichten resultiert der ewige Streit um das decanato, der Streit, welcher Verein nun älter und damit bedeutender ist. Nacional behauptet, Peñarol gäbe es in seiner jetztigen Form erst seit 1913, Nacional aber schon seit 1899. Peñarol setzt dagegen sein Gründungsdatum auf das Jahr 1891 an.
Es ist schwierig, zu sagen, inwiefern sich diese Ursprünge in der Zusammensetzung der Anhängerschaft heute noch abzeichnen. Die Anhänger von Peñarol, sagt man, gehörten in Anbetracht der Eisenbahnergeschichte eher der arbeitenden Bevölkerung an, während die Anhänger Nacionals eher der oberen Schicht entstammten. So soll die afro-uruguayische Minderheit, überwiegend Arbeiter, ausnahmslos Peñarol unterstützen. Am ehesten sind die Ursprünge sprachlich überliefert. Die Anhänger von Nacional sind bekannt als cuelludos, was abgeleitet ist von Stehkragen, der damaligen Mode reicher Herren. Die Anhänger von Peñarol dagegen nennen sich manyas (um den Rio de la Plata übliche Schreibweise für das italienische mangia). Diesen Namen soll ein Nacional Spieler italienischer Abstammung geprägt haben, als er seinen Gegnern zurief mangia-merde, zu deutsch, die, die Scheiße fressen. Man hat die Beleidigung offensichtlich zum Kompliment gewendet.

Politik am Ball

Wo es um Klassen geht, kann Politik nicht fern sein. So sind die dirigentes der beiden großen konservativen Parteien Uruguays, die blancos und die colorados, die Uruguay seit Jahren abwechselnd regieren, jeweils auch in den Vorständen der beiden großen Vereine vertreten. Peñarols Tradition ist colorado, und die von Nacional blanco (die blancos heißen offiziell Partido Nacional, sie sind aber nicht aus dem Verein hervorgegangen). Der gegenwärtige Präsident der Republik, Sanguinetti, war Vorstandsmitglied und zeitweise Präsident von Peñarol. Sein Sohn pflegt die Tradition im Vorstand heute weiter. Batalla, Vizepräsident Uruguays, war seinerseits Präsident der Ascociación Uruguaya de Fútbol (AUF), dem Uruguayischen Fußballverband.
Der Linken wird generell eine distanzierte Haltung in bezug auf die Verbindung von Politik und Sport nachgesagt. So wird der Gang ins Stadion aus linker Sicht oft als ein Beispiel von opium de las masas dargestellt und die großen Vereine als kapitalistische Geldmaschinen. Aber was ist mit Tabare Vázquez, langjähriger Vorsitzender des linken Parteienbündnisses Frente Amplio, von 1990-94 Bürgermeister von Montevideo und heute Präsidentschaftskandidat der Linken? Seinen allgemeinen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad verdankt er seiner Präsidentschaft beim Fußballclub Progreso mit Sitz in dem traditionellen Arbeiterviertel La Teja. Vázquez war bis dahin als ausgezeichneter Arzt bekannt gewesen, was vielleicht in Fachkreisen, nicht aber in der Politik weiterhilft. So wurde Vázquez dank der Verbindung zu Fußball breiten Bevölkerungskreisen bekannt. Ist es ein Zufall, daß Progreso ausgerechnet 1989 uruguayischer Meister wurde und somit Peñarol und Nacional entthronte und im selben Jahr die Frente Amplio zum ersten Mal die Wahlen in Uruguay gewann, Vázquez zum Bürgermeister Montevideos avancierte und damit die jahrzehntelange Herrschaft der zwei großen Parteien gebrochen wurde?
Welcher der beiden großen Vereine schneidet in diesem Dauerduell besser ab? Das Spiel vom sonnigen Samstag im November gewinnt Peñarol, und auch die nächsten Meisterschaftsspiele gewinnt Peñarol. Und so wird Peñarol nicht nur uruguayischer Meister 1997, sondern gewinnt zusätzlich noch den quinquenio, denn Peñarol ist fünf Jahre in Folge Meister geworden. Ja, vielleicht ist Peñarol doch irgendwie besser, denn inzwischen hat der Verein 34 Meistertitel, Nacional bloß 25 auf seinem Konto.
Ich muß gestehen, es ist das erste Mal in meinem Leben, hier bei diesem clásico im November, daß ich mich in einem Fußballstadion befinde. Ich gestehe, Fußball ist nicht mein Ding. In Deutschland käme ich nie und nimmer auf die Idee zu einem von grölenden Fans beherrschten Fußballspiel zu gehen. Aber hier macht man es mir leicht: ganze Familien, Mate-trinkende Großväter, Anhänger der beiden Mannschaften vereinen sich in freundlicher Stimmung. Und daß Frauen nur die Hälfte des Eintrittspreises zahlen, so wie Minderjährige, freut mich ebenso. Obwohl ich unsicher bin, ob es sich dabei um Frauenförderung oder einen Ausdruck der grassierenden Lohndiskriminierung handelt.

