Film | Nummer 320 - Februar 2001

Der Würgeengel im Herzen Brasiliens

Toni Venturis beklemmendes Zwei-Personen-Drama Latitude zero

Bettina Bremme

Schon zu Beginn möchte man eigentlich vor lauter Klaustrophobie das Weite suchen. Aber irgend etwas zwingt einen, wie gebannt auf die Leinwand zu starren. Da schlurft eine hochschwangere Frau mit wirren Haaren und irrlichterndem Blick inmitten einer abgeranzten Spelunke von einer Ecke zur anderen und nagelt die Fenster mit Brettern zu. Dazwischen kramt sie ziellos in alten Fotos. Die staubige Hitze bringt ihre Haut zum Schwitzen. Und dann beginnt die Gestalt, die wie eine entfernte Cousine von Kasper Hauser wirkt, auch noch, vor unseren Augen stöhnend Hand an sich zu legen. Plötzlich trommelt es von außen an die verrammelte Tür: „Hier ist ein Freund aus São Paulo“, ruft eine Männerstimme. „Können wir reden?“– „Ich habe keinen Freund in São Paulo“, raunzt die Frau. „Außerdem ist hier geschlossen.“ Schließlich gibt sie sich aber doch einen Ruck: „Okay, du kannst über Nacht bleiben.“ Der Beginn einer sonderbaren Hassliebe.
In dem Zwei-Personen-Drama Latitude zero (Breitengrad Null) macht uns der brasilianische Regisseur Toni Venturi zu Voyeuren. Fast anderthalb Stunden lang umschleicht die Kamera, wie ein unsichtbarer Dritter Lena, die Besitzerin eines heruntergekommenen Lokals, und den Ex-Polizisten Vilela, der sich auf der Flucht befindet. Dann wieder springt das filmerische Auge in die Perspektive von einem der beiden, zeigt, wie sie sich gegenseitig beobachten und verfolgen, wie einer den anderen anzieht und zurückstößt, wie sie einander das Leben versüßen und vergällen. Am Anfang will Lena nichts von dem Fremden wissen. Die Tatsache, dass Vilela Lenas Adresse von seinem Vorgesetzten Mattos bekam, macht die Sache für sie erst recht suspekt. Denn der ließ Lena inmitten der Einsamkeit des Mato Grosso sitzen, obwohl er wusste, dass sie ein Kind von ihm erwartet. Als wollte sie sich damit an Mattos rächen, behandelt Lena Vilela wie den letzten Dreck. Seine Versuche, das heruntergekommene Lokal mit dem pittoresken Namen Dama de Ouro (Goldene Dame) aufzumöbeln, ernten bei ihr nur ein heiseres Gelächter. Doch eines Abends lässt Lena sich doch noch von Vilela herumkriegen. Am nächsten Tag ist er verschwunden – mitsamt ihren dürftigen Ersparnissen. Noch durchgedrehter als zuvor, verkriecht Lena sich wie ein waidwundes Tier in der Höhle, um ihr Kind alleine zur Welt zu bringen. Kaum hat sie diese Tortur überstanden, steht Vilela plötzlich wieder vor der Tür, beladen mit Geschenken: „Hallo Lena, alles in Ordnung?“
Etliche brasilianische FilmemacherInnen – und auch die Auswahlkomitees der Berlinale – scheinen ein besonderes Faible für klaustrophobische Zweierbeziehungen zu haben. Nach Tata Amarals Um céu de estrelas (Ein Himmel voller Sterne, 1996) und Aluizio Abranches’ Um copo de cólera (Ein Becher Wut, 1998) ist Latitude zero bereits das dritte brasilianische Zwei-Personen-Geschlechterkampf-Melodram binnen weniger Jahre, das auf dem Festival zu sehen ist. Besonders auffällig sind die Parallelen zwischen Latitude zero und Um céu de estrelas, wo eine Friseurin aus São Paulo sich inmitten einer schäbigen Wohnung gegen ihren brutalen Ex-Freund zur Wehr setzen muss. Kein Wunder, die Vorlagen zu beiden Filmen stammen von Fernando Bonassi, einem der derzeit profiliertesten Schriftsteller Brasiliens. Beide Werke leben von einer explosiven Mischung: Die Figuren sind kaum fähig, sich dem anderen mitzuteilen, gleichzeitig aber permanent bereit, dies durch Gewalt zu kompensieren. Für die Schauspieler Débora Duboc und Claudio Jaborandy ist Latitude zero eine nicht enden wollende tour de force, die sie fantastisch meistern. Besonders beeindruckend sind die Facetten, die Débora Duboc ihrer Figur abringt. Kaum zu glauben, dass dieselbe Schauspielerin bei einem anderen auf der Berlinale vertretenden Film, André Klotzels Memórias póstumas, eine distinguierte Gesellschaftsdame des 19. Jahrhunderts verkörpert.
Außer Lena und Vilela gibt es ab einem gewissen Moment noch eine dritte Person, die allerdings unheimlicher Weise nie zu sehen ist: Lenas Baby. Permanent hängt sein hilfloses Schluchzen im Raum. Seine gellenden Schreie heizen die Atmosphäre noch weiter an, scheinen sich wie ein zersetzender Daueralarm in Vilelas Hirn und Gehörgänge hinein zu schrauben. Noch dazu beginnt Vilela, als er seine Geschäftspläne scheitern sieht, immer hemmungsloser zu saufen. Der Rest der Außenwelt scheint dieses armselige Häuflein Mensch vergessen zu haben. Immer wieder rattert der Klang von Fahrzeugmotoren aus dem Off über die Tonspur. Mehr als einmal rennt Vilela bei diesem Geräusch auf die Straße, in der Hoffnung, dass ein Kunde anhält – nur um dann inmitten einer Wolken aus Staub, Abgasen und zersetztem Selbstbewusstsein stehen gelassen zu werden. So entlädt sich die Spannung immer mehr nach innen.
Dabei wirkt die unwirtliche Weite der Landschaft ringsum wie ein Resonanzverstärker. Immer wieder sind in langen, statischen Totalen die Dona de Ouro und ihre beiden Insassen am Straßenrand zu sehen. Oder Vilela erklimmt in der sengenden Hitze die nackten roten Felsen auf dem verlassenen Minengelände. Aus der Vogelperspektive sehen wir, wie er einem Winzling gleich im brackigen Wasser kniet und schürft. Dabei weiß er selbst: „Das Goldfieber ist vorbei.“ Das einzige, was hier noch Geld abwirft, sind die Brandrodungen, wie die Rauchsäulen am nächtlichen Horizont andeuten. Der gesellschaftspolitische Subtext von Toni Venturis Film steckt voll bitterer Ironie. Immer wieder hocken Lena und Vilela vor schwachsinnigen Fernsehprogrammen, quellen sentimentale Liebesschnulzen aus dem Lautsprecher. Gegen Ende des Films wird das „Herz Brasiliens“ besungen: „Ich gehe und lasse eine Sehnsucht zurück…“ Alles Lüge? Latitude zero lässt keinen Zweifel daran: Der „Längengrad Null“, einstiger Kristallisationspunkt der Goldgräberstimmung, die das ganze Land erfasste, ist für die dort Gestrandeten zur Vorhölle geworden. Da schmoren sie, vom Rest des Landes verlassen, im eigenen Saft. Da bleibt eigentlich nur eins: Rette sich, wer kann!

Latitude zero; Toni Venturi (Regie); Brasilien 2000; Farbe, 85 Minuten.
Der Film wird auf der Berlinale (7. – 18. Februar 2001) im Panorama gezeigt.

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