Argentinien | Nummer 351/352 - Sept./Okt. 2003

Der unbekannte Präsident aus dem Pinguin-Land

Aus dem Süden Argentiniens zog Néstor Kirchner in die Casa Rosada ein

“Hurrikan K“ wird Kirchner mittlerweile liebkosend von der argentinischen Presse genannt. Er scheint im politischen Milieu aufzuräumen wie ein Derwisch. Nicht gerade die typische Charaktereigenschaft eines „Pinguins“. Als solcher wurde er noch vor Amtsantritt karikiert – als Hinweis auf seine südpatagonische Heimatprovinz.

Myriam Pelazas

Die weitläufige argentinische Provinz Santa Cruz ist ein Geheimnis in schwarz-weiß. 144.000 Quadratkilometer flaches Land mit einer lang gestreckten Küste, Seen und Gletschern. Die Landschaft entzückt Tausende von Touristen aus dem Ausland. Die Provinz mit ihren 200.000 Einwohnern ist so etwas wie ein anderes Argentinien – fernab der Probleme in Buenos Aires. Die Provinz hat reiche Erdölvorkommen: die Ursache für den verhältnismäßig großen Reichtum und den hohen Lebensstandard der Bewohner. Darüber hinaus besitzt Santa Cruz Devisen im Wert von 527 Millionen US-Dollar in Luxemburg, denen der „Corralito“ Ende 2001 nichts anhaben konnte. Diese Reserve, um die es viele Kontroversen und Spekulationen gab, hat viel mit der Person Néstor Kirchners zu tun, dem dreimaligen Gouverneur von Santa Cruz und jetzigen Präsidenten Argentiniens.

Werdegang mit harter Hand

Verschiedene politische Analysten stimmen darin überein, dass Kirchner in Buenos Aires wie „ein Mann mit offenem Denken“ erscheint. In seiner Provinz ist er vor allem als „Mann der harten Hand“ bekannt. In Santa Cruz wurde er wiederholt gewählt, weil es ihm schon in seiner ersten Amtsperiode gelang, die Verfassung der Provinz zu ändern. Seitdem existiert in Santa Cruz keine nennenswerte Opposition mehr. Funktionäre und Richter, die nicht mit seiner Politik übereinstimmten, wurden zum Rücktritt gezwungen. Medien, die eine kritische Haltung zu seiner Politik einnahmen, wurden von offiziellen Informationen ausgeschlossen. So wurde eine wirksame Abschreckung aufgebaut, um Journalisten davon abzuhalten, den Gouverneur zu belästigen oder Unruhe zu stiften. 1995 erreichte Kirchner 65 Prozent der Wählerstimmen und 1999 56 Prozent aller Stimmen. Ein Grund dafür: Santa Cruz ist die Provinz, in der im vergangenen Jahrzehnt der höchste Prozentsatz des Haushalts in Argentinien in die Bildung investiert wurde. Das führte zur geringsten Analphabetenquote im ganzen Land. Der Umgang mit der Opposition spielte dabei keine Rolle.

Kirchners Biographie

Im Stammbaum des Präsidenten, der am 25. April 1950 in der Stadt Río Gallegos in Santa Cruz geboren wurde, finden sich Deutsche, Schweizer und kroatische Vorfahren, die alle in den 20er Jahren nach Patagonien eingewandert waren. Aus dieser Zeit fallen Schatten auf seine Biografie. Großvater Carlos Kirchner war Großgrundbesitzer. Als Gemeinschaft drängten Großgrundbesitzer – wie es Osvaldo Bayer schonungslos in seinem Buch „La Patagonia Rebelde“ offengelegt hat – das Militär dazu, mehr als achthundert Landarbeiter, die sich gegen ihre Ausbeutung wehrten, zu erschießen. Néstor Kirchners Vater, von dem er seinen Namen geerbt hat, stieg vom Postangestellten zum Zahlmeister auf. Er konnte ein bescheidenes Vermögen ansparen, mit dem er seine Frau und seine drei Kinder gut versorgen konnte.
Néstor Kirchner begann seine Ausbildung an der Universität von La Plata, wie viele andere Jugendliche aus dem Süden Argentiniens auch. Hier war er während der angespannten 70er Jahre in einer Gruppe aktiv, die sich „Revolutionäre Tendenz der Peronistischen Jugend“ nannte. In diesem Zusammenhang lernte er seine Frau, die heutige Senatorin Christina Fernández kennen. Beide erlangten in La Plata ihren Abschluss als Rechtsanwälte und eröffneten später eine Kanzlei in Santa Cruz. Während der Militärdiktatur war Kirchner für kurze Zeit inhaftiert. Bis zur Wiedereinführung der Demokratie zog er sich ins Private zurück. Dann erhielt er im Jahre 1983 eine öffentliche Anstellung bei der Sozialkasse seiner Provinz. 1977 wurde sein Sohn Máximo geboren, 1990 seine Tochter Florencia. Im Lauf der Zeit war es dem nicht sehr auffällig auftretenden Paar gelungen, politischen Einfluss zu gewinnen.

