„Der Prozess könnte ein Meilenstein sein“
Interview mit Carlos Olaya von der Gewerkschaft Sinaltrainal aus Kolumbien zum Fall Nestlé
Viele europäische Zeitungen haben inzwischen berichtet. Was macht den Fall so bedeutsam?
Der Mord an Luciano ist der erste Fall, in dem in Kolumbien Ermittlungen anberaumt und Täter verurteilt wurden. Außerdem gibt es in diesem Fall Beweise, dass nicht nur Paramilitärs, sondern auch zwei Funktionäre des Geheimdienstes DAS mit dem Mord zu tun hatten. Es gibt einen Prozess gegen Mitarbeiter des Geheimdienstes. Drittens gibt es Indizien, die einige Funktionäre von Nestlé damit in Verbindung bringen. Ein Richter ordnete auch hier Ermittlungen an. Diese sind aber nicht vorangekommen – der Richter musste wegen Drohungen ins Exil.
Ein vierter Punkt ist, dass wir Erklärungen wie die von Salvatore Mancuso (wegen Kokainhandels an die USA ausgelieferter Paramilitär, Anm. d. Red.) haben, welche besagen, dass Cicolac den paramilitärischen Gruppen Finanzhilfen gegeben hat.
Es gibt für uns bei dem Fall ein Schlüsselelement: Zwar kam das Verfahren in Kolumbien durchaus voran, die direkten Täter sind sogar juristisch verurteilt worden; es gibt Zeugenaussagen. Aber man hat nie herausgefunden, wer den Auftrag gegeben hat. Deshalb könnte ein Prozess in der Schweiz einen Meilenstein im Kampf gegen die völlige Straflosigkeit markieren, in der Morde an Gewerkschaftern verbleiben.
Welche sind denn die Vorwürfe, was ist damals passiert?
Unserer Meinung nach hat das Unternehmen eine massive Unterlassung begangen, es ist seiner Schutzpflicht gegenüber dem compañero nicht nachgekommen. Erstens trägt Nestlé die Verantwortung für die Schließung der Cicolac-Fabrik in Valledupar. Es war bekannt, dass eine offen aufgeheizte Stimmung herrschte, in einer Region, die bekanntermaßen von Paramilitärs kontrolliert wurde. Einige der Großgrundbesitzer, die Zulieferer für die Nestlé-Fabrik waren, hatten mit diesen Gruppen Verbindungen. Die Paramilitärs hatten die Gewerkschaft Sinaltrainal bedroht: Wenn das Unternehmen die Fabrik schließen würde, sei das die Schuld der Gewerkschaft, und man werde Vergeltungsmaßnahmen vor allem gegen aktive Gewerkschafter ergreifen. Nestlé haben diese Tatsachen nicht interessiert, im Gegenteil.
Inwiefern? Wie verhielt sich das Unternehmen in diesem brisanten Kontext?
Das Verhalten des Unternehmens löste den Konflikt nicht, sondern heizte ihn noch an. Vor der Schließung der Fabrik in Valledupar beendete die Firma die Verträge mit neun unserer Aktivisten Gewerkschaftsleute dort, darunter Luciano, unter außergewöhnlichen Bedingungen: Nestlé machte einen Streik geltend, den es nie gegeben hatte.
Dabei haben wir immer wieder auf die Situation hingewiesen und vor einer Eskalation gewarnt. Ebenfalls wurde die weltweite Geschäftsführung Nestlés schriftlich gewarnt und wusste, was in Kolumbien passierte. Doch das Unternehmen weigerte sich, die Arbeiter zu schützen. Deshalb sind wir der Meinung, Nestlé hatte durchaus eine Verantwortung.
Was für Konsequenzen erwarten Sie sich, sollte es zum Prozess kommen?