Der verblassende Mythos

Ich bin hier, weil ich dem Mythos der Fußballnation Uruguay verfallen bin. So wie die meisten Uruguayer, denn die Größe des uruguayischen Fußballs ist nur noch ein Mythos. Peñarol und Nacional mögen zwar in Uruguay große Mannschaften sein und der clásico ein Erlebnis, doch blickt man über den Stadionrand hinaus, ist der Glanz des uruguayischen Fußballs verblichen. Der Ruhm Uruguays als Fußballnation gründet sich auf zwei olympischen Sieg, 1924 als Neulinge in Paris, vier Jahre später in Amsterdam. Noch stärker aber basiert er auf den zwei Weltmeistertiteln: 1930, bei der ersten offiziellen FIFA-Weltmeisterschaft in eben diesem Estadio Centenario errungen, und ein zweites Mal 1950 in Brasilien. Seitdem blieb Uruguay bei Weltmeisterschaften titellos. Wie schon bei der letzten WM, ist Uruguay auch in Frankreich Zuschauer, nachdem es in der Qualifikation kläglich scheiterte.
Obwohl die Erfolge schon lange zurückliegen, ist der (Fußball)-Stolz tief in der Nationalpsyche verankert. So hat UTE, der staatliche Elektrizitätskonzern, Ende letzten Jahres 1-9-3-0 als neue Kunden Service Telefonnummer auserkoren. Die Werbekampagne zur Lancierung der neuen Nummer zeigte ein altbekanntes Schwarzweißfoto des Sieges von anno 1930 mit dem Slogan: „Eine Zahl, die Du nie vergessen wirst“. Der große Wiedererkennungswert des Bildes kommt nicht aus dem Nichts. Durch die regelmäßige Ausstrahlung im Fernsehen — mindestens einmal wöchentlich wird der Sieg von 1930 in einem oder anderen Zusammenhang plaziert — hat sich die Jahreszahl 1930 eingeprägt. Um sich dieser Obsession zu stellen, organisierte 1990 die Friedrich-Ebert-Stiftung eine Tagung zum Thema Fußball und Uruguay. ¿Nunca más campeón mundial? lautet der Titel des dazu erscheinenden Buches.
Dabei sind die uruguayischen Spieler keineswegs schlecht: alleine beim italienischen Meister Juventus Turin spielen vier Uruguayer, allerdings ist nur einer Stammspieler. Vielleicht liegt es an der mangelnden Finanzkraft Uruguays, daß die guten Spieler abwandern. Und nicht nur die Spieler wandern ab: der Streit um eine Neuvergabe der TV-Übertragungsrechte, die bisher einem argentinischen Unternehmen gehörten, provoziert dieser Tage eine Krise, die schon zu Protestrücktritten im Vorstand der AUF geführt hat.
Daß man die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat und mit einer gewissen Selbstüberschätzung und gepflegtem Traditionsbewußtsein weitermacht, zeigt die blinkende Anzeige auf den diversen Internetseiten zum Thema uruguayischen Fußball: „FIFA WORLD CUP. URUGUAY 2030. Uruguay, donde todo comenzó.“ Man plant dreißig Jahre voraus, für den Traum, eine weitere Weltmeisterschaft in Uruguay nicht nur zu veranstalten, versteht sich, sondern auch zu gewinnen. So wie damals, „dort wo alles anfing“.

Wer noch nicht genug hat:
La Página del Fútbol uruguayo auf http://www.isfa.com/server/web/uruguay für die letzten Ergebnisse, Statistiken, Infos über Vereine, Meisterschaften, Spieler. La página manya, die Fanseite von Peñarol und ihrer Diaspora, auf http://www.manya.org . Die offizielle Seite von Nacional ist auf http://w3.cs.com.uy/nacional/, unter anderem mit ausführlicher Erläuterung zum décano-Streit. Aktuelle Berichterstattung auf der http://www.elsitio.com.uy, oder aber zu finden bei den zwei großen uruguayischen Tageszeitungen, http://www.diarioelpais.com/edicion/deportes.shtml und http://www.observador.com.uy.

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