Das neueKabinett Kirchners

Kirchner kam aus dem Süden, aber er kam nicht alleine. Seine Ehefrau war schon viele Jahre zuvor als Senatorin der Provinz Santa Cruz nach Buenos Aires gegangen. Nach seinem Wahlsieg kam der neue erste Mann des Staates im Mai diesen Jahres mit einem „Heer“ von fast dreihundert Männern und einigen wenigen Frauen in der Hauptstadt an. Alles neue Gesichter, die absolut loyal zu „Lupo“, wie der Präsident in seiner Provinz genannt wird, stehen. Dieses Bataillon aus dem Süden übernahm sofort entscheidende Posten. Funktionäre des PAMI (Nationales Sozialfürsorge-Institut) wurden quasi über Nacht entlassen. Seit Jahren warf man ihnen Machtmissbrauch und Veruntreuung öffentlicher Gelder vor, dennoch wurden sie bisher von keiner Regierung angetastet.
Eine der wichtigsten Gefolgsleute Kirchners unter den „Pinguinen – so werden die Leute aus dem Süden genannt – ist seine Schwester Alicia, die das Ministerium für Soziale Entwicklung übernommen hat. Die Ministerin reist kreuz und quer durch das Land und hat dabei ein offenes Ohr für Beschwerden und Anzeigen der Bevölkerung. Dies verärgerte schon einige Gouverneure und Bürgermeister. Wie auch ihre Schwägerin, die Senatorin Christina Fernández, hat sich die Ministerin schon mit der argentinischen Mafia angelegt. Als Justizialisten (wie die Mitglieder der Peronistischen Partei offiziell heißen) waren der Präsident und seine Ehefrau die ersten, die aus dem Herzen der Partei heraus den Machtmissbrauch während des Menemismus kritisierten. Übergangspräsident Eduardo Duhalde brachte Kirchner ins Spiel und unterstützte ihn, nachdem Gouverneur Carlos Reutemann aus der Provinz Santa Fé, Duhaldes Favorit für die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen, nicht angetreten war.
Eine weitere starke Position in der Regierung hat Julio De Vido, Minister für Staatliche Planung und Öffentliche Investitionen, der schon in der Provinzregierung von Santa Cruz ein Ministeramt unter Kirchner inne gehabt hatte. De Vido ist damit beauftragt, die Verwaltung umzustrukturieren. Auch verhandelt er mit den privaten Firmen, die ehemals öffentliche Dienstleistungen übernommen haben, über neue Tarife und Preise. Vor allem ist er auch das Bindeglied zu Wirtschaftsminister Lavagna, der Schlüsselfigur während der Regierungszeit Duhaldes von Anfang 2002 bis Mai 2003. Lavagna erreichte durch Abkommen mit internationalen Währungsinstitutionen, dass Duhalde halbwegs elegant aus dem Amt scheiden konnte – wie keiner seiner Vorgänger der vergangenen zehn Jahre. Insofern blieb Kirchner gar nichts anderes übrig, als den „Superminister“ Lavagna in sein Kabinett zu übernehmen, obwohl er ihm ein wenig die Schau stiehlt. Kirchner und Lavagna erklären, dass sie den Binnenmarkt sowohl durch eine Stärkung der öffentlichen als auch der privaten Ausgaben reaktivieren wollen. Obwohl in diesem Bereich noch nicht viel erreicht wurde, gibt es doch Schätzungen, die von einem Wirtschaftswachstum von 4,5 Prozent ausgehen. Eine Ziffer, die schon deshalb ein positives Zeichen wäre, weil Argentinien in den letzten Monaten ein negatives Wachstum zu verzeichnen hatte.

