Nummer 243/244 - Sept./Okt. 1994 | Uruguay

Der schwarze Mittwoch

Der schwarze Mittwoch

Am 24. August geriet Uruguay für kurze Zeit in die internationalen Schlagzei­len. An diesem Tag lö­sten Spezialeinheiten der Polizei mit brachialer Gewalt eine Demons­tration von 10.000 Menschen auf. Für den 24-jährigen Alvaro Fernández Morroni hatte der Einsatz tödliche Fol­gen. Über 100 Verletzte, dar­unter viele mit Schußverletzungen, komplettieren die traurige Bilanz. Politi­sches Asyl und ein Bleiberecht für drei von der Auslie­ferung bedrohten Basken waren die Forderungen auf der Demonstration. The­men, die in Uruguay seit den Zeiten der Militärdiktatur von besonderer Brisanz sind. Damals waren tau­sende BürgerInnen des traditonell aufnahmefreundli­chen Landes selbst ins Exil gezwungen geworden. Zahlreiche soziale Organisa­tionen, Menschen­rechtsgruppen, Kirchen, Gewerkschaften und poli­tische Par­teien hatten sich aus humanitären Gründen für ein Blei­berecht der Basken eingesetzt, denn auch in Uruguay sind Be­richte von internationalen Menschen­rechtsgruppen veröffentlicht worden, die besagen, daß baskische Ge­fangene auf Polizeirevie­ren und in den spanischen Knästen mißhandelt und ge­foltert werden.

Curd Udo Jürgens

“Seit 25 Jahren gab es keinen solchen Po­lizeieinsatz mehr, selbst während der Mi­litärdiktatur (1973-1984) haben die Mili­cos bei den verbotenen Demonstrationen zwar übel geprügelt und Gas und Gummi­geschosse eingesetzt, aber nie scharf auf unbe­waffnete DemonstrantInnen geschos­sen”, berichtet eine ältere Aktivistin. Die Regierung verkündete derweil in Abwe­senheit des auf Wahlkampftour befindli­chen Präsidenten, es habe mehr verletzte Polizisten als DemonstrantInnen gegeben und vertei­digt ihr Vorgehen damit, daß sie entschlossen gegen interna­tionalen wie nationalen Terrorismus vorgehen müsse. Innenmi­nister Gianola sah zunächst keine Veranlassung, dem Parlament Rede und Antwort zu stehen. Er begab sich erst dann ins Abgeordnetenhaus, als am 7.September die notwendige Stimmen­zahl, für die Erzwingung einer großen An­frage zusammen­kam, bei der er sich den Fragen der ParlamentarierInnen stel­len mußte.
Zahlreiche Gewerkschaften, soziale Orga­nisationen, u.a. auch das Linksbündnis Frente Amplio fordern den Rücktritt des Innenministers. Menschenrechtsorganisa­tionen, Kirchen, Gewerkschaften und viele nationale und internationale Ver­bände und Organisationen haben Protest­schreiben geschickt und for­dern eine un­abhängige Untersuchung der Vorfälle. Im Parlamentsausschuß für Menschenrechte werden Videoaufnahmen gesichtet, und ein Richter nimmt die Anzeigen von Be­troffenen und Zeugen auf. Die spanische Regierung hingegen schickt No­ten, in denen beteuert wird, daß viele Menschen in Uruguay “offensichtlich ungenügend oder falsch informiert sind”.
Der Entzug der Sendelizenz für Radio Panamericana CX 44 und die 48stündige Schließung von Radio CX 36 – beide hat­ten ständig aktuell über die Situation vor der Klinik El Filtro berichtet – lösten auch international heftige Proteste aus. Der Innenminister versucht offensichtlich im Zuge des Wahlkampfs in die Offensive zu gehen. Er spricht von ultralinken Splitter­gruppen (er meint damit in erster Linie die MLN Tupamaros), die die ge­walttätigen Auseinandersetzungen provo­ziert hätten und beschuldigt zwei Ra­diosender, zur Gewalt angestiftet zu ha­ben. Ein Staats­anwalt gibt bekannt, daß er Strafverfahren gegen verantwortliche Redakteure bzw. die Direktion von Radio Panamericana einleiten wird. Vorwurf: Falschinforma­tion, Verun­glimpfung von Staatsorganen etc.
