Der Widerstand einer verlorenen Generation
Interview mit Alejandro Moreno, Redakteur der Zeitschrift La Guillotina aus Mexiko-Stadt, zum Streik an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM)
In Eurer Zeitschrift bezeichnet Ihr die Streikenenden als Angehörige einer „Generación Güey“. Was soll dieser Terminus bedeuten?
„Güey“ ist ein Slangausdruck. Das Wort bedeutet in etwa „amigo“ (Freund). „Hola güey“, „¿Cómo estás, güey?“ „adiós güey“ – das Wort wird in freundlichem Tonfall benutzt. Aber auch beleidigend oder abwertend, z.B. „pinche güey“ etc. Der Terminus „Generación Guey“ soll die diskursive Begrenztheit dieser Generation beschreiben. Ihre ganze Welt paßt in fünf Sätze: „Hola güey“, „Qué onda, güey“, „Cómo estás, güey“, „pues aquí, güey“, „Me vale madre, güey“. Damit können die Jugendlichen ihr soziales Leben ohne Probleme bestreiten.
Wir benutzen den Terminus, um eine Generation von Jugendlichen zu bezeichnen, die durch die kommerzielle Kulturindustrie geprägt ist. Diese versucht die Errungenschaften von 1968 zurückzudrehen – im Bereich der sexuellen Freiheiten, der politischen Freiheiten und des kritischen Denkens, die in den 70er und bis in die 80er Jahre mit der Explosion des Punks in unserem Land die jugendlichen Generationen charakterisiert hatten. Auch die 80er Jahre haben neue Formen, rebellisch zu sein, hervorgebracht. Aber es scheint, daß in den 90er Jahren die kulturellen Institutionen bei der Kontrolle der Jugendlichen sehr gut funktioniert haben. Bei der „Generación Güey“ handelt es sich um eine Generation, die durch ihren Individualismus und durch einen hohen Grad an Entfremdung und Anonymität charakterisiert ist. Das ist das Ergebnis des kulturellen Klimas, das die Institutionen in unserem Land herbeigeführt haben. Es ist eine Generation von Fernsehabhängigen mit einer sehr reduzierten Weltsicht. Was wir allerdings beim Streik zur Zeit beobachten, ist das Aufwachen dieser Generation mit einem sehr wütenden, sehr rebellischen Geist gegenüber der Gesellschaft.
Wie ist es möglich, daß eine offensichtlich recht apolitische Jugendgeneration plötzlich eine Streikbewegung trägt, die alle Rekorde bricht? Was sind die sozialen Grundlagen einer Bewegung, die seit neun Monaten von einigen tausend Jugendlichen mit einer erstaunlichen Energie und Radikalität in einem feindlichen gesellschaftlichen Kontext vorwärts getrieben wird?
In unserem Land haben nur dreizehn von hundert Jugendlichen Zugang zu höherer Bildung. Das ist halb soviel wie in einem Land wie Costa Rica. Das ist eine dramatische Situation, die durch die Politik der neoliberalen Modernisierung herbeigeführt wurde, die in Mexiko sehr drastisch verlaufen ist. Diese Politik hat auf Biegen und Brechen versucht, die Anzahl der Studierenden zu reduzieren, die staatlichen Bildungseinrichtungen auf ein Mindestmaß einzuschränken und die Privatisierung der Bildungseinrichtungen durchzuführen. Und das, obwohl in unserem Land die staatliche und kostenlose Bildung ein konstitutionelles Recht ist.
Wir haben also diese Minderheit von dreizehn Prozent der Jugendlichen, die es auf die Universität schafft. Im Fall der staatlichen Universitäten, wie der UNAM, gehören sie zu den verarmten Mittelschichten. In unserem Land erleben wir seit 1982 einen brutalen Zerstörungsprozess der Mittelschichten. Ein großer Teil der Mittelschicht hat den ungezügelten Zerfall ihres Lebensstandards und ihres sozialen Status erlebt. Es ist eine Generation des wirtschaftlichen Desasters. Die Jugendlichen der 80er Jahre wurden als die „Kinder der Krise“ bezeichnet. Diese Generation hat bereits den unaufhaltbaren Zerfall ihres Lebensstandards erlebt. Aber die heutige Generation von Jugendlichen hat überhaupt keinen Wohlstand erlebt. Sie hatten seit sie geboren sind, keinen Zugang zu Wohlstand. Ihre Familien sind zerbrochen, auf allen Ebenen.
Die Jugendlichen haben erlebt, wie ihre Familien mit großen Kraftanstrengungen versuchten, gegen den Verarmungsprozess zu kämpfen. Es ist eine Generation, die aus einer sehr defensiven Kultur kommt, einer Kultur des Widerstandes. Viele der Eltern der Streikenden haben selbst Erfahrungen in den Kämpfen der Linken gemacht.
