Chile | Nummer 351/352 - Sept./Okt. 2003

Der Neoliberalismus weist den Weg

Licht- und Schattenseiten des chilenischen Entwicklungsmodells

Chile hat in den letzten 30 Jahren enorme wirtschaftliche und soziale Veränderungen durchgemacht. Gerade in der Wirtschaftspolitik ist nach der Rückkehr zur Demokratie eine erstaunlich große Kontinuität zu den Jahren unter Pinochet festzustellen. Im lateinamerikanischen Vergleich steht das Land relativ gut da, doch nach wie vor lebt ein Fünftel der Bevölkerung in Armut. Das Freihandelsabkommen mit den USA, das zum 1. Januar 2004 in Kraft treten soll, wird den Spielraum für eine alternative Politik noch weiter einengen.

Klaus Heynig

Die meisten PolitikerInnen in Chile machen in Optimismus. Das Land sei dabei, aus dem Schatten der Unterentwicklung herauszutreten. Grundlage ihrer Einschätzung ist der Bevölkerungszensus von 2002. Die dort für die letzten zehn Jahre ausgemachten enormen Veränderungen werden von vielen schon als der Eintritt Chiles in die Modernität (miss)verstanden. Chile hat heute eine Bevölkerung von etwas mehr als 15 Millionen Menschen. Die jährliche Zuwachsrate von 1,2 Prozent nähert sich der eines entwickelten Landes an. Nur noch 13 Prozent der ChilenInnen leben auf dem Lande. Trotz der in den letzten Jahren verschärften Auseinandersetzung über die Rechte der indigenen Bevölkerung erklären nur etwa fünf Prozent, einer ethnischen Gruppe anzugehören, der größte Teil davon sind Mapuche.
Im Bildungsbereich sind, zumindest quantitativ, erhebliche Fortschritte erreicht worden: Nur noch vier Prozent der ChilenInnen über zehn Jahre sind AnalphabetInnen und die Zahl der Kinder, die eine Vorschule besuchen, hat sich verdoppelt. Die “Investitionen in Neuronen”, wie es der Erziehungsminister Sergio Bitar (einst Bergbauminister unter Allende) ausdrückt, hat die Zahl der StudentInnen an den Hochschulen mehr als verdoppelt. Die Dauer des durchschnittlichen Schulbesuchs ist in den letzten zwanzig Jahren von 6,3 auf 8,5 Jahre gestiegen und liegt damit zwar über dem lateinamerikanischen Durchschnitt, aber noch deutlich unter der Schwelle von zwölf Jahren, die die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) für notwendig hält, um den Teufelskreis der von Generation zu Generation übertragenen Armut zu durchbrechen. Immerhin hat Präsident Lagos vor einigen Monaten angekündigt, diese zwölf Jahre Schulzeit gesetzlich verankern zu wollen.
Allerdings besteht trotz quantitativer Erfolge in der Armutsbekämpfung, im Wohnungsbau, in der Erziehung und in der sanitären und Gesundheitsversorgung weiterhin soziale Ungerechtigkeit, und die soziale Ausgrenzung hat sogar noch zugenommen. Weiterhin entscheidet die Höhe des Familieneinkommens, der Wohnsitz, die Schule (öffentlich oder privat) und sogar (immer noch) der Nachname über den sozialen Status einer Person und die Chancen, die sie und ihre Familienangehörigen haben, ihre Lebensbedingungen mehr als nur marginal zu verbessern.
Inzwischen haben mehr als die Hälfte der ChilenInnen einen Telefonanschluss, etwa die gleiche Anzahl hat ein Handy. Mehr als zwanzig Prozent der Haushalte besitzen einen Computer, fast 25 Prozent sind ans Kabelfernsehen und über zehn Prozent ans Internet angeschlossen. Fast 60 Prozent der Haushalte besitzen einen PKW. Diese Zahlen, deuten auf eine klare Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen hin.
Dennoch schätzt die Bevölkerung die Lage bei weitem nicht so positiv ein wie viele PolitikerInnen. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CEP vom Juli 2003 belegt: 48 Prozent der ChilenInnen halten die aktuelle wirtschaftliche Situation für schlecht oder sehr schlecht und nur neun Prozent halten sie für gut. Nur 34 Prozent der Befragten glauben, dass sich die wirtschaftliche Situation in den nächsten zwölf Monaten verbessern wird. Die wichtigsten Probleme, denen sich die Regierung annehmen solle, sind demnach die Arbeitslosigkeit und die Armut. Lediglich fünf Prozent der ChilenInnen zählen die Menschenrechtslage zu den wichtigsten Problemen.
Politisch interessant sind die Meinungen in Bezug auf die möglichen Alternativen, die die Befragten der Regierung Lagos zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation vorschlagen. 36 Prozent der Befragten meinen, die Regierung solle sich mehr auf die Vorschläge der Experten jeglicher politischer Couleur stützen, 30 Prozent sind dafür, den Unternehmern mehr Gehör zu schenken. Nur 17 Prozent glauben, dass die Regierung Lagos sich den Vorstellungen der Gewerkschaften annähern solle.

