Nicaragua | Nummer 301/302 - Juli/August 1999

Der Sandinismus droht unterzugehen

Interview mit Vilma Nuñez

Vilma Nuñez ist Präsidentin des Nicaraguanischen Menschenrechtszentrums CENIDH und langjähriges FSLN-Mitglied. Im folgenden Interview äußert sie sich zu der Entwicklung innerhalb der Frente, der Rolle von Daniel Ortega und den Chancen für eine Reform des Sandinismus.

Nina Frank

In letzter Zeit gab es einige Kritik an der FSLN, vor allem an der Parteiführung. Zielt diese Kritik auf neue Entwicklungen innerhalb der Frente ab, oder geht es um Probleme, die bereits seit langer Zeit existieren?

Während der Zeit der Revolution hatte die FSLN keine Möglichkeit, sich als politische Partei zu entwickeln, die bei Wahlen eine Alternative darstellen will oder sich dem politischen Alltag mit seinen Problemen stellt – so wie es jede Partei in einer formalen Demokratie tun muß. Die FSLN ging aus der Guerillabewegung mit der klaren Aufgabe hervor, die Regierung zu übernehmen und verwendete alle Kräfte darauf, den Staat zu verwalten, und nicht dafür, geeignete Parteistrukturen aufzubauen. Deswegen sind die organisatorischen Schwächen der Partei und die vertikalen Führungsstrukturen vor allem nach der Wahlniederlage 1990 zutage getreten. Es gab keine aktive Partizipation der AktivistInnen der Frente und nicht einmal der Sandinistischen Versammlung als höchster Instanz der Partei. Wichtige Entscheidungen wurden zentral von der Parteiführung gefällt.
Unsere Kritik bezieht sich also nicht auf neue Entwicklungen, aber einige der Verhaltens- und Arbeitsweisen, die wir kritisieren, haben sich nach der Wahlniederlage 1990 noch verschlimmert. Das erklärt auch, warum jetzt auf verschiedenen Parteiebenen Unzufriedenheit zum Ausdruck gebracht und das politische Vorgehen in Frage gestellt wird.
Am stärksten wurde diese Unzufriedenheit beim Parteikongreß im Jahr 1994 demonstriert, als sich die FSLN faktisch spaltete und Sergio Ramírez und Dora María Téllez die „Sandinistische Erneuerungsbewegung“ (MRS) gründeten. Ich respektiere ihre Vorgehensweise, halte die damit verbundene Spaltung aber für eine vollkommen falsche Entscheidung. Beide hatten eine große Verantwortung für die Siege, aber auch für die Fehler der Partei und sie hatten immer noch eine Machtposition inne. Sie hätten für die Veränderungen, die sie für die Partei wollten, innerhalb der FSLN weiterkämpfen müssen.

Welche Konsequenzen hatte die Abspaltung
der MRS?

In dieser Zeit hat niemand seine Kritik öffentlich zum Ausdruck gebracht. Ich glaube, die Spaltung von FSLN und MRS hat bis zu einem gewissen Punkt interne Kritik unmöglich gemacht, man befürchtete weitere Spaltungen. Zugleich hat sich der Vertikalismus immer weiter ausgeprägt.
Dies wurde vor den Wahlen 1996 deutlich, als eine Volksbefragung für die Aufstellung der Kandidaten der FSLN beschlossen wurde. Mit den abgegeben Stimmen wurde gemauschelt und so die Meinung der Bevölkerung ad absurdum geführt. An diesem Beispiel wird die Absicht Daniel Ortegas deutlich, unbedingt und konkurrenzlos als Kandidat auftreten zu wollen. Bei den Wahlen wurde aufgrund einer drohenden Wahlniederlage Geschlossenheit demonstriert. Doch auch nach der Wahlniederlage ging das autoritäre Verhalten weiter. Damals wurden bereits kritische Stimmen laut, die das, was in der Partei stattfand, in Frage stellten: Der drohende Pakt mit den Somozisten und starke ethische Zweifel an Daniel Ortega, mit denen sich die Partei nicht in ausreichendem Maß auseinandersetzte.
Ich selbst habe beim letzten Kongreß beschlossen, meine Position öffentlich zu machen. Ich habe die Gründe mitgeteilt, warum ich nicht mehr Mitglied der Parteiführung sein wollte und warum ich nicht einmal mehr am Parteikongreß teilnehmen wollte – ich sah auf dem Kongreß keine Möglichkeit zu diskutieren. Ich bin nicht mehr aktiv in der Partei, werde sie aber nicht verlassen. Die Möglichkeiten für Veränderungen werden allerdings geringer, auch an der Parteibasis. Die Führungsfigur Daniel hat die Basis praktisch in ihren Bann gezogen. Man kann über fehlende Demokratie und Vertikalismus in der FSLN reden, solange man keine Namen nennt. Sobald man diese Kritik mit Daniel in Verbindung bringt, schlägt die Stimmung sofort ins Gegenteil um.