Die Jugendlichen müssen während des Studiums arbeiten, um sich über Wasser halten zu können. Die meisten arbeiten im Servicebereich, in kleinen Unternehmen. Es handelt sich also um eine Generation mit großen sozialen und wirtschaftlichen Problemen, aber mit hohen Konsumansprüchen, die durch die kommerzielle Kulturindustrie, das Fernsehen etc. provoziert werden. Es gab niemals eine Generation mit einem Zugang zu so unterschiedlichen potentiellen Konsummöglichkeiten, obwohl sie es sich nicht leisten können, diese zu nutzen. In diesem Kontext hat die angekündigte Erhöhung der Studiengebühren eine unglaubliche Wut entzündet. Denn es dreht sich nicht nur um die Gebühren, sondern schlicht um die Verweigerung der Zukunftschancen dieser Generation.
Der Streik hat eine Jugendkultur hervorgebracht, die wir in Europa so nicht kennen. Es ist eine Fusion unterschiedlicher Elemente, die uns aus etablierten Jugendkulturen wie dem Punk, SKA und Hiphop bekannt sind. Aber es ist trotzdem etwas anderes. Wie läßt sich die Strömung beschreiben?
In der Universität gab es nie eine so vielfältige Explosion kultureller und gegenkultureller Optionen von urbanen „Stämmen“ wie heute, die von konformistischen Jugendlichen bis zu Punks und Post-Punks reichen. Der urbane „Stamm“, der am deutlichsten hervortritt, ist hier als die „eSKAtos“ bekannt. Sie hören SKA Musik. Ska ist in Mexiko seit den 80er Jahren ein direkter Nachfahre des Punks. Es ist eine sehr vorwärtstreibende, rhythmische Musik, die sehr gut tanzbar ist. In der Universität gibt es jede Menge SKA-Bands. Der Inhalt ihrer Texte ist klar als links zu bezeichnen. Sie drehen sich um den Widerstand, die Kämpfe der Indígenas in Chiapas, die Verzweiflung dieser Generation, die Arbeitslosigkeit, Gewalt auf den Straßen. Die Texte sind sehr kritisch. Allerdings muß man sagen, daß innerhalb der Streikbewegung kein urbaner „Stamm“ dominiert. Es ist vielmehr ein Mosaik kultureller Optionen. Die Mehrheit der Streikenden hat sich vor dem Streik keinem urbanen „Stamm“ zugeordnet. Aber jetzt kämpfen sie um eine Identität.
Du beschreibst die Kultur als SKA, aber es ist zumindest im Vergleich zu Europa etwas anderes. Dort ist SKA zwar auch politisch und links, aber vor allem spaßbetont. Was bei den Streikenden der UNAM auffällt, ist aber ihre Entschlossenheit, ihre Verzweiflung und ihr Durchhaltevermögen bis zur kompletten Erschöpfung. Wie erklärst Du Dir das?
Was aus dieser Bewegung etwas Neues macht, ist, daß sie von Beginn an horizontale Organisationsformen angenommen hat. Ganz im Gegensatz zu früheren Studentenbewegungen wie 1986/87, in denen immer sehr lokalisierte Führungsgruppen aufgetaucht sind, in denen immer dieselben geredet und die Versammlungen geleitet haben. Damals wurde der Streik faktisch von drei Personen angeführt, die heute von der PRD kooptiert sind. In dieser Bewegung haben es die Streikenden von Anfang an nicht erlaubt, daß es feste Repräsentanten gibt. Das ist ein Element, das sie von den Zapatisten übernommen haben. Alle repräsentativen Kommissionen sind rotierend. Auch auf den zentralen Versammlungen des Consejo General de Huelga (CGH) – des Obersten Streikrates –, an denen die Delegierten der 40 bestreikten Institute teilnehmen, wird die Versammlungsleitung rotierend bestimmt. Auch der Ort der CGH-Versammlungen wird ständig gewechselt. Sie finden nicht mehr im mythischen Auditorio Che Guevara, das von den Streikenden von 1968 so getauft wurde, statt, sondern in verschiedenen Fakultäten, auch in den Schulen in den Peripherien der Stadt. Das verleiht dem Streik einen sehr horizontalen Charakter.
Wir denken, daß diese horizontale, sehr demokratische Struktur der Bewegung die hauptsächliche Quelle der Kraft der Bewegung darstellt. Es ist eine sehr widerständige Bewegung, die alle Rekorde gebrochen hat. Sie hat gezeigt, daß diese Generation über eine enorme Fähigkeit des Widerstands verfügt.
Allerdings enthält diese Organisationsweise auch ihre Schwächen. Sie hat die Zeithaushalte gegenüber anderen Bewegungen komplett verändert. Es ist eine soziale Bewegung, die langsamer funktioniert als andere. Alle Vorschläge, die im CGH diskutiert werden, müssen auf den Versammlungen in den Instituten besprochen und abgestimmt werden. Wenn das geschehen ist, tragen die Delegationen der Institute die Beschlüsse wieder in den CGH. Das ist sehr interessant, weil dadurch etwas entstanden ist, was es früher nicht gab: Jugendliche, die früher unpolitisch waren, mußten einen politischen Lernprozeß durchlaufen. Sie müssen jeden Schritt, den die Bewegung geht, diskutieren. Jeder Streikende sieht die Probleme der Organisation und der Bewegung als seine eigenen an.
Kannst Du ein bißchen genauer erklären, wie der CGH funktioniert?
