Der schwarze Mittwoch
Der schwarze Mittwoch
“Seit 25 Jahren gab es keinen solchen Polizeieinsatz mehr, selbst während der Militärdiktatur (1973-1984) haben die Milicos bei den verbotenen Demonstrationen zwar übel geprügelt und Gas und Gummigeschosse eingesetzt, aber nie scharf auf unbewaffnete DemonstrantInnen geschossen”, berichtet eine ältere Aktivistin. Die Regierung verkündete derweil in Abwesenheit des auf Wahlkampftour befindlichen Präsidenten, es habe mehr verletzte Polizisten als DemonstrantInnen gegeben und verteidigt ihr Vorgehen damit, daß sie entschlossen gegen internationalen wie nationalen Terrorismus vorgehen müsse. Innenminister Gianola sah zunächst keine Veranlassung, dem Parlament Rede und Antwort zu stehen. Er begab sich erst dann ins Abgeordnetenhaus, als am 7.September die notwendige Stimmenzahl, für die Erzwingung einer großen Anfrage zusammenkam, bei der er sich den Fragen der ParlamentarierInnen stellen mußte.
Zahlreiche Gewerkschaften, soziale Organisationen, u.a. auch das Linksbündnis Frente Amplio fordern den Rücktritt des Innenministers. Menschenrechtsorganisationen, Kirchen, Gewerkschaften und viele nationale und internationale Verbände und Organisationen haben Protestschreiben geschickt und fordern eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle. Im Parlamentsausschuß für Menschenrechte werden Videoaufnahmen gesichtet, und ein Richter nimmt die Anzeigen von Betroffenen und Zeugen auf. Die spanische Regierung hingegen schickt Noten, in denen beteuert wird, daß viele Menschen in Uruguay “offensichtlich ungenügend oder falsch informiert sind”.
Der Entzug der Sendelizenz für Radio Panamericana CX 44 und die 48stündige Schließung von Radio CX 36 – beide hatten ständig aktuell über die Situation vor der Klinik El Filtro berichtet – lösten auch international heftige Proteste aus. Der Innenminister versucht offensichtlich im Zuge des Wahlkampfs in die Offensive zu gehen. Er spricht von ultralinken Splittergruppen (er meint damit in erster Linie die MLN Tupamaros), die die gewalttätigen Auseinandersetzungen provoziert hätten und beschuldigt zwei Radiosender, zur Gewalt angestiftet zu haben. Ein Staatsanwalt gibt bekannt, daß er Strafverfahren gegen verantwortliche Redakteure bzw. die Direktion von Radio Panamericana einleiten wird. Vorwurf: Falschinformation, Verunglimpfung von Staatsorganen etc.
Die baskischen Gefangenen in Uruguay
Der Fall der baskischen Gefangenen hatte in Uruguay erheblichen Wirbel ausgelöst. Am 15.Mai 1992 wurden in einer Großaktion der uruguayischen Polizei insgesamt 24 Baskinnen und Basken, teilweise mit ihren Kindern, festgenommen. Bis auf sechs wurden die meisten sehr schnell wieder freigelassen. Die Vorwürfe gingen vom Besitz falscher Personaldokumente bis zur Mitgliedschaft in der ETA. Schon bei den polizeilichen Ermittlungen gab es einige Unregelmäßigkeiten und Rechtsbrüche, so wurden z.B. auch die Kinder der Festgenommenen, einige davon waren minderjährig, erkennungsdienstlich behandelt und verhört. Bei den Hausdurchsuchungen und Verhören in Montevideo waren auch spanische Polizeibeamte zugegen, und Staatsanwalt Langón gab schon vor dem Abschluß der Verfahren im Fernsehen etwas voreilig bekannt, daß die Ausweisungen vollzogen würden.
Es gründete sich daraufhin relativ schnell ein unabhängiges Komitee zur Unterstützung der baskischen Gefangenen. Es wurden Veranstaltungen und Demonstrationen organisiert, Weihnachtspakete in den Knast geschickt und die “Kommission für Recht auf Asyl” sammelte letztes Jahr über 25.000 Unterschriften.
Zur Chronologie der Ereignisse
Nach 27 Monaten Gefängnis beginnen am 11. August die drei baskischen Gefangenen Jesús Goitia, Mikel Ibañez und Luis María Lizarralde einen Hungerstreik “bis zur letzten Konsequenz”, um nicht an Spanien ausgeliefert zu werden.
Freitag, 19.August:
Der Staatsanwalt unterschreibt die Aussetzung des Verfahrens, weswegen die Basken in Uruguay verurteilt waren (gefälschte Papiere). Die Basken können jetzt an die spanischen Behörden übergeben werden. Sie beschließen neben ihrem Hungerstreik, sofort einen Durststreik zu beginnen und werden in die Klinik “El Filtro” verlegt.
Samstag, 20.August:
Mehrere hundert Leute versammeln sich vor der Klinik, um ihre Solidarität mit den Basken zum Ausdruck zu bringen. Weder die Anwälte noch Abgeordnete der Frente Amplio dürfen mit den Gefangenen sprechen. Die Presse trifft vor dem Hospital ein, um Interviews zu machen und zu berichten.
Sonntag, 21.August:
Der Gesundheitszustand der drei Basken verschlechtert sich nach Auskunft der behandelnden Ärzte kontinuierlich. (Es ist der 11. Tag des Hungerstreiks).
Die mesa representativa des Gewerkschaftsdachverbandes PIT-CNT ruft für den kommenden Tag alle ArbeiterInnen zur Kundgebung vor dem Krankenhaus Filtro auf. Das Linksbündnis Frente Amplio erabschiedet eine Erklärung, in der das Recht auf Asyl für die drei Basken gefordert wird. Rund um die Uhr sind Menschen vor der Klinik präsent.
Montag, 22.August:
Die Gewerkschaft der LehrerInnen der staatlichen Schulen beschließt, an diesem Tag zu streiken. Auch die Uni beendet ihre Kurse um 10 Uhr. Am Krankenhaus Filtro werden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Der Erzbischof von Montevideo ruft dazu auf, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen. Innenminister Gianola bleibt dabei, daß die Solidaritätsdemos lediglich politische Motive hätten und kündigt an, daß die Auslieferung am Mittwoch, dem 24.8. durchgeführt werde. Am gleichen Tag wird bekannt, daß ein Flugzeug des spanischen Königs, ausgestattet mit Geräten für Intensivmedizin, die drei Basken abholen wird. 30.000 Unterschriften werden zur Unterstützung eines Gesetzesantrags vorgelegt, der die Auslieferung an Spanien untersagt. Während sich der Gesundheitszustand der drei Basken ständig verschlechtert, treffen immer mehr Menschen vor der Klinik ein. Ein großer Demonstrationszug trifft gegen 21.30 Uhr vor der Klinik ein. Alle Bemühungen, politisches Asyl fÜr die Basken zu erreichen, sind bislang gescheitert, die Regierung beharrt auf ihrer Haltung: “Es gibt einen Beschluß der Justiz zur Auslieferung der Basken, wer gegen die Ausführung dieses Beschlusses agiert, richtet sich gegen die Staatsgewalt.” Es wird berichtet, daß mehrere Beamte der spanischen Polizei in Montevideo anwesend seien, was jedoch nicht offiziell bestätigt wird. Der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT ruft zum Streik und zu einer Kundgebung vor dem Krankenhaus Filtro auf. Die Medien berichten laufend über die Auslieferung der Basken und über die Demonstrationen.
Dienstag, 23.August:
Viele Sektoren der Wirtschaft, wie Banken, Transport und Bildung beteiligen sich am Streik. Tausende ziehen während des Tages vor die Klinik Filtro. Innenminister Gianola nennt den Hungerstreik eine “Erpressung”.
Luis María Lizarralde hat Nierenfunktionsstörungen und Jesús Goitia wird wegen Herzbeschwerden auf die Intensivstation verlegt. Ein Versuch, das politische Asyl für die Basken über die Kommission für Menschenrechte im Abgeordnetenhaus zu erreichen, scheitert ebenfalls. Der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT entscheidet mit knapper Mehrheit den Generalstreik ab Mitternacht auszusetzen. Für den Mittwoch wird jedoch zu einer erneuten Kundgebung vor der Klinik aufgerufen. Der uruguayische Botschafter in Madrid teilt mit, er habe via Telefon Morddrohungen erhalten. Vertreter von Herri Batasuna erklären einen Tag später, daß die ETA nichts mit diesem anonymen Anruf zu tun habe und nicht Uruguay, sondern lediglich die spanische Regierung für die Situation verantwortlich sei.
Ein Parlamentsabgeordneter von Herri Batasuna ist in Montevideo eingetroffen und führt Gespräche mit Parlamentariern, um die Auslieferung der drei Basken zu verhindern.
Mittwoch, 24.August:
Die Lage im Umfeld der Klinik, die seit Samstag von starken Polizeieinheiten abgeriegelt ist, verschärft sich. Es gibt mehrere Verletzte, als die Polizei in den Morgenstunden einen Platz nahe der Klinik räumt. Immer mehr Menschen kommen während des Tages zum Filtro. Seit mehr als vier Tagen sind trotz naßkaltem Wetter rund um die Uhr Leute vor Ort.
Um 15.30 Uhr fordert Minister Gianola die Menschen auf, sich zurückzuziehen und teilt mit, daß die Polizei jedem Versuch, den Abtransport zu verhindern, mit allen Mitteln entgegentreten werde. Das Flugzeug aus Spanien trifft mit Verspätung ein, weil der Flughafen in Montevideo abgeriegelt und nach Bomben durchsucht wird. Gegen 17 Uhr befinden sich etwa 10.000 DemonstrantInnen vor der Klinik im Stadtteil Jacinto Vera. Die Polizei beginnt, mit Schlagstöcken, Gasgranaten und berittenen Spezialeinheiten gegen die Demonstration vorzugehen. Journalisten und Fernsehleute werden von der Polizei angegriffen. Obwohl es bereits die ersten ernsthaften Verletzten gibt, bleibt eine Menge Leute jeder Altersstufe vor der Klinik präsent. Es sind Menschen aus Betrieben und Schulen, VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen, SchülerInnen und StudentInnen, VertreterInnen von politischen Parteien etc.
Radio Panamericana erhält Drohanrufe und Morddrohungen gegen JournalistInnen.
Kurz nach 20 Uhr fahren fünf Krankenwagen, eskortiert von neun Polizeifahrzeugen, zur Klinik. Sie wählen genau die Zufahrtsstraße, auf der die Mehrheit der DemonstrantInnen versammelt ist. Die Polizei beginnt, in die Menge zu schießen. Spezialeinheiten der Polizei, teilweise beritten, prügeln auf die DemonstrantInnen ein. Es sind via Radio und Fernsehen Schüsse zu hören.
Originalton Fernsehkanal 10: “Was passiert gerade?” – “Es ist furchtbar, die Polizei schießt auf die Leute. Hört ihr nicht die Schüsse?” – “Wie, Schüsse, gibt es einen Schußwechsel?” – “Nun, ich werde mich jetzt nicht in die Schußlinie begeben, um zu sehen, ob aus verschiedenen Richtungen gefeuert wird.”
Der Stadtteil Jacinto Vera ist von der Polizei abgeriegelt, in zahlreichen Straßen ist der Strom abgestellt worden. Über Radio Panamericana CX 44 und Radio CX 36 Centenario berichten die ReporterInnen zum letzten Mal über diesen Polizeieinsatz. Die Sender haben sich zu einer gemeinsamen Ausstrahlung entschlossen. Es sind Schüsse und Schreie von Verletzten zu hören. Die JournalistInnen bitten dringend, Krankenwagen nach Jacinto Vera zu schicken. Radio Panamericana fordert alle Leute, vor allem die Jüngeren, auf, sich um Gottes Willen aus dieser Zone zurückzuziehen, in der die Polizei im Schutze der Dunkelheit regelrecht Jagd auf Menschen macht.