Aufhebung des „Punto Final“

Die wichtigsten Nachrichten seit der Amtseinführung der neuen Regierung sind hingegen der komplette Austausch der Militärführung und die Außerkraftsetzung des Dekretes des Ex-Präsidenten, das die Auslieferung der wegen Genozid angeklagten argentinischen Militärs in andere Länder wie z.B. Spanien untersagte. Und die jüngste Entwicklung: Eine klare Haltung der Regierung, die Gesetze über die Straflosigkeit und das „Punto Final“ genannte Schlusspunktgesetz zurückzunehmen und für ungültig zu erklären. Durch das Gesetz erhielten Hunderte von Militärs, die während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben und die für das „Verschwinden“ von 30.000 Menschen verantwortlich sind, einen Immunitätsanspruch. Kirchner zeigt sich konsequent in diesem Punkt: „Kein ernstzunehmendes Land der Welt konstruiert seine Zukunft und seine Gegenwart, indem es das was passiert ist, ignoriert und nicht für Gerechtigkeit sorgt“. Im August 2003 stimmten sowohl die Abgeordnetenkammer als auch der Senat Argentiniens für die Aufhebung der Gesetze.
Das Ministerium für Sicherheit und Justiz untersteht Gustavo Béliz, der bis zu seinem abrupten Bruch ein Menem-Anhänger war. Als Mann des Opus Dei und Freund der vom ehemaligen New Yorker Bürgermeister Rudolpho Guiliani eingeführten „Null-Toleranz“-Strategie, kann Béliz nicht auf die Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung zählen. Als Kontrast dazu wird das Sekretariat für Menschenrechte von Eduardo Luis Duhalde geführt (nicht zu verwechseln mit dem Übergangspräsidenten), einem ehemaligen Revolutionär, der ins Exil flüchten musste und der mit Selbstbewusstsein zu seiner Vergangenheit steht. Komplettiert wird die Kernmannschaft Kirchners vom Vizepräsidenten Daniel Scioli, Menemist bis zum Abkommen mit Kirchner während des Wahlkampfes, das ihn dann letztlich in seine heutige Position brachte. Die enormen Differenzen zwischen ihm und dem Team des Präsidenten sind schon sichtbar geworden.
So kann man heute drei Sektoren innerhalb der Regierung unterscheiden: Die „Rechte, die vom Vizepräsidenten angeführt wird. Sie sucht Kontakt mit den Unternehmern und trifft dabei Aussagen, die den größten Sektor in der Regierung, die Kirchner loyal verbundenen „Pinguine deutlich irritiert. Den dritten Sektor bilden die „Progressiven“, zu dem Eduardo Luis Duhalde und der Außenminister Rafael Bielsa gehören. Bielsa war in den 70er Jahren bei den revolutionären Peronisten aktiv. Der Einfluss der Progressiven ist der Grund dafür, dass reaktionäre Kräfte in der argentinischen Gesellschaft davon sprechen, dass sich die „Casa Rosada“, der Regierungspalast, mit Ex-Guerilleros gefüllt hat.

Der wirtschaftliche Plan: Gibt es einen Plan?

Sowohl die Rechte als auch die Linke beschwören die Wichtigkeit eines ökonomischen Konzeptes. Aber gut vier Monate nach der Amtsübernahme durch den neuen Präsidenten, der in vielen Bereichen ein enormes Tempo an den Tag gelegt hat, ist immer noch kein wirtschaftlicher Fahrplan erkennbar. Seine Regierung kämpft um „einen Schuldenerlass, eine Neudefinition und einen Erlass der Zinszahlungen auf die Auslandsschuld.
Obwohl der Besuch des Präsidenten als auch der des Wirtschaftsministers beim Internationalen Währungsfonds (IWF) und bei anderen Kreditinstitutionen in diesem Sinne Hoffnungen geweckt haben, ist der erwartete Wandel noch nicht eingetreten. Ein neues langfristiges Produktions- und Arbeitsmodell ist noch nicht sichtbar. Allerdings gab es zumindest einige leichte Lohnerhöhungen, Erhöhungen der Rentenzahlungen und der Leistungen für Arbeitslose. In dieser Situation geht vom Thema der zu zahlenden Gebühren der höchste Druck aus. Die Bevölkerung protestiert vehement dagegen, dass die privaten Dienstleistungsunternehmen die Gebühren für Infrastruktur- und Dienstleistungen erhöhen wollen und damit drohen, die Versorgung einzustellen. Als Begründung dafür dient ihnen die Argumentation, dass sie durch den Verfall des Pesos keinen Spielraum für neue Investitionen haben. Ein weiteres Sorgenkind ist das Bankensystem, dass Ende 2001 zusammengebrochen ist und bis heute nicht saniert und reformiert ist.