Der CGH umfaßt die Delegationen der unterschiedlichen bestreikten Institute und Schulen. Es lohnt sich anzuschauen, wie die Delegationen in die Versammlung kommen. Die Szene erinnert an den Film „Warriors“, in dem die Delegierten verschiedener Gangs aus New York zu einer Versammlung in einem Stadion einlaufen. Dasselbe geschieht beim CGH. Es kommen die Delegierten verschiedener „Stämme“. Es sind viele Post-Punks dabei, viele Hip-Hoppers, die cholos mit ihren weiten Hosen, die „eSKAtos“. Die Delegationen stecken im Versammlungssaal ihr Territorium ab und ordnen sich nach verschiedenen politischen Strömungen. Meistens nehmen zwischen 1.000 und 1.500 Leute an den wöchentlichen CGH-Marathonsitzungen teil. Die Diskussion fängt abends an und dauert immer bis zum nächsten Vormittag, oft auch bis zum Nachmittag. Die längste ununterbrochene Diskussion dauerte 36 Stunden. Zuerst lesen die Delegierten die Resolution ihres Instituts vor. Sie müssen sich dabei persönlicher Meinungen enthalten und wortwörtlich vorlesen, was ihre Versammlung beschlossen hat. Danach – so etwa um drei Uhr morgens – zieht sich die Diskussionsleitung zu einer Beratung zurück, um aus den Resolutionen der Delegationen Abstimmungsvorlagen zu erarbeiten. Ab halb fünf Uhr morgens wird dann diskutiert bis alle notwendigen Entscheidungen gefällt wurden.
Der CGH wird von der Presse aber auch vielen kritischen Intellektuellen als „ultra“ bezeichnet. Die Kritik lautet, es handele sich um eine Organisation von Extremisten.
Die große Mehrheit der Streikenden hat bisher in keiner Weise an politischen Prozessen teilgenommen. Die meisten existierenden politischen Studentenorganisationen wurden durch die Bewegung überholt und überrascht. Die Streikgeneration hat einen großen Mangel an politischer Bildung. Sie drückt eher ein Gefühl als eine politische Vision aus. Diese Jugendliche haben keine Utopie wie die Generation der 70er Jahre. Sie wissen, daß sie ein hartes Leben vor sich haben und stets im Widerstand gegen eine feindliche und gewalttätige Gesellschaft leben werden müssen. In den urbanen „Stämmen“ finden sie soziale Formen, wie sie in einer kaputten Gesellschaft überleben können. Es handelt sich um eine sehr emotionale Bewegung mit vielen leidenschaftlichen und irrationalen Aspekten.
Sie kämpft gegen jede Autorität und hat sich einen sehr eigentümlichen Diskurs zu eigen gemacht. Es ist sehr merkwürdig: Sie nehmen aus dem Zusammenhang gerissene Zitate von Mao, Marx und Presidente Gonzálo vom „Leuchtenden Pfad“, was eine wirklich barbarische Bewegung war, und mischen sie mit Zitaten von Subcomandante Marcos und John Lennon oder Jim Morrison. Die Streikenden nehmen diese Zitate auf, ohne über eine politische Bildung oder politische Konzepte zu verfügen. Die Jugendlichen, die ihre Streikbrigade „Roter Oktober“ nennen und mit Marx- und Leninzitaten herumwerfen, haben keine marxistische Schulung. Ihre Annäherung an diese Ikonen, an diese Bilder, ist ähnlich der Verwendung dieser Ikonen durch Andy Warhol. Es ist ein Pop-Phänomen und ein gegenkulturelles Phänomen. Es geht ihnen hauptsächlich um die Provokation.
Diese Provokation richtet sich auch gegen die politisch-korrekten progressiven Intellektuellen, die sich in ihre Intimfeinde verwandelt haben. Dieser Streik mußte sich gegen alle und alles durchsetzen. Der Streik hat einigen der Studenten das Leben gekostet, viele sind im Knast gelandet. Mädchen sind nach Streikversammlungen von „Unbekannten“ vergewaltigt worden. Andere Mitglieder des CGH sind von „Unbekannten“ entführt und gefoltert worden. Die Jugendlichen sind in einem sehr gewalttätigen Kontext aufgewachsen. Sie sind sehr roh in ihren Umgangsformen, auch untereinander. Ihre mangelnde politische Bildung, ihre mangelnden diskursiven Fähigkeiten, ihre kulturelle Beschränktheit drückt sich in ziemlich rauhen Umgangsformen aus.
Die linken Intellektuellen, die sich um die PRD bewegen und großes Interesse an politischer Stabilität haben, distanzieren sich von der Streikbewegung. Selbst Intellektuelle wie Carlos Monsivaís, der immer einen kritischen Geist gefördert hat, wendet sich gegen sie. Als er gesehen hat, wie sich die Jugendlichen seine Werkzeuge des Humors und der Satire zu eigen gemacht haben, um die Heuchelei der staatlichen Institutionen und auch der PRD zu entlarven, ist er erschrocken. Nur wenige Intellektuelle versuchen, die Bewegung zu verstehen.