Mexiko | Nummer 305 - November 1999

Der Krieg gegen das eigene Volk

Erstmals veröffentlicht: militärische Einsatzpläne gegen die 68er StudentInnenbewegung

Der Beton des Lügens, Schweigens und Verdrängens hat weitere Risse bekommen. 31 Jahre nachdem am 2. Oktober 1968 die mexikanische StudentInnenbewegung durch Armee-Einheiten zusammengeschossen wurde, sind diesbezügliche Dokumente aus dem Verteidigungsministerium veröffentlicht worden. Das im Sommer erschienene Buch Parte de guerra (Teil eines Krieges) des engagierten Journalisten Julio Scherer García und des Publizisten Carlos Monsiváis enthält Einsatzbefehle und Berichte und liefert einige wichtige Anhaltspunkte über die politische Verantwortung am Massaker.

Valentin Schönherr

Als „Teil eines Krieges“ bewerten Julio Scherer García und Carlos Monsiváis in ihrem jüngsten Buch die mexikanische Politik von 1968. Damals marschierte das Militär gegen eine großenteils friedliche studentische Protestbewegung auf – mit einer immer noch unbekannten Zahl von Todesopfern und mit schwerwiegenden Folgen für politische Oppositionsarbeit in Mexiko in den folgenden Jahrzehnten. Parte de guerra, der auf den ersten Blick etwas reißerische Titel, trifft die Sachlage nicht schlecht. Denn es kann durchaus als Krieg bezeichnet werden, was damals geschah: als Krieg gegen das Infragestellen der eigenen Machtfülle.
Das neuerschienene Buch liefert Erkenntnisse über Entscheidungen in der Armeespitze. Es enthüllt nicht die gesamte Kriegsstrategie; damit bleiben wichtige Fragen offen. Aber es liefert immerhin dokumentarische Beweise dafür, wo die Regierung den Feind sah: in den StudentInnen des eigenen Landes, angeblich angestachelt durch den Weltkommunismus, und wie sie ihn bekämpfen wollte: mit aller Härte.
Die eigentliche Brisanz des Buches liegt darin, daß militärische Akten veröffentlicht werden. Noch vor Jahresfrist mußte die parlamentarische Tlatelolco-Untersuchungskommission konstatieren, daß die Regierung Zedillo die entscheidenden Akten nicht zugänglich gemacht hat (vgl. LN 293). Auch die Herausgabe der nun vorliegenden Berichte und Einsatzpläne ist nicht einem Sinneswandel in der Regierungsspitze zu verdanken; die bleibt in ihrem Schweigen zu Tlatelolco eisern. Der Grund liegt vielmehr beim damaligen – längst verstorbenen – Verteidigungsminister Marcelino García Barragán, der Akten aus seinem Besitz zur posthumen Veröffentlichung aufbewahrt hat. García Barragán war mit Scherer bekannt und hatte Vorsorge getroffen, daß dieser die Dokumente erhält. Aber erst der Enkel des Generals sollte sie ihm im März diesen Jahres tatsächlich übergeben.

Zu spät für Ehrenrettung

Marcelino García Barragán, Minister unter der Präsidentschaft von Gustavo Díaz Ordaz (1964–1970), war zu Lebzeiten wenig von seinem Sinn für ehrbare Wahrhaftigkeit anzumerken. Er verhielt sich dem strammen Kommunistenhasser Díaz Ordaz gegenüber loyal, auch in Kenntnis von groben Rechtsverstößen.
Er folgte den Anordnungen seines Chefs und ließ mehrfach die Armee gegen die unbewaffneten, Freiheit und Demokratie fordernden Jugendlichen aufmarschieren. Auch der Einsatzbefehl für den 2. Oktober 1968, als im Hauptstadtviertel Tlatelolco einige hundert Versammelte ermordet wurden, ging über seinen Schreibtisch. Immerhin hat er sich mit Ruhm besprenkelt, als er verhinderte, daß nach dem Massaker der Ausnahmezustand ausgerufen wurde. Aber da war es für die Ehrenrettung bereits zu spät.
Die nun veröffentlichten Dokumente sind militärische Einsatzpläne vom Beginn der StudentInnenproteste im Juli 1968 bis zum 2. Oktober, darüber hinaus formale militärinterne Berichte und eine persönliche Einschätzung García Barragáns über den gesamten Ereigniszeitraum. Aus den Einsatzplänen ist vor allem zu entnehmen, daß für den 2. Oktober keine grundlegend anderen Anweisungen galten als für vorherige Einsätze. Die Armee sollte die Kundgebung auflösen und das politische Ziel der Aktion, die studentische Führungsspitze zu verhaften, flankieren. Der Schußwaffengebrauch wurde jedoch – wie auch sonst üblich – nur für den Fall angeordnet, daß die Soldaten angegriffen würden und mindestens fünf Opfer zu verzeichnen hätten.

Wer war Täter?

Allerdings wurden die Soldaten angegriffen – und zwar von bewaffneten, zivil gekleideten Personen aus am Platz liegenden Gebäuden. Bereits 1998 konnte anhand von Filmaufnahmen bewiesen werden, daß – wie dies Augenzeugen immer schon berichtet hatten – die ersten Schüsse von einer militärischen Sondereinheit abgegeben worden waren, nicht von StudentInnen. Die Aufzeichnungen des Verteidigungsministers helfen nun, diese Leute zu identifizieren. Es handelte sich um Angehörige des Generalstabs des Präsidenten EMP (Estado Mayor Presidencial), einer dem mexikanischen Präsidenten direkt unterstehenden Sondereinheit der Armee. García Barragán, der während der entscheidenden Stunden ständig mit den Verantwortlichen vor Ort in Verbindung stand, berichtet von einem Anruf des Chefs des EMP, Luis Gutiérrez Oropeza, der ihm wie nebenbei mitteilte, daß er den Schießbefehl gegen die StudentInnen auf dem Platz erteilt habe. Dabei wurden auch Soldaten verletzt, die daraufhin den Platz mit scharfer Munition und Bajonetteinsatz räumten. Sie beschossen auch das Gebäude, um die vermeintlichen studentischen FreischärlerInnen auszuschalten – ein Beleg dafür, daß es sich nicht um ein geplant gemeinsames Vorgehen von EMP und Armee handelte, sondern von einem Konflikt zwischen beiden ausgegangen werden muß.
Scherer García verweist im Buch auf andere Ereignisse, die das EMP belasten. So seien bewaffnete Angriffe auf Hochschulgebäude, die es bereits in den Wochen vor Tlatelolco verstärkt gab, nicht von irgendwelchen unbekannten „Terroristen“ geführt worden, sondern – nach den Auskünften von García Barragán – eben vom EMP. Gutiérrez Oropeza sei auch für ein Bombenattentat am 18. September 1969 auf das Redaktionsgebäude der Tageszeitung Excélsior verantwortlich. Der EMP-Chef habe schon 1964, also zu Beginn seiner Dienstzeit, von Díaz Ordaz einen umfassenden Freibrief für außerlegale Aktionen erhalten habe, sofern der Präsident nicht hineingezogen würde.
Die Rolle von Gutiérrez Oropeza und dem EMP wurde bislang im Zusammenhang mit Tlatelolco noch nicht genauer untersucht – das ist nach der Veröffentlichung des Buches nun an der Tagesordnung. Allerdings ist der erwähnte Anruf nur durch die persönliche Notiz García Barragáns belegt, durch einen relativ schwachen Beweis also. Der noch lebende Gutiérrez Oropeza stritt nach Bekanntwerden dieser Aussagen alles ab, und angesichts des Schweigens der PRI-Regierung ist vorerst nicht damit zu rechnen, daß dem Fall juristisch mit Erfolg nachgegangen werden kann.
Würde sich die von García Barragán dargestellte Sachlage jedoch als richtig herausstellen, dann hieße das, daß der 1979 verstorbene Präsident Díaz Ordaz weitaus konkreter am Massaker Schuld hätte, als das bisher aufgrund seines verfassungsmäßigen Oberbefehls über die Streitkräfte angenommen wurde.

Julio Scherer García / Carlos Monsiváis: Parte de guerra. Tlatelolco 1968. Documentos del general Marcelino García Barragón. Los hechos y la historia. Aguilar, México D.F. 1999. 270 S., mit Faksimiles und Fotos.

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