Ist es möglich, dieses Kräfteverhältnis innerhalb der FSLN zu verändern?

Ich will nicht zu pessimistisch erscheinen, aber ich glaube nicht, daß man die Frente kurzfristig ändern kann. Mittelfristig ist ein Erfolg durchaus möglich. Die Führung der Frente versucht, uns zu ignorieren und zu delegitimieren und würde gerne diejenigen aus den Parteistrukturen ausschließen, die die Führung kritisieren.
Daniel betrachtet sich weiterhin als der einzige, der fähig ist, die Frente zu repräsentieren und zu leiten. So hat er Victor Hugo Tinoco als Fraktionsvorsitzenden im Parlament abgelöst, nachdem dieser von der Möglichkeit gesprochen hatte, daß er Präsidentschaftskandidat der Frente bei den nächsten Wahlen und auch in naher Zukunft Generalsekretär sein könnte.

Glauben Sie, daß es trotz dieser Hindernisse immer noch effektiver ist, in der Frente zu bleiben, statt den Kampf außerhalb der Frente weiterzuführen, wie es viele gemacht haben?

Ja, effektiver sicherlich, aber auch ermüdend. Ich glaube, daß wir in der Frente bleiben müssen, um die FSLN vor dieser Führung zu retten. Ich bin keine Anhängerin von Parteigründungen außerhalb der Frente, weil wir ja gesehen haben, was mit der MRS passiert ist – sie hat keine Basis.

Welches sind Ihre persönlichen Schlußfolgerungen, zu denen Sie auf Grund des „Falles Zoilamérica“ und Ihrer eigenen Erfahrungen in der Frente gelangt sind?

Der Fall Zoilamérica war nicht nur für Daniel, sondern für den gesamten Sandinismus eine ethische Herausforderung, eine Prüfung. Eine noch schwerere Prüfung als die Piñata nach 1990. Die Frente hat sich durch die Art und Weise, wie sie sich nicht mit dem Fall befaßt und die Verantwortung nicht angenommen hat, disqualifiziert. Sie hat die Reihen geschlossen und sich schützend vor ihre Führungsgestalt geworfen. Mit dieser unkritischen Haltung riskiert die Frente ihre Zukunft, dafür wird sie eines Tages bezahlen müssen. Was über die Frente als ganzes gesagt wurde, gilt natürlich auch für Daniel. Ich habe mich bis kurze Zeit vor der Veröffentlichung des Falles Zoilamérica als Anhängerin Daniels bezeichnet. Ich fühle mich verraten als Parteimitglied und als Frau und in meiner Funktion als jemand, die sich für die Menschenrechte engagiert.

Welches sind im Augenblick die Ziele und Strategien der Frente bzw. ihrer Führung?

Die Frente hat keine Strategie, keinen klaren Kurs, nur leere Worte, Sätze ohne wirklichen Inhalt, zum Beispiel die „Interessen der Bevölkerung“. Was ist das? Da fehlt eine Konkretisierung. Außerdem gibt es einen sehr ernsten Widerspruch zwischen dem Diskurs und der Praxis der eigenen Lebensführung. Wie kann ich behaupten, daß ich mich mit den Interessen des Volkes identifiziere, wenn ich nur meine eigenen Interessen verfolge und selbst einen Lebensstil praktiziere, der vollkommen verschieden ist von dem der Mehrheit des Volkes. Oder das Beispiel Daniel, der vorgibt, die Interessen der Mehrheit zu verteidigen. Gleichzeitig ist er bestrebt, diesen Pakt mit Alemán voranzutreiben, ein Vorgang, der nicht den Interessen des Volkes entspricht. Auf der anderen Seite die Drohung, wieder die Waffen zu ergreifen. Ein großer Widerspruch, der nicht der Glaubwürdigkeit dient.

Was ist von der sogenannten Zivilgesellschaft zu erwarten?

Einer der wirklichen Erfolge der Revolution ist das gewachsene Organisations- und Mobilisierungspotential der nicaraguanischen Bevölkerung. Neben diesem Potential haben nach den Wahlen von 1990 Organisationen einen zusätzlichen Freiraum, Autonomie und mehr Unabhängigkeit gewonnen. Sie begannen sich von der Parteiführung zu emanzipieren. Ich sehe diese NROs positiv, sie sind das vielleicht unbewußte Streben, die Revolution fortzusetzen. Es gab eine bestimmte Art von Paternalismus, indem die Revolution versuchte, die Probleme der Leute zu lösen. Diese Einstellung hat sich auf einige NROs vererbt. Damit die Menschen Subjekt des sozialen Wandels werden, benötigen wir eine Weiterentwicklung der Partizipation.

Inwieweit kam es in der Vorbereitung und Durchführung des „Marsches gegen die Korruption“, zu dem im März 15.000 Personen kamen, zu einem Zusammenwirken von NROs, Demokratischer Linken und Teilen der Bevölkerung? Kann diese Aktion ein erster Schritt für einen Wandel der ganzen Gesellschaft sein?

Wenn es um eine Sache geht, mit der sich die Menschen identifizieren können, dann kämpfen sie auch. Und die Korruption in einem Land, in dem das Volk völlig verarmt ist, aber die Üppigkeit und die Diebstähle der Regierung mit ansehen muß, ist so ein Thema. Außerdem gibt es in Nicaragua auch das Phänomen, daß sich die Leute nicht allein wegen einer Idee bewegen. Die Idee muß von jemandem verkörpert werden. Der Vorsitzende des Rechnungshofes, Augustín Jarquín – ein Politiker rechts von der Mitte, ein Christsozialer – hat in seinem Kampf gegen die Korruption Ehrlichkeit und Transparenz gezeigt und wird daher vom Volk unterstützt. Genau das waren einige der Argumente, die Daniel gegenüber Leuten der Frente hervorbrachte: Wie ist es möglich, daß die Sandinisten die Kandidatur von Augustín Jarquín unterstützten? An dem Marsch nahmen die Parteiführungen vieler kleinerer Parteien teil, nur die der FSLN fehlte. Aber es waren viele Sandinisten aus regionalen und lokalen Führungsstrukturen dabei. Der linke Flügel der FSLN hat den Marsch unterstützt – entgegen dem Befehl von Daniel, ihn zu boykottieren.
Um dieser Kraft Dauer zu verleihen, haben wir die „Koordinationsgruppe zur Mobilisierung und zum Kampf des Volkes“ gegründet, an der sich augenblicklich 22 Organisationen beteiligen.

Gibt es noch weitere Themen, die in der „Zivilgesellschaft“ eine Rolle spielen?

Der Kampf gegen den Pakt zwischen FSLN-Führung und Regierung. Im letzten Jahr haben wir von CENIDH aus eine Kampagne gegen die Verteuerung des Lebens, den Preisanstieg bei Wasser, Elektrizität, Telefon, den Grundnahrungsmitteln geführt. Das war für die Leute sehr wichtig, jedoch ohne politischen Gehalt. Aber der Kampf gegen die Korruption als Ursache all dieser Übel hat diese politische Dimension. Und der Kampf gegen den Pakt genauso. Der Kampf gegen den Pakt ist die augenblickliche Widerstandslinie gegen Daniel innerhalb der Frente. Der Pakt ist für Nicaragua eine schreckliche Aussicht, er steht in der Tradition der Diktatur. Der Pakt kann zum endgültigen Untergang des Sandinismus und zur Wiederauferstehung des Somozismus führen.

Interview: Nina Frank

Das Interview wurde wenige Tage vor der Sitzung der Sandinistischen Versammlung am 9. und 10. Mai 1999 geführt. Nach diesem Ereignis bewertet Vilma Nuñez die Aussichten auf Veränderungen in der FSLN noch pessimistischer. Auch der Pakt zwischen FSLN-Spitze und Regierung ist mittlerweile weiter vorangeschritten.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren