Musik | Nummer 291/292 - Sept./Okt. 1998

“Der Son repräsentiert die Menschheit“

Interview mit Juan de Marcos González, Bandleader der Afro-Cuban All Stars.

Die 40er und 50er waren die goldenen Jahre des Son, der kubanischen Nationalmusik. Stars wie Benny Moré wurden international gefeiert. Doch als in Folge der kubanischen Revolution die Verträge mit den großen Plattenfirmen aus den Vereinigten Staaten gekündigt wurden, gerieten die kubanischen Stars, wie Ibrahím Ferrer, Manuel „Puntillita“ Licea, Raúl Planas, Rubén González oder Compay Segundo, in Vergessenheit. Die Wiederauferstehung der alten Soneros begann 1996, als der Traum des 40jährigen Juan de Marcos González als Bandleaders der Afro-Cuban All Stars Wirklichkeit wurde: Musiker verschiedener Generationen trafen sich zu Sessions im legendären Egrem-Studio in Havanna. Die aus den Sessions entstandenen Alben „Buena Vista Social Club“ und „A toda Cuba le gusta“ (siehe LN 282) brachten „die Anerkennung und den Respekt, den man uns so lange versagt hatte“, freut sich der überaus agile Ferrer gemeinsam mit seinem Freund Manuel „Puntillitia“ Licea.

Knut Henkel

Von wem stammt die Idee, die alten Soneros zusammenzuführen, eine Gruppe zu gründen und alte wie neue Stücke aufzunehmen? War es Ry Cooder oder Sie?

Es war meine. Ich habe die Idee seit ungefähr 10 Jahren. Ich wollte verschiedene Generationen von Musikern zusammenführen, um gemeinsam eine Platte zu machen – eine Platte als Tribut an die kubanische Musik. Ich wollte den Geist der großen kubanischen Musik reproduzieren, ihn bewahren. 1995 kam ich in London mit Nick Gold vom Plattenlabel World Circuit ins Gespräch und schlug ihm vor, mit den Größen vergangener Zeit eine Platte in Kuba aufzunehmen. Zur gleichen Zeit hatte Nick Gold die Idee eine neue Platte mit Ry Cooder zu produzieren, dem nicht nur der Blues, sondern auch die kubanische Guajira gefiel. Die Guajira stammt aus dem Osten Kubas, und Gold und Cooder hatten Geschmack an dieser Musik gefunden. Cooder wurde zum Produzenten des Projekts erkoren. Im März 1996 gingen wir ins Studio. Alles war für die Aufnahmen mit den Afro-Cuban All Stars arrangiert. Ich glaube, daß die goldene Zeit der kubanischen Musik die 40er und vor allem die 50er Jahre waren. Aus politischen Gründen hat Kuba nach der Revolution die Anbindung an den internationalen Markt verloren. Auch die kubanische Musik war für viele Jahre von dort verschwunden. Das ist nun vorbei. Die kubanische Musik ist wieder da, sie ist gefragt und hat eine Zukunft.

Derzeit wird viel Geld mit kubanischer Musik verdient, speziell mit dem Son. Erhalten Sie und die Afro-Cuban All Stars die Tantiemen bzw. ihren Anteil für „Buena Vista Social Club“ und „A toda Cuba le gusta“?

Im großen und ganzen ist das Geschäft der Afro-Cuban All Stars meines. Ich habe gemeinsam mit einem englischen Freund eine Gesellschaft gegründet, die „Day Flower“ heißt. Es ist eine Salsa-Gesellschaft. Wir sind Partner innerhalb des Geschäftes Afro-Cuban All Stars. Bezüglich der Aufnahmen sieht es so aus, daß World Circuit die Kosten trägt, und die Einnahmen werden anteilig ausgeschüttet. Ibrahím Ferrer beispielweise verdient im Jahr mehr als in seinem ganzen Leben zuvor. Ich bin sehr zufrieden damit, denn als ich Ibrahím Ferrer suchte, fand ich ihn auf der Straße Schuhe putzend, bzw. in seinem Haus, aber für die Leute auf der Straße.

