Brasilien | Nummer 373/374 - Juli/August 2005

„Der Schritt geht uns nicht weit genug“

Interview mit dem Psychologen und Aids-Aktivisten Veriano Terto Junior

Anfang der 80er-Jahre engagierte sich der 43-jährige Brasilianer sehr für die lesbisch-schwule Bewegung und seit 16 Jahren auch verstärkt im Kampf gegen Aids. Heute ist Veriano Terto Junior Direktor von ABIA, einer der größten Aids-Aufklärungs-Organisation Brasiliens (gegründet 1986). Dass er selbst HIV-positiv ist, weiß er seit neun Jahren. Auf der internationalen Fachtagung „Patented New World“ in Berlin sprachen die Lateinamerika Nachrichten mit dem Aktivisten über den Patentschutz von Aids-Medikamenten, Widerstandsformen und amerikanische Hilfsgelder.

Interview: Stephanie Zeiler

In der Presse wird Brasilien oft als „Weltmeister der Aidsbekämpfung“ gefeiert. Worin liegt ihr Erfolg?

Brasilien ist ein Entwicklungsland mit viel Armut und sozialen Problemen. Es ist daher wirklich bemerkenswert, dass es die Todesrate von Aids-Kranken landesweit um 50 Prozent senken konnte. Der Erfolg ist der lokalen Produktion von Generika (Imitate) und vor allem einer staatlich geregelten Abgabe der antiretroviralen Medikamente an alle registrierten HIV-Infizierten zu verdanken. Unsere Regierung hatte schnell verstanden, dass sich die Epidemie nicht allein mit klassischen Präventionsprogrammen bekämpfen lässt. Warum? Wenn sich ein Land nicht gleichzeitig um die HIV-Infizierten kümmert, sie in ein soziales Netz integriert, hat es keine Kontrolle über diese Menschen. Dass ihnen lebensverlängernde Medikamente gezahlt werden, ist sehr wichtig zur Prävention. Die Menschen lassen sich beispielsweise viel eher testen, wenn sie wissen, dass sie im Falle einer Infektion auch behandelt werden.

Am 31. Mai hat das brasilianische Parlament ein Gesetzesprojekt verabschiedet, das festlegt, dass Aids-Medikamente nicht patentiert werden dürfen. Warum?

In Brasilien gibt es seit langem eine heftige Diskussion darüber, wie mit diesen Patenten umzugehen ist. Wegen den zunehmenden HIV-Infektionen wollte Brasilien Ende der 1990er Jahre bei der Pharmaindustrie größere Mengen an Medikamenten kaufen. Die konnte aber nicht ausreichend anbieten, weil sie zu wenig für alle Kunden hatten. Aus dieser Not heraus überlegte der brasilianische Staat erstmals, eine Zwangslizenz zu erteilen. Das ist die einzige im Trips, dem WTO-Abkommen zum Schutz des geistigen Eigentums, verankerte Möglichkeit, Patente zu umgehen.
Allerdings hat bis heute kein Staat das Recht auf Erteilung einer Zwangslizenz in Anspruch genommen. Alle fürchten die Folgen eines solchen Schrittes. Die brasilianische Regierung fürchtet Sanktionen, die Europa und die USA auf brasilianische Waren verhängen könnten und versuchte daher, eine andere Lösung zu finden. Ein Vorschlag ist das aktuelle Gesetzesprojekt.

Der Vorschlag kommt jetzt in den Senat. Glauben Sie, dass das Gesetz tatsächlich in Kraft treten wird?

Ja, das ist sehr wahrscheinlich. Das öffentliche Gesundheitssystem bietet zur Behandlung von HIV-Infizierten 16 Aids-Medikamente an, alle kostenlos. Neun sind Markenprodukte, die Brasilien vergünstigt einkauft. Die anderen sieben sind Generika von Medikamenten, die vor mehr als neun Jahren entwickelt wurden. Brasilien war 1996 eines der ersten Länder, die das Trips-Abkommen unterzeichnet haben. Im selben Jahr verabschiedete es daher noch ein Patentgesetz, das bis heute für alle neu entwickelten Medikamente greift.