Schönwetterlage auf dem internationalen Politparkett

Obwohl die ökonomische Lage immer noch düster ist, gibt es doch einige Hoffnungsschimmer. So z.B., dass Kirchner von einigen Mächtigen der Welt empfangen wurde. Mitte Juli 2003 machte der Präsident eine Rundreise durch Europa und traf u.a. Bundeskanzler Schröder und den britischen Premierminister Blair. Beide sagten ihm bei seiner Bitte um „Solidarität und Verständnis durch die wichtigen Länder“ Unterstützung bei den Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds zu. Damit Argentinien, wie Kirchner es ausdrückte „wieder in das Weltwirtschaftssystem zurückfindet“. Aber auch ein sehr heikles Thema wurde angesprochen: Kirchner äußerte gegenüber seinem Kollegen Blair, dass es an der Zeit sei, wieder über das Thema „Malvinas“ zu reden. D.h. konkret über die Fischereirechte, die die Bewohner der seit mehr als 100 Jahren von Großbritannien besetzten Inseln im Südatlantik für sich in Anspruch nehmen. Blair sagte immerhin zu, diese Frage im geeigneten Moment wieder zu diskutieren. Seit dem Krieg zwischen Argentinien und Großbritannien im Jahr 1982 kam das Thema nicht mehr zur Sprache. Während seiner Europareise traf Kirchner auch in Spanien mit Vertretern spanischer Unternehmen zusammen, die während der 90er Jahre von der Privatisierungswelle in Argentinien profitierten und viele Firmen übernehmen konnten. Ohne Umschweife stellte „Señor K.“ klar, dass er eine Erhöhung der Gebühren nicht akzeptieren wird, weil die ausländischen Investoren durch die Privatisierungen während der „fetten Jahre“ beträchtliche Gewinne gemacht hätten. Seine unmissverständlichen Aussagen begeisterten die einen und beunruhigten die anderen. Ein Resultat dieser Reise war auch, dass US-Präsident Bush ihn kurzfristig nach Washington einlud. Laut Kirchner ging es bei diesem Gespräch nicht um den Irak und auch nicht um Kuba, nur bilateral wichtige wirtschaftliche und politische Themen wurden behandelt. Es schien, als ob Kirchner zufrieden wieder aus dem Oval Office des Weißen Hauses herauskam.

Der neue Lula

Die Bedeutung der Amtseinführung von Néstor Kirchner wurde durch die Anwesenheit vieler lateinamerikanischer Präsidenten verdeutlicht. Unter den Gästen befanden sich Fidel Castro, Hugo Chávez und Luis Inacio „Lula“ da Silva, die auch seitdem wiederholt das Land besuchten. Es gibt Signale, dass Kirchner die Beziehungen mit diesen Staaten stärken will. Darüber hinaus ist deutlich, dass sich der argentinische Präsident gegenüber dem IWF – anders als sein brasilianischer Amtskollege – eher auf Konfrontationskurs befindet.

Wintersonnenwende

Nach einem langen Winter gibt es heute so etwas wie einen vorsichtigen Frühling. Dennoch hat das neue Spiel gerade erst begonnen und die Karten des Mannes aus dem Süden liegen noch lange nicht alle offen auf dem Tisch. Als Kompromisslösung und unbekanntes Blatt nach den heftigen Ereignissen vom Dezember 2001 – als Tausende von ArgentinierInnen ausriefen: „Sie sollen alle abhauen“ – angetreten, bewegt sich der Präsident nach vorne. Er regiert ein Land, aus der Krise und ein Volk, das wieder Erwartungen und Hoffnungen hat.

Übersetzung Stefan Thimmel

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