Viele Stücke sind sehr melancholisch, oder?

Einige Stücke ja – das ist der spanische Einfluß in der kubanischen Musik, den es auch in der Poesie gibt. Die soziale Poesie, die Poesie der Liebe. Dem Bolero liegt fast immer ein Liebesgedicht zu Grunde. Zur Jahrhundertwende war die Postromantik prägend, wovon der Bolero nicht unberührt blieb. Ein anderes Thema der Populärdichtkunst ist die Guaracha, die sich durch den Doppelsinn auszeichnet, der zwar schwer zu verstehen und zu interpretieren ist, aber eben nur für Außenstehende. Der doppelte Sinn der Texte ist eine typisch kubanische Angelegenheit – gleichzeitig aber genauso spanisch und afrikanisch. Andere Texte beschäftigen sich mit der Natur, mit den sozialen Verhältnissen.
Zwei oder drei Texte stammen dabei von mir, wie zum Beispiel der Danzón Habana del Este, der von meiner Familie, meinem Viertel handelt. Ein moderner Danzón. Fast alle anderen Stücke sind klassisch, aber mit modernen Elementen, denn es hat keinen Sinn, daß ein alter Mann historische Stücke singt. Wenn aber ein alter Mann in einem modernen Orchester singt, ist das eine Sache, die spannende Elemente in sich birgt, gerade wenn man an die improvisierten Parts denkt. Da sind die alten Soneros nicht zu bremsen, sprühen vor Einfallsreichtum. Es gibt einen Reim zwischen Chor und Sänger, der frei gestaltet wird und immer wieder zu beeindruckenden Improvisationen Anlaß gibt – was da so verarbeitet wird, ist phantastisch. Das ist auch eine Spezialität der kubanischen Musik, die aus Spanien kommt, genaugenommen von den Kanarischen Insel und aus dem Süden Spaniens. In ganz Lateinamerika erfreut sich diese Improvisationskunst großer Beliebtheit – die Sänger konkurrieren miteinander beim Improvisieren, wer besser, schlagkräftiger, einfallsreicher ist, dem ist der Beifall des Publikums sicher. Cameron sang beispielsweise fast gänzlich improvisiert und Pío Leyva und Félix Valoy oder Compay Segundo beherrschen es ebenfalls. Compay ist sowieso ein unglaublicher Fall, mit 92 ist er noch immer kräftiger, schlagkräftiger als wir – ein Phänomen.

Wird die Musik der Afro-Cuban All Stars auch im kubanischen Radio gespielt, zum Beispiel bei Radio Progreso?

Ja, sie wird gespielt. Wenn auch nicht so oft, wie die populäre Musik; das, was derzeit in ist. Aus historischer Perspektive ist allen kubanischen Musikern das gleiche widerfahren. Sie mußten erst im Ausland Erfolg haben, bevor sie Zuhause richtig gewürdigt wurden. Benny Moré ging nach Mexiko, wurde zu einem großen Star und kehrte nach Kuba zurück. So erging es vielen großen Sängern. Erst der Erfolg im Ausland hat sie interessant gemacht, dann wurden sie auch in Kuba gespielt. Die Musik wird letztlich durch das Radio verbreitet. In Kuba existieren nicht die kommerziellen Mechanismen wie im Ausland, wie in Mexiko. Hier ist das Radio staatlich, vieles funktioniert über Freundschaften, Promotion ist ein kaum mögliches Unterfangen und im Ausland viel leichter. Deshalb promoten wir die Platten in Kuba mit den staatlichen Stellen. Die kubanische Musik hat sich in den letzten Jahren verändert. Seitdem sich unser Land in einer Wirtschaftskrise befindet ist sie sehr kommerziell geworden, mit zu vielen amerikanischen Elementen. Ich bin Anhänger des Experimentierens. Mit Rock bin ich aufgewachsen, den Rolling Stones, Jethro Tull. In den siebziger Jahren habe ich selbst angefangen, Rock zu spielen. Die Orchestrierung der kubanischen Musik ist harmonisch, d.h. die harmonischen Regeln werden viel benutzt. Aber die kubanische Musik hat sich von der Harmonielehre wegbewegt, zu den schnellen Passagen. Seit Beginn der 90er Jahre ist viel kopiert worden, beispielweise Bassläufe von Earth Wind & Fire. Mir gefällt das nicht. Mir wird das nie gefallen: Schnelligkeit, Schnelligkeit, Schnelligkeit… Ich bin ein Verfechter von Fusionen, aber einer, der die Grenzen respektiert. Deshalb bin ich ein Fan von Rubén González. Rúben ist kubanischer Pianist, der kubanische Musik spielt und Elemente des Jazz aufnimmt, aber es ist nicht Jazz. Er trägt eben eine kubanische Flagge im Herzen.