Könnte es sich Brasilien leisten, nur Markenprodukte anzubieten?

Nein, die Kosten für nur drei der neuen patentierten Medikamente verschlingen schon jetzt 70 Prozent des Budgets für Aids-Medikamente. Wenn Brasilien noch mehr Geld dafür ausgeben müsste, wäre die Regierung gezwungen, es an anderer Stelle zu streichen. Die Adhärenz, das heißt die regelmäßige Prüfung der korrekten Medikamenten-Einnahme, würde darunter sicher leiden. Patienten würden ihre Behandlung unterbrechen. Resistenzen gegen die Medikamente würden sich bilden und dann sogenannte „opportunistische Infektionen“ wie Tuberkulose ausbrechen.
Schlimmstenfalls könnte Brasilien nicht mehr jedem einen Zugang zu den notwendigen Arzneien ermöglichen. Das wäre ein großes Problem, da wir seit 1996 ein Gesetz haben, dass die Regierung auf der anderen Seite verpflichtet, Betroffene kostenlos mit so genannten antiretroviralen Medikamenten zu versorgen.

Welche Folgen wird ein solches Gesetz haben?

Es ist sehr schwer abzusehen, was passiert. Vieles hängt von der sozialen Mobilisierung ab, der öffentlichen Meinung und dem Druck, der auf die internationale Industrie ausgeübt werden wird. Ich glaube nicht, dass es einen Versorgungsstopp mit Medikamenten geben wird. Ein großes Problem ist allerdings, dass Brasilien nicht alle Medikamente selbst herstellen kann, weil das technologische Wissen fehlt. Vermutlich wird die Regierung daher fortfahren, der Pharmaindustrie ihre Medikamente abzukaufen. Diese will zwar nicht, dass ihre Patente gebrochen werden. So lange Brasilien aber alles zum gewohnten Preis abnimmt, werden sie sich vermutlich nicht weigern zu verkaufen. Denn damit würden sie einen großen Absatzmarkt verlieren. Denkbar ist aber leider auch hier, wie im Falle einer Zwangslizenz, dass die USA oder Europa Sanktionen auf bestimmte brasilianische Waren erheben.

Wie steht Ihre Organisation, die Associação Brasileira Interdisciplinar de AIDS zu dem Gesetzesprojekt?

Wir halten diesen Schritt für richtig. Allerdings geht er uns nicht weit genug. Wir wollen kein Privileg für Aids. Wir fordern, dass Brasilien auch die Patente auf Medikamente gegen andere epidemische Krankheiten wie Tuberkulose; Malaria, Hepatitis aberkennt. Der Zugang zu allen Arzneien muss erleichtert werden.

Ohne technisches Know-How bleibt Brasilien abhängig von der Pharmaindustrie. Wäre es nicht sinnvoller zunächst einen Weg zu suchen, sich dieses Wissen anzueignen?

Eigentlich hätte das längst passieren sollen. Das Trips-Abkommen besagt, dass der Hersteller sein Medikament patentieren lassen darf und damit 20 Jahre seine industriellen und geistigen Eigentumsrechte schützt. Es sagt aber auch, dass dieser sein technologisches Wissen an die Entwicklungsländer weitergeben soll. In Brasilien ist das alles nicht passiert. Brasilien muss aber eine Autonomie aufbauen, um seine Aidspolitik allein bestimmen zu können. Nur so kann auch eine dauerhafte Behandlung der HIV-Infizierten garantiert werden. Das heißt nicht einmal, dass neue Generika, die Brasilien produzieren würde, billiger sein müssten als Markenprodukte.
Die Pharmaindustrie ist sehr mächtig. Sie versucht ständig, für Verwirrung zu sorgen. Zugang zu Generika verkauft sie beispielsweise als Biopiraterie. Aber das ist es nicht. Biopiraterie heißt, dass man etwas kopiert, ohne dafür zu zahlen und ohne Genehmigung. Die Herstellung von Generika hingegen ist erlaubt. Sie ist durch internationale Abkommen geregelt und es werden Gebühren an die Pharmakonzerne gezahlt.