Sämtliche Zufahrtsstrassen zum Flughafen sind hermetisch abgesperrt. Aus östlicher Richtung kann für einige Stunden niemand mehr nach Montevideo fahren. In verschiedenen Straßenzügen rund um den Flughafen sind Strom und Telefon abgestellt. Helikopter kreisen permanent über dem Flugfeld. 12 Krankenwagen und 30 Polizeifahrzeuge bilden die Wagenkolonne, welche die drei Basken zur Luftwaffenbasis am Flughafen Carrasco fährt, wo das spanische Flugzeug bereitsteht. Zwei uruguayische Minister übergeben die drei Basken an die spanischen Behörden.
Die Opfer
Der Demonstrant Alvaro Fernández Morroni (24 Jahre) stirbt an den Folgen seiner Schußverletzungen. Es gibt über 100 Verletzte, viele davon mit Schußverletzungen, wobei die Dunkenziffer noch höher liegen dürfte, da nicht alle Verletzten in Krankenhäusern behandelt wurden. Esteban Mazza, Angestellter im medizinischen Dienst, ist schwer verletzt. Auf ihn ist viermal geschossen worden, als er einen Verletzten versorgen wollte. Ein 18jähriger Student schwebt in Lebensgefahr, er hat u.a. eine schwere Schußverletzung am Kopf. Zahlreiche Menschen waren vorübergehend festgenommen worden.
Am Donnerstag wird der Abgeordnete von Herri Batasuna des Landes verwiesen.
Am Freitag, den 26. August, wird Alvaro Fernando Morroni beerdigt. Viele tausend Menschen beteiligen sich am Trauerzug, der auch zu einer großen Demonstration gegen Repression und Gewalt wird.
Die Regierung ordnet am gleichen Tag die Schließung von Radio CX 44 und Radio CX 36 für 48 Stunden an. Sie beruft sich dabei auf ein Dekret aus der Zeit der Militärdiktatur, in dem festgelegt wurde, daß Duplex-Sendungen (gemeinsame Ausstrahlungen) 14 Tage im voraus angemeldet werden müssen. Wenige Stunden danach ordnet die Regierung die endgültige Schließung von Radio Panamericana CX 44 an. Formaljuristisch wurde der Sender geschlossen, weil beim Eintritt neuer Gesellschafter angeblich versäumt wurde, offiziell alte Gesellschaftsteile abzutreten und sich von der Behörde die entsprechenden Stempel zu besorgen. Die politische Begründung des Innenministers ist freilich eine andere – Agitation und Aufruf zur Gewalt.
Pikanterweise operiert die Regierung mit einer Verordnung, in der an anderer Stelle auch steht, daß keine Person oder wirtschaftliche Gruppe über mehr als zwei Medien verfügen darf. Wenn dies tatsächlich angewendet würde, könnten morgen die meisten Zeitungen und Radios dichtmachen, weil einige wohlhabende Leute gleich mehrere Sender und Zeitungen haben.
Auf juristischer Ebene laufen z.Zt. Verfahren gegen diese Anordnung. Die MitarbeiterInnen von Radio Panamericana setzten sich für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze ein, und es ist schon erstaunlich, wie breit auch die internationale Solidarität mit dem geschlossenen Sender ist. So sind Faxe aus aller Welt eingetroffen von Journalistenverbänden, Parteien, Gewerkschaften, anderen Radiostationen, dem Weltverband der Comunity Radios AMARC. In mehreren Ländern wurden spontan Flugblätter verteilt und zu Spenden aufgerufen. Die vergilbte Wand im Empfangsraum des Radios ist neu mit Briefen und Solidaritätserklärungen “tapeziert”.