Die baskischen Gefangenen in Uruguay
Der Fall der baskischen Gefangenen hatte in Uruguay erhebli­chen Wirbel ausgelöst. Am 15.Mai 1992 wurden in einer Großak­tion der uruguayischen Polizei insgesamt 24 Baskinnen und Basken, teilweise mit ihren Kindern, festgenommen. Bis auf sechs wurden die meisten sehr schnell wieder freigelassen. Die Vorwürfe gingen vom Besitz falscher Personaldokumente bis zur Mitgliedschaft in der ETA. Schon bei den polizeilichen Ermittlungen gab es einige Unregelmäßigkeiten und Rechts­brü­che, so wurden z.B. auch die Kinder der Festgenommenen, ei­nige da­von waren minderjährig, erkennungs­dienstlich be­handelt und verhört. Bei den Hausdurch­suchungen und Verhören in Montevideo waren auch spanische Poli­zeibeamte zu­gegen, und Staatsanwalt Langón gab schon vor dem Abschluß der Verfah­ren im Fernsehen etwas voreilig bekannt, daß die Ausweisun­gen vollzogen würden.
Es gründete sich daraufhin relativ schnell ein unabhängiges Komitee zur Unterstüt­zung der baskischen Gefangenen. Es wur­den Veranstaltungen und Demonstratio­nen organisiert, Weihnachtspakete in den Knast geschickt und die “Kommission für Recht auf Asyl” sammelte letztes Jahr über 25.000 Unterschriften.
Zur Chronologie der Ereignisse
Nach 27 Monaten Gefängnis beginnen am 11. August die drei baskischen Ge­fangenen Jesús Goitia, Mikel Ibañez und Luis María Lizarralde einen Hunger­streik “bis zur letzten Konse­quenz”, um nicht an Spanien ausgeliefert zu werden.
Freitag, 19.August:
Der Staatsanwalt unterschreibt die Aus­setzung des Verfahrens, weswegen die Basken in Uruguay verurteilt waren (gefälschte Papiere). Die Basken können jetzt an die spanischen Behörden überge­ben werden. Sie beschließen neben ihrem Hungerstreik, sofort einen Durststreik zu beginnen und werden in die Klinik “El Filtro” verlegt.
Samstag, 20.August:
Mehrere hundert Leute versammeln sich vor der Klinik, um ihre Solidarität mit den Basken zum Ausdruck zu bringen. Weder die Anwälte noch Abgeordnete der Fren­te Amplio dürfen mit den Gefangenen spre­chen. Die Presse trifft vor dem Ho­spital ein, um Interviews zu ma­chen und zu be­richten.
Sonntag, 21.August:
Der Gesundheitszustand der drei Basken verschlechtert sich nach Auskunft der be­handelnden Ärzte kontinuierlich. (Es ist der 11. Tag des Hungerstreiks).
Die mesa representativa des Gewerk­schaftsdachverbandes PIT-CNT ruft für den kommenden Tag alle ArbeiterInnen zur Kund­gebung vor dem Krankenhaus Filtro auf. Das Linksbündnis Frente Am­plio erabschiedet eine Erklärung, in der das Recht auf Asyl für die drei Basken gefordert wird. Rund um die Uhr sind Menschen vor der Klinik präsent.
Montag, 22.August:
Die Gewerkschaft der LehrerInnen der staatlichen Schulen beschließt, an diesem Tag zu streiken. Auch die Uni beendet ihre Kurse um 10 Uhr. Am Krankenhaus Filtro werden die Sicherheitsvorkehrungen ver­schärft. Der Erzbischof von Montevideo ruft dazu auf, alle rechtlichen Möglich­keiten auszuschöpfen. Innenmini­ster Gia­nola bleibt dabei, daß die Soli­daritätsdemos le­diglich politische Motive hätten und kün­digt an, daß die Ausliefe­rung am Mitt­woch, dem 24.8. durchge­führt werde. Am gleichen Tag wird be­kannt, daß ein Flug­zeug des spanischen Königs, ausgestattet mit Ge­räten für Intensivmedi­zin, die drei Basken abholen wird. 30.000 Unter­schriften wer­den zur Unterstützung eines Gesetzesan­trags vor­gelegt, der die Auslieferung an Spanien untersagt. Wäh­rend sich der Gesund­heitszustand der drei Basken stän­dig ver­schlechtert, treffen immer mehr Menschen vor der Klinik ein. Ein großer Demonstrationszug trifft gegen 21.30 Uhr vor der Klinik ein. Alle Bemühungen, po­litisches Asyl fÜr die Basken zu errei­chen, sind bislang ge­scheitert, die Regie­rung beharrt auf ihrer Hal­tung: “Es gibt einen Beschluß der Ju­stiz zur Ausliefe­rung der Basken, wer ge­gen die Ausfüh­rung dieses Beschlusses agiert, richtet sich gegen die Staatsge­walt.” Es wird berich­tet, daß mehrere Be­amte der spanischen Polizei in Monte­video anwesend seien, was jedoch nicht offiziell bestätigt wird. Der Gewerk­schaftsdachverband PIT-CNT ruft zum Streik und zu einer Kundgebung vor dem Krankenhaus Filtro auf. Die Medien be­richten laufend über die Auslieferung der Basken und über die Demon­strationen.