Schwerpunkte der aktuellen Regierungspolitik
Die Reform der Arbeitsgesetzgebung und die Beschäftigungspolitik, das Programm „Chile Solidario“ sowie die Freihandelsabkommen mit den USA, der Europäischen Union und Südkorea sind die drei zentralen Initiativen der Regierung Lagos – mit weit reichenden Konsequenzen auf die Lebens- und Beschäftigungsbedingungen der chilenischen Bevölkerung. Diese Initiativen haben zu intensiven, auch stark ideologisch geprägten Diskussionen unter allen Beteiligten geführt. Von diesen Regierungsvorhaben hängen Erfolg oder Misserfolg der Regierung Lagos entscheidend ab, und damit auch ihre Wahlchancen bei den Kommunalwahlen 2004 und bei den Päsidentschaftswahlen im Jahre 2005.
In der Beschäftigungspolitik führte Lagos zwei wichtige Reformen durch. Erstens wurde die Arbeitsgesetzgebung modifiziert. Unter der Diktatur waren die Arbeitsbeziehungen weitgehend liberalisiert und speziell die Rolle der Gewerkschaften stark beschnitten worden. Auch nach der Diktatur ging der gewerkschaftliche Organisationsgrad – mit Ausnahme der frühen Neunzigerjahre – weiter zurück. Zugleich wurde die Verhandlungsschwäche der Gewerkschaften durch die – gesetzlich geförderte – Konzentration auf Betriebsgewerkschaften gegenüber den Branchengewerkschaften noch verstärkt. Die Reform der Arbeitsgesetzgebung erleichtert die gewerkschaftliche Organisierung (mittels eines verbesserten Kündigungsschutzes und einer Absenkung des zur Gründung einer Gewerkschaft erforderlichen Quorums), fördert Verhandlungslösungen bei Tarifauseinandersetzungen, ermöglicht Tarifverhandlungen von SaisonarbeiterInnen und beinhaltet eine stufenweise Absenkung der Wochenarbeitszeit.
Die zweite Reform ist die Einführung einer Arbeitslosenversicherung. Das System besteht aus zwei Fonds, von denen der eine aus individuellen, durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge gespeisten Konten, der andere aus einem Solidartopf besteht, der mit weiteren Arbeitgeberbeiträgen und einem Staatszuschuss finanziert wird. Dieser sichert Arbeitslosen mit vorher geringem Einkommen (und folglich niedrigen Beiträgen auf dem individuellen Konto) fünf Monate lang ein Mindestniveau des Arbeitslosengeldes. Die Gelder werden von einem privaten Träger verwaltet, der sie auf dem Kapitalmarkt anlegt und Zuwächse den Konten gutschreibt, zugleich aber auch Gebühren kassiert.

Das Programm “Chile Solidario”

Trotz der schon erwähnten erheblichen Verringerung der Armutsrate in Chile auf etwa 20 Prozent der Bevölkerung (gegenüber 43 Prozent im lateinamerikanischen Durchschnitt), stagniert seit 1996 der Anteil der Bevölkerung in extremer Armut bei etwa 5,5 Prozent beziehungsweise 225.000 Familien (etwa 850.000 Menschen).
Mit dem Programm „Chile Solidario“ soll die extreme Armut in Chile bis 2006 abgeschafft werden. Das Programm wird vom chilenischen Planungsministerium (MIDEPLAN) verantwortet, die Kosten werden auf jährlich 100 Millionen US-Dollar geschätzt. Im Rahmen des Programmes werden über 2000 vom Ministerium angestellte BetreuerInnen (Monitores) die Familien über einen Zeitraum von zwei Jahren begleiten, sie psychologisch unterstützen und sie bei der Inanspuchnahme ihrer Rechte auf kostenlose Krankenversorgung, Zugang zum sozialen Wohnungsbau, Erziehung, Justiz, Beschäftigung, usw. beraten.
Bei einem Erfolg dieses Programmes wäre Chile das erste Land in Lateinamerika, das es geschafft hätte, dieses Problem zu lösen. Die Bereitstellung der finanziellen Mittel ist dabei wohl das kleinere Problem gegenüber den organisatorischen und institutionellen Herausforderungen. Die Ursachen der sozialen Ungerechtigkeit werden mit diesem Programm allerdings nicht angegangen. Der Erfolg von „Chile Solidario“ hängt stark davon ab, ob es gelingt, über einen rein assistenzialistischen Ansatz hinaus Instanzen der Beteiligung zu schaffen und die Betroffenen in die Gesellschaft zu integrieren.