Gibt es derzeit denn mehr Songruppen in Kuba, hat sich der Erfolg der Afro-Cuban All Stars ausgewirkt?

Ja, natürlich. An allen Ecken Kubas hat sich viel geändert. In Habana Vieja spielen nahezu alle Gruppen Son. Mehr als damals, als wir als Sierra Maestre begannen uns dem Son zu widmen, ihn zu pflegen und weiterzuentwickeln. Darunter sind viele junge Gruppen, die neue Elemente einführen. Pop-Elemente zum Beispiel, das sind interessante Neuentwicklungen. Die Gruppen suchen ihren Sound, ein junger Son, ohne daß die Struktur des Son verändert wird, ohne daß er beschnitten wird, mit Gesang hoher Qualität, zum Teil schneller, zum Teil gewöhnungsbedürftig, aber das sind sehr interessante Entwicklungen. Die Einschränkungen, die engen Grenzen, in denen wir als Folge der amerikanischen Blockade nicht nur musikalisch leben mußten, hatten auf der einen Seite schlechte, äußerst schlechte Auswirkungen. Auf der anderen war das auch positiv, da die Wurzeln der kubanischen Musik intakt blieben, nicht internationalisiert wurden. Das Embargo hat positive wie negative Aspekte.

Sind Sie Traditionalist der kubanischen Kultur?

Ich würde sagen, ein Verteidiger der kubanischen Kultur. Ich bin nach allen Seiten hin offen. Ich höre unterschiedliche Musik, verschiedene Stile. Ich habe drei Kinder, und die hören alle unterschiedliche Musik: von den Backstreet Boys über Procol Harum bis zum kubanischen Son oder ich weiß nicht die Spice Girls. Man muß das Wichtige, das Essentielle der unterschiedlichen Musiktypen entdecken. Die Klassik, die Romantik, europäische Symphonien – mir gefallen viele Stile. Auch der alte Son aus den ersten Jahren dieses Jahrhunderts, genauso wie der aktuelle Pop. Es gibt Leute, die sagen, das ist schlecht, plastisch mies. Aber nein, es gibt durchaus guten. Die erste Platte von den Spice Girls war schlecht. Aber die zweite, die war gut. Mir gefällt gute Musik, das ist es und nicht mehr. Ich bin aber auch Verteidiger der nationalen Werte. Ich bin Kubaner, das ist meine Kultur und meine Identität.

Was denken Sie über die Vieja Trova Santiaguera? War ihr Erfolg, der im Jahre 1993 begann, nicht der erste Schritt zur Wiederentdeckung des Son?

Nein, den ersten Schritt zur Wiederbelebung des Son tat 1979 Sierra Maestre. Für mich waren es zwei Orchster, die zur Wiederbelebung des Son bliesen. Sierra Maestre aus Havanna und Conjunto Son 14 aus Santiago de Cuba. Das war der Beginn für die „Wiederentdeckung“ des Son. Die Rolle der Vieja Trova ist besonders wichtig, wenn man die Resonanz im Ausland betrachtet und zugleich das kommerzielle Niveau. Vielleicht haben sie einen Durchbruch eingeläutet. Die Reihenfolge für den Erhalt und die Erneuerung der historischen Werte des Son Cubano ist: Sierra Maestre, Vieja Trova Santiaguera, Compay Segundo, Cuarteto Patria und die All-Stars.