Dienstag, 23.August:
Viele Sektoren der Wirtschaft, wie Ban­ken, Transport und Bildung beteiligen sich am Streik. Tausende ziehen während des Tages vor die Klinik Filtro. Innenminister Gianola nennt den Hungerstreik eine “Erpressung”.
Luis María Lizarralde hat Nierenfunkti­onsstörungen und Jesús Goitia wird we­gen Herzbeschwerden auf die Intensivsta­tion verlegt. Ein Versuch, das politische Asyl für die Basken über die Kommission für Menschenrechte im Abgeordnetenhaus zu er­reichen, scheitert ebenfalls. Der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT ent­scheidet mit knapper Mehrheit den Gene­ralstreik ab Mitternacht auszusetzen. Für den Mittwoch wird jedoch zu ei­ner er­neuten Kundgebung vor der Klinik auf­gerufen. Der uru­guayische Botschafter in Madrid teilt mit, er habe via Telefon Morddrohungen erhalten. Vertreter von Herri Batasuna erklären einen Tag später, daß die ETA nichts mit diesem anonymen An­ruf zu tun habe und nicht Uruguay, sondern lediglich die spa­nische Regierung für die Situation verantwortlich sei.
Ein Parlamentsabgeordneter von Herri Batasuna ist in Montevideo eingetroffen und führt Gespräche mit Parlamenta­riern, um die Auslieferung der drei Basken zu verhindern.
Mittwoch, 24.August:
Die Lage im Umfeld der Klinik, die seit Samstag von starken Polizeieinheiten ab­geriegelt ist, verschärft sich. Es gibt mehrere Verletzte, als die Polizei in den Morgenstunden einen Platz nahe der Kli­nik räumt. Immer mehr Menschen kom­men während des Tages zum Filtro. Seit mehr als vier Tagen sind trotz naßkaltem Wetter rund um die Uhr Leute vor Ort.
Um 15.30 Uhr fordert Minister Gianola die Menschen auf, sich zurückzuziehen und teilt mit, daß die Polizei jedem Ver­such, den Abtransport zu verhindern, mit allen Mitteln entgegentre­ten werde. Das Flugzeug aus Spanien trifft mit Verspä­tung ein, weil der Flughafen in Montevi­deo abgeriegelt und nach Bomben durch­sucht wird. Gegen 17 Uhr befinden sich etwa 10.000 DemonstrantInnen vor der Klinik im Stadtteil Jacinto Vera. Die Polizei beginnt, mit Schlagstöcken, Gas­granaten und berittenen Spezialeinheiten gegen die Demonstration vorzugehen. Journalisten und Fernsehleute werden von der Polizei angegriffen. Obwohl es bereits die ersten ernsthaften Verletz­ten gibt, bleibt eine Menge Leute jeder Altersstufe vor der Klinik präsent. Es sind Menschen aus Betrieben und Schulen, VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen, SchülerInnen und StudentInnen, VertreterInnen von politi­schen Parteien etc.
Radio Panamericana erhält Drohanrufe und Morddrohungen ge­gen Journali­stInnen.
Kurz nach 20 Uhr fahren fünf Kranken­wagen, eskortiert von neun Polizei­fahrzeugen, zur Klinik. Sie wählen genau die Zufahrtsstraße, auf der die Mehrheit der DemonstrantInnen versammelt ist. Die Polizei beginnt, in die Menge zu schießen. Spezialeinheiten der Polizei, teilweise be­ritten, prügeln auf die DemonstrantInnen ein. Es sind via Radio und Fernsehen Schüsse zu hören.
Originalton Fernsehkanal 10: “Was pas­siert gerade?” – “Es ist furchtbar, die Poli­zei schießt auf die Leute. Hört ihr nicht die Schüsse?” – “Wie, Schüsse, gibt es einen Schußwechsel?” – “Nun, ich werde mich jetzt nicht in die Schußlinie begeben, um zu sehen, ob aus verschiedenen Rich­tungen gefeuert wird.”
Der Stadtteil Jacinto Vera ist von der Po­lizei abgeriegelt, in zahlreichen Straßen ist der Strom abgestellt worden. Über Radio Panamericana CX 44 und Radio CX 36 Centenario berich­ten die ReporterInnen zum letzten Mal über diesen Polizeiein­satz. Die Sender haben sich zu einer ge­meinsamen Ausstrahlung entschlossen. Es sind Schüsse und Schreie von Verletzten zu hören. Die JournalistInnen bitten drin­gend, Krankenwagen nach Jacinto Vera zu schicken. Radio Panamericana fordert alle Leute, vor allem die Jüngeren, auf, sich um Gottes Willen aus dieser Zone zurück­zuziehen, in der die Polizei im Schutze der Dunkelheit regelrecht Jagd auf Menschen macht.
Sämtliche Zufahrtsstrassen zum Flughafen sind hermetisch abgesperrt. Aus östlicher Richtung kann für einige Stunden nie­mand mehr nach Montevideo fahren. In verschiedenen Straßenzügen rund um den Flughafen sind Strom und Telefon abge­stellt. Helikopter kreisen permanent über dem Flugfeld. 12 Krankenwagen und 30 Polizeifahrzeuge bilden die Wagenko­lonne, welche die drei Basken zur Luft­waffenbasis am Flughafen Carrasco fährt, wo das spanische Flugzeug bereitsteht. Zwei uruguayische Minister übergeben die drei Basken an die spani­schen Behör­den.
Die Opfer
Der Demonstrant Alvaro Fernández Mor­roni (24 Jahre) stirbt an den Folgen seiner Schußverletzungen. Es gibt über 100 Ver­letzte, viele davon mit Schußverletzungen, wobei die Dunken­ziffer noch höher liegen dürfte, da nicht alle Verletzten in Kran­kenhäusern behandelt wurden. Esteban Mazza, Angestellter im medizinischen Dienst, ist schwer verletzt. Auf ihn ist viermal geschossen worden, als er einen Verletzten versorgen wollte. Ein 18jähriger Student schwebt in Lebensge­fahr, er hat u.a. eine schwere Schußverletzung am Kopf. Zahlreiche Menschen waren vorübergehend festge­nommen worden.
Am Donnerstag wird der Abgeordnete von Herri Batasuna des Landes verwiesen.
Am Freitag, den 26. August, wird Alvaro Fernando Morroni be­erdigt. Viele tausend Menschen beteiligen sich am Trauerzug, der auch zu einer großen Demonstration gegen Repression und Gewalt wird.
Die Regierung ordnet am gleichen Tag die Schließung von Radio CX 44 und Radio CX 36 für 48 Stunden an. Sie beruft sich da­bei auf ein Dekret aus der Zeit der Mi­litärdiktatur, in dem festgelegt wurde, daß Duplex-Sendungen (gemeinsa­me Ausstrahlungen) 14 Tage im voraus an­gemeldet werden müssen. Wenige Stun­den danach ordnet die Regie­rung die end­gültige Schließung von Radio Paname­ricana CX 44 an. Formaljuristisch wurde der Sender geschlossen, weil beim Eintritt neuer Gesellschafter angeblich versäumt wurde, offiziell alte Gesell­schaftsteile ab­zutreten und sich von der Behörde die entsprechenden Stempel zu besorgen. Die politische Begrün­dung des Innenministers ist freilich eine andere – Agitation und Aufruf zur Gewalt.
Pikanterweise operiert die Regierung mit einer Verordnung, in der an anderer Stelle auch steht, daß keine Person oder wirt­schaftliche Gruppe über mehr als zwei Medien verfügen darf. Wenn dies tatsäch­lich angewendet würde, könnten morgen die meisten Zeitungen und Radios dicht­machen, weil einige wohlha­bende Leute gleich mehrere Sender und Zeitungen ha­ben.
Auf juristischer Ebene laufen z.Zt. Ver­fahren gegen diese Anordnung. Die Mit­arbeiterInnen von Radio Panamericana setz­ten sich für den Erhalt ihrer Ar­beitsplätze ein, und es ist schon erstaunlich, wie breit auch die internatio­nale Solidarität mit dem geschlossenen Sender ist. So sind Faxe aus aller Welt eingetroffen von Journalistenverbänden, Parteien, Gewerkschaften, anderen Radio­stationen, dem Weltverband der Comunity Radios AMARC. In mehreren Ländern wurden spontan Flugblätter verteilt und zu Spenden aufgerufen. Die vergilbte Wand im Empfangsraum des Radios ist neu mit Briefen und So­lidaritätserklärungen “tape­ziert”.

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