Wir hoffen sehr, dass die Schweizer Justiz gegen genau die Personen ermittelt, die zu jener Zeit ganz oben in der Geschäftsleitung Nestlés waren, sowohl weltweit als auch in der Abteilung für Lateinamerika und Kolumbien. Es soll aber auch um eine institutionelle Verantwortung des Konzerns gehen. Wir glauben, dass die Möglichkeit eines Prozesses besteht. Und wir hoffen, dass die Schweizer Justiz so schwere Sanktionen verhängt, dass solche Straftaten sich nicht wiederholen.
Vor allem wünschen wir uns eine Debatte in eben den europäischen Ländern, in denen es große Muttergesellschaften gibt, über die Verantwortung der hiesigen Unternehmen bei Menschenrechtsverletzungen – damit das Verhalten der Firmen sich verändert. In Kolumbien gibt es nun mal keine Vorschrift, die multinationale Unternehmen zu einem anderen Verhalten zwingen würde. Da könnte das Schweizer Gesetz greifen.
Was würde sich in der Hinsicht denn durch den geplanten Freihandelsvertrag mit der Europäischen Union ändern? Gibt es darin klarere Richtlinien für die Unternehmen?
Naja, die Freihandelsverträge versuchen immer Vorschriften oder sogenannte Handelshemmnisse und Gesetze abzubauen, die Kapitalflüssen oder dem Export von Gütern hinderlich sein könnten. Der Freihandelsvertrag mit der EU unterscheidet sich davon überhaupt nicht, er bringt keine Regeln! Auch die Erleichterungen für ausländische Investitionen – unter den jetzigen Bedingungen wird dieser Vertrag das Verhalten der Unternehmen noch verschärfen.
Die Botschaft, die in Kolumbien deutlich wird, ist: Na gut, da gibt es Menschenrechtsverletzungen und da gibt es ein paar Killer, die Menschen umbringen. Aber dahinter liegt die Erkenntnis: Gewalt macht sich bezahlt. Die Gewinne der großen Konglomerate sind in den letzten 20 Jahren deutlich gestiegen. Das ist gleichzeitig die konfliktreichste Zeitspanne, besonders ab 1995.
Seitdem ist die Wirtschaft des Landes noch viel transnationalisierter. Die enormen Ressourcen gehören mehr und mehr multinationalen Unternehmen. Deren Einfluss auf politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Ebene wird immer spürbarer, die Gesetzgebung in Kolumbien wird immer schwächer. Es gibt eine große Transformation hin zu Liberalisierung und Deregulierung im Bereich Arbeitsrecht. Auf dieser Grundlage besteht keine Möglichkeit eines Wandels.
Und das obwohl immer die Rede davon ist, dass mit der neuen Regierung eine neue Zeit angebrochen sei?
Eine wichtige Frage, denn wir befinden uns nicht in einer Nachkriegssituation. Die Situation scheint sich eher zu verschärfen. Die paramilitärischen Gruppen beherrschen weiterhin ganze Regionen, sie sind ein ganz grundlegender Faktor in der Wirtschaft. Sie haben ihre politischen Parteien, von denen sich viele zur Unidad Nacional (von Präsident Juan Manuel Santos ins Leben gerufene symbolische Einigung der bürgerlichen und rechten Parteien, Anm. d. Red.) zählen. Wir glauben nicht an einen Wandel, wenn die paramilitärischen Gruppen noch so viel Macht und Einfluss haben.
Es gab Gerichtsverfahren gegen Funktionär_innen aus der Regierungszeit von Ex-Präsident Álvaro Uribe…
Was da bewegt wurde, ist kaum der Rede wert. Mehr als die Oberfläche wurde nicht angetastet. Es reicht schon zu sehen, dass die Politiker, denen im Skandal der parapolítica (siehe LN 433/434) Verbindungen zu Paramilitärs nachgewiesen wurden, zu kaum mehr als zwei, drei Jahren verurteilt wurden. Sie laufen frei herum.
Außerdem verstärkt sich die Militarisierung der Gesellschaft, die Zahl der Soldaten wird ebenso erhöht wie das Militärbudget. Ich sehe keine Anzeichen von Demilitarisierung. Das wäre doch ein Zeichen für ein Ende des Konfliktes. Und die Guerilla zeigt immer noch, dass sie fähig ist, über lange Zeit zu überleben. Es gibt keine Möglichkeit eines militärischen Sieges der Regierung, mit dem ein Ende des Krieges absehbar wäre.
Hat sich die Bedrohungssituation für die Gewerkschaften nicht geändert?
Morde, Drohungen, Vertreibung und allgemeiner Terror werden nicht weniger, weil der offizielle Diskurs sich verändert hätte. Nach außen gibt es einen viel positiveren, dialogbereiten Diskurs, der ein anderes Bild der Regierung zeigt. Trotzdem sind dieses Jahr schon zwei unserer Gewerkschaftskollegen umgebracht worden. Zwei sind wegen Terrorismus angeklagt, was völllig absurd ist. Und die compañeros in Valledupar beispielsweise, die mit dem Fall von Luciano zu tun haben, sind in den letzten Tagen ständig bedroht worden.
Die Süddeutsche Zeitung schrieb über den Fall Nestlé, NGOs würden ihre politischen Kampagnen jetzt mit juristischen Mitteln führen. Was meinen Sie dazu?
Nun, das juristische Vorgehen ist ein Schritt um die Unternehmenspolitik zu verändern, das ist unser Ziel. Das ist ja nicht nur mit Nestlé so. Es geht uns weniger darum, eine Klage zu gewinnen oder eine Entschädigungszahlung zu erreichen. Die Unternehmen sollen Gesetze befolgen, die ermöglichen, dass Arbeits- und Menschenrechte respektiert werden, genauso wie die Souveränität eines Landes. Wenn das Politik ist, ist es eben Politik. Es gibt ein juristisches Mittel, um das zu erreichen, aber es gibt auch andere Mittel, ob Proteste oder Verhandlungen. Das ist wichtig! Wir setzen nicht allein auf die Justiz, sondern hier wie dort sind wir auf die Mobilisierung der Leute und den Druck, den sie ausüben können, angewiesen. Das Motiv dafür kann auch humanitär und nicht nur politisch sein.
Weitere Informationen: www.ecchr.de
Infokasten: Nestlé und der Mord an Luciano Romero
Der Lebensmittelhersteller Nestlé AG soll den Tod von Luciano Romero im Jahr 2005 durch Unterlassung von Schutzmaßnahmen für den Gewerkschafter fahrlässig mitverursacht haben. Dieser war Mitarbeiter der Firma Cicolac in Valledupar im Cesar in Nordostkolumbien, die seit 1997 als Tochterfirma zu Nestlé gehörte, als die paramilitärische Gruppe Bloque Norte sich in der Gegend bereits etablierte. Während Cicolac Hauptabnehmerin für Milchprodukte war, hatten einige ihrer Zulieferer enge Verbindungen zum Bloque Norte.
Als Nestlé 2005 die Fabrik von Cicolac in Valledupar schloss, mussten praktisch alle gewerkschaftlich Aktiven befürchten, von Paramilitärs ermordet zu werden und gingen ins Exil. Luciano war sechs Monate in Spanien. Kurz nach seiner Rückkehr wegen eines familiären Notfalls wurde er am 10. September 2005 mit 50 Messerstichen ermordet. In den Jahren zuvor war Luciano mehrmals von Cicolac-Mitarbeitern als Guerilla-Kämpfer verleumdet worden.
Kommt es wegen Klage der kolumbianischen Gewerkschaft Sinaltrainal und des European Centre for Constitutional and Human Rights (ECCHR) bei der Schweizer Staatsanwaltschaft zum Prozess gegen die Nestlé AG, müssen fünf ihrer ehemaligen Geschäftsführer Gefängnis- oder Geldstrafen, aber auch das Unternehmen Entschädigungszahlungen befürchten. Laut ECCHR wäre das Verfahren ein Präzedenzfall. Seit 1986 wurden 12 weitere Sinaltrainal-Gewerkschafter, die bei Nestlé beschäftigt waren, von paramilitärischen Gruppen ermordet. In keinem der Fälle wurde je umfassend ermittelt.