Bereits Anfang Mai hatte Brasilien im Kampf gegen Aids für internationale Schlagzeilen gesorgt. Es ist das erste Land, das amerikanische Hilfsgelder in Höhe von 40 Millionen US-Dollar abgelehnt hat. Warum?

Für ein so großes Land wie Brasilien ist es gar nicht so viel Geld. Und es ist nicht für Behandlungen von HIV-Positiven, sondern vor allem für Aufklärungsprojekte gedacht. Entscheidend aber war, dass das Geld an Auflagen geknüpft war, die Brasilien nicht akzeptiert. Die USA zahlen beispielsweise nicht an Länder, in denen Prostitution legal ist. Das ist aber in Brasilien der Fall. Es gibt sogar eine Empfehlung, die besagt, dass Prostituierte mit in die Aidspolitik einbezogen werden müssen. Die brasilianische Regierung hatte es zwar geschafft, den Schwerpunkt der Prävention auf Abstinenz und Treue statt auf Kondome zu verhindern. In punkto Prostitution ließen die USA aber nicht mit sich reden.

Haben alle Aids-Kranken in Brasilien Zugang zu einer Behandlung, einer so genannten antiretroviralen Therapie?

Die brasilianische Regierung stellt seit 1996 die notwendigen Medikamente für alle Betroffenen kostenlos zur Verfügung. Heute werden rund 154.000 Menschen behandelt.
Besonders stark betroffen sind derzeit Homosexuelle aus der Mittelschicht und verheiratete Frauen. Die Frauen leben monogam und fühlen sich so sicher vor Aids. Das Problem ist, ihre Ehemänner sind nicht treu und infizieren sie. Die Männer merken selbst erst sehr spät, dass sie erkrankt sind, da sie im Gegensatz zu Frauen nicht regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen gehen müssen. Und es ist leider auch noch immer so, dass viele heterosexuelle Männer glauben, Aids könnten nur Homosexuelle bekommen.

KASTEN:
Trips
Die Hoffnung auf einen besseren Außenhandel bringt Entwicklungsländer dazu, sich der Welthandelsorganisation anzuschließen. Doch damit müssen sie auch das seit 1995 bestehende internationale Abkommen zum Schutz geistigen Eigentums unterzeichnen: das Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights kurz Trips. Darunter fallen unter anderem Patente, Urheberrechte, Markenrechte. Ein Verstoß kann mit empfindlichen Handelssanktionen bestraft werden.
Der Vertrag war nicht zuletzt unter dem Einfluss transnationaler Pharmakonzerne zustande gekommen, die den Export ihrer Technologien in Entwicklungsländer gegen illegales Kopieren schützen wollten. Trips verpflichtet beispielsweise dazu, für alle Medikamente, die nach 1995 patentiert wurden, einen Patentschutz über 20 Jahre einzuführen. Für die Entwicklungsländer werden dadurch viele Medikamente unbezahlbar. Die meisten hatten bis dahin keine Patente für Arzneimittel anerkannt. Zumindest für die 49 ärmsten Mitgliedsländer hat die WTO eine Übergangsfrist festgelegt. Bis 2016 müssen sie das Trips-Abkommen implementieren.

Zwangslizenzen
Im November 2001 wurde die so genannte Doha-Erklärung verabschiedet. Sie räumt allen WTO-Mitgliedern das Recht ein, den durch Trips geregelten Patentschutz im Falle der öffentlichen Bedrohung der Gesundheit auszusetzen. Um den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten, die als Originalpräparate für arme Länder oft unerschwinglich sind, zu sichern, erhielt jedes Mitgliedsland das Recht, auf Basis einer Zwangslizenz patentierte Medikamente im eigenen Land zu produzieren.
Im Vorfeld muss mit dem Patentinhaber jedoch um eine Produktions-Bewilligung verhandelt worden sein. Nur wenn der kein Angebot zu „angemessenen kommerziellen Bedingungen und Auflagen“ macht, greift die Doha-Erklärung. Im Falle einer Zwangslizenz muss der Original-Hersteller jedoch nach wie vor mit einer jährlichen Lizenzgebühr adäquat entschädigt werden.

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