Die Freihandelsabkommen

Die Verhandlungen über die Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union, den USA und Südkorea haben die wohl größte Aufmerksamkeit aller wirtschaftlichen Aktivitäten der Regierung der Concertación erhalten.
Der Vertrag mit der Europäischen Union hat zu einer Reduzierung der Einfuhrzölle auf beiden Seiten geführt. Schon im ersten Jahr ist es zu einer erheblichen Erhöhung des Außenhandels gekommen. Der Vertrag mit Südkorea muss noch vom südkoreanischen Parlament ratifiziert werden. Der bei weitem wichtigste Vertrag ist der mit den USA. Um zum 1. Januar 2004 in Kraft zu treten, muss er nurmehr vom chilenischen Parlament ratifiziert werden. Kaum ein Vorhaben der Regierung konnte mit einer so breiten Zustimmung von allen im Parlament vertretenen Parteien rechnen. Auch die Unternehmer stehen dem Abkommen in ihrer großen Mehrheit sehr positiv gegenüber. Kritik und Widerstand gibt es – über die Parteigrenzen hinweg – nur von Parlamentariern aus Regionen, die auf Grund ihrer Produkte wohl zu den Verlierern dieser Abkommen gehören werden, und von den Produzenten der traditionellen Landwirtschaft, deren Produkte mit den billigen Importen nicht konkurrieren können.
Die Freihandelsverträge sind gewissermaßen die Krönung einer Politik, die schon seit 1986 den Export und die Öffnung der Märkte als wichtigsten Motor für das wirtschaftliche Wachstums Chiles ansah – eine Politik, die von den demokratischen Regierungen der Concertación ohne größere Änderungen weitergeführt wurde. Durch die Diversifizierung der Exportpalette und durch eine intelligente und aggressive Erschließung neuer Märkte konnten die Einnahmen aus den Exporten deutlich gesteigert werden. Doch das Exportangebot Chiles besteht bis heute zu 86 Prozent aus Produkten, die auf der Ausbeutung der Naturresourcen beruhen – bei nur geringer oder gar keiner Weiterverarbeitung.
Die KritikerInnen der Freihandelsabkommen befürchten, dass sich Chile in eine noch größere Abhängigkeit begibt, aus der es kein Entkommen mehr gibt. Die meisten BeobachterInnen stimmen darin überein, dass das Abkommen mit den USA Chile noch stärker auf das aktuelle Entwicklungsmodell festlegen wird und es noch schwieriger sein wird, die jetzige Wirtschaftspolitik zu ändern.
Sicherlich gibt es eine Reihe von Personen, Unternehmen oder gar Branchen, die zu den Gewinnern der Freihandelsabkommen gehören könnten. Dies gilt aber kaum für die etwa 600.000 Arbeitslosen, die Klein- und Mittelbetriebe, die der größte Arbeitgeber sind und die hauptsächlich für den Binnenmarkt produzieren, oder das Fünftel der Bevölkerung, das unter der Armutsgrenze lebt.

Die Herausforderung bleibt bestehen

Die Maßnahmen und Reformen der jetzigen Regierung unter dem der Sozialistischen Partei angehörigen Präsidenten Ricardo Lagos sind sicher weit von einem Neoliberalimus in Reinform entfernt. Aber selbst AnhängerInnen der Concertación geben zu, dass die für die Wirtschafts- und Finanzpolitik zuständigen Politiker eine ausgeprägte Schwäche für das neoliberale Modell haben und sich durch eine besonders orthodoxe Ausführung ihrer Prinzipien auszeichnen.
Über die kritische Bewertung der aktuellen Politik hinaus bleibt es eine wesentliche Herausforderung, Antwort auf folgende Fragen zu geben: Hat ein Land wie Chile die Alternative, einen anderen Weg einzuschlagen? Wie sähe diese Alternative aus? Und was sind die Kosten?

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