Welche Rolle spielt der Son und die Rumba für die Identität des kubanischen Volkes?

Sie bedeuten Identität, Nationalgeist. Ich fühle mit dieser Musik. Ich fühle mich als Individuum in dieser Musik. Kuba ist ein reiches Ergebnis einer kulturellen Vermischung. Der Son ist ein Musik, der die Menschheit repräsentiert. Er hat europäische Einflüsse, wie die Harmonielehre, die Behandlung der Stimmen, aber auch afrikanische Elemente, in der Form der Percussions und in der Form, in der die harmonischen Instrumente gespielt werden. Das Trés ist ein Instrument mulatto. Es ist zur gleichen Zeit harmonisch und percussiv. Der Son ist die Essenz, der Geist der kubanischen Nationalität. Und die Rumba ist ein Fest, bei der verschiedene Genre gespielt werden, die in erster Linie afrikanische Wurzeln haben, aber auch spanische Elemente. Der erste Part der Genres, egal ob Yambú, Columbia oder Guaguancó ist Flamenco, der arabische Einfluß in der spanischen Kultur. Rumba ist die Fiesta, es ist nicht die Musik.

Sind neue Plattenaufnahmen geplant?

Ja, es gibt eine neue CD von Ibrahím Ferrer, die Ry Cooder und ich produziert haben. Ich glaube sie ist sehr gut geworden. Im September möchte ich eine Produktion mit Guillermo ‘Rubalcaba’ González, dem Pianisten machen. Im Januar folgt der zweite Part der Afro-Cuban All Stars. Dann folgt noch ein Überraschungsprojekt und eine Aufnahme mit Omara Portuondo und eine weitere mit Eliades Ochoa.

Gibt es Lösungen für Kuba aus politischer, wirtschaftlicher und kultureller Perspektive?

Ich glaube, daß es Lösungen gibt. An erster Stelle kann Kuba keine brüsken Wechsel vollziehen. Brüske Veränderungen hätten traumatische Auswirkungen, deshalb gibt es langsame, überlegte, vielleicht zögerliche oder besser bedächtige Veränderungen. Anfang der 90er stellte sich heraus, daß der bisherige Weg nicht mehr gangbar war – er hatte keine Zukunft mehr, war sinnlos geworden. Man konnte keinen Kommunismus mehr anstreben, weil es den Kommunismus nicht mehr gab, er lag am Boden. Eine schöne Idee, aber nicht praktikabel. Selbst die kleinen Veränderungen im Zuge der ökonomischen Öffnung in Kuba hatten traumatische Folgen, beispielsweise für die Leute mit niedrigem Einkommen. Ich bin damit einverstanden, daß man die Veränderungen peu á peu vornehmen muß, und ich finde die Veränderungen, die die Regierung vorgenommen hat, sehr positiv. Ich sehe die Zukunft Kubas in einem sozialdemokratischen Weg. Eine sozialdemokratische Regierung, die die Vorteile, die Errungenschaften der kubanischen Revolution erhält. Für die Revanchisten hat die Revolution nur schlechte Elemente, für die Kommunisten nur gute. Die kubanische Revolution hat erhebliche Verbesserungen in sozialer Hinsicht gezeitigt und die nationale Unabhängigkeit gebracht. Wir wollen nicht Puerto Rico werden oder Curaçao. Wir wollen unabhängig sein, das verlangt ein wenig mehr Arbeit. Nationale Unabhängigkeit, wirtschaftliche Öffnung, Liberalisierung des Kleinhandels bei gleichzeitiger Kontrolle der transnationalen Unternehmen im Land und deren Transfers. Das bedeutet weniger traumatische Veränderungen, aber auch vorerst niedrigere Einnahmen für alle. Das ist das, was ich will. Der Weg den wir gehen ist positiv.

Ist es war, daß Fidel nie tanzt und singt, wie es die Presse sagt?

Fidel ist Sportler, er soll, so sagt man, kein Gefühl für Rhythmus haben. Aber sein Bruder Raúl soll großer Fan der Guajira sein. Er tanzt und singt – ist Guajiro total.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren