Mexiko | Nummer 483/484 - Sept./Okt. 2014

„Die Ausbeutung von Land wird legalisiert“

Interview mit Luis Alonso Abarca González über die Auswirkungen der Energiereform auf die Landverteilung in Mexiko

Am 11. August wurden die Ausführungsgesetze (leyes secundarias) der Energiereform verabschiedet. Die vorausgegangene Verfassungsreform vom Dezember 2013 hatte den Erdölsektor, der 1938 verstaatlicht worden war, bereits für private Investoren geöffnet (LN 476). Mit den Ausführungsgesetzen leitet die Regierung nun konkretere Schritte ein. Die LN sprachen mit Luis Alonso Abarca González vom Basiskomitee für Menschenrechte Digna Ochoa in Chiapas über die Inhalte der Gesetze sowie deren Auswirkungen auf den gemeinschaftlichen Landbesitz in Mexiko.

Interview: Sophia Deck

Was ist das Besondere an der Energiereform?
Das Neue ist, dass sie eine grundlegende Verfassungsreform darstellt. Die Regierung hat sich bisher nie getraut, Verfassungsänderungen durchzusetzen, die der Nation den exklusiven Besitz der strategischen Ressourcen entziehen (geregelt ist diese Frage in Art. 27 der mexikanischen Verfassung, Anm. d. Red.). Es gab schon vorher gesetzliche Regelungen, die ausländischen Unternehmen die Ausbeutung von Gütern der Nation erlaubten. Aber dass sie auch deren Eigentümer sein können, ist jetzt zum ersten Mal in der Verfassung festgelegt. Damit ist die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, vor allem der Energiequellen, legalisiert.

Was bedeutet das in der Praxis?
Es findet eine vollständige Öffnung gegenüber dem ausländischen, privatwirtschaftlichen Sektor statt. Ausländische Unternehmen können per Vertrag Eigentümer werden. Basierend auf der Erfahrung mit transnationalen Unternehmen in anderen Ländern wird eine Bandbreite von Verträgen möglich, mit Inhalten wie geteilten Risiken, geteilter Nutzen, Erforschung der Ressourcenvorkommen und deren Abbau. Der staatliche Mineralölkonzern PEMEX und die ehemals staatliche Energiekommission CFE haben keinen exklusiven Besitz der Erdöl- und Energieressourcen mehr. Sie stellen nur noch steuerpflichtige Unternehmen dar, die unter ungleichen Bedingungen mit ausländischen Unternehmen konkurrieren sollen. Außerdem wird der Investition in die Energiegenerierung gegenüber jedweder anderen Nutzung von Land der Vortritt gegeben. Als Folge davon werden Wasservorkommen und ejidale (eine Form gemeinschaftlichen Landbesitzes; Anm. d. Red) und kommunale Landflächen abgetreten.

Welche Gesetzesänderungen sind dem bereits gefolgt?
Die Regierung von Enrique Peña Nieto hat im August alle Folgegesetze zur Energiereform erlassen und angekündigt, dass demnächst die sogenannte Landreform vorgestellt wird. Enthalten sind wichtige Regelungen im Bereich Erdöl, das Gesetz über öffentliche Dienstleistungen im Bereich Elektrizität, das Gesetz zur CFE und PEMEX.
Die Übergangs- und Folgegesetze sind sehr aggressiv. Es wird vom Gebrauch der öffentlichen Gewalt und Einsatz der Armee im Fall von Opposition gesprochen. Das passiert auch schon, wie auf der Insel Holbox vor Yucatán, wo kürzlich die Marine gegen die Leute eingesetzt wurde, die sich dort gegen ein Tourismus-Projekt stellten.

Was heißt das für die ländlichen Gemeinden?
Es ist absehbar, dass sich damit die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und Territorien der indigenen und bäuerlichen Gemeinschaften verschärfen wird. Durch Megaprojekte wie Staudämme oder Bergbauminen werden sich die umwelt-sozialen Konflikte in den Gemeinden verschärfen. Ein Beispiel ist das Stauwerk zur Elektrizitätsgewinnung Chicoasén 2. Dort hat die Regierung den ejidatarios, die sich zur Wehr setzen, gedroht, Militär zur Räumung zu schicken.

Welche Konsequenzen ergeben sich für die Besitzverhältnisse auf dem Land, insbesondere den sozialen Landbesitz?
Die Energiereform, eine gesellschaftlich nutzlose Gegenreform, beinhaltet die Änderung des Artikels 27 der Verfassung, der die nationalen Güter wie Wasservorkommen, Energiequellen, (Agrar-) Land, die ejidos und den sozialen Besitz betrifft. In der Folge müssen andere Gesetze angepasst werden. Reformiert werden muss auch das gültige Agrargesetz, da es in vielen Punkten der Energiereform widerspricht. Ich denke, dass der juristischen Figur der „temporären Besetzung“ eine Schlüsselrolle zukommt. Denn sie ermöglicht es der Regierung, Land und Territorium indigener Gemeinschaften an ausländische Unternehmen zu übergeben, ohne dass es ein rechtliches Mittel der Verteidigung und Verhinderung gäbe. Die Gemeinden können es nicht anfechten, wenn privaten oder staatlichen Unternehmen die Nutzung eines Grundstücks vertraglich zugesichert oder zugewiesen wird. Das legen die Folgegesetze fest. Den ejidatarios bleibt ein Zeitraum von 30 Tagen, um mit dem Unternehmen eine Vereinbarung zu schließen. Tun sie das nicht, kann die Regierung mittels Einsatz öffentlicher Gewalt dafür sorgen, dass die vertraglich beschlossene Aktivität beginnt. Auch im Bergbaugesetz taucht die Regelung der „temporären Besetzung“ auf. Der Begriff „Enteignung“ wurde kürzlich aus dem Wortlaut gestrichen, denn das hat alte Erinnerungen bei den Bauern ausgelöst. Die Unternehmen sind auch nicht an Enteignung interessiert, sondern an zeitlich begrenzten Konzessionen, um die gewinnträchtigen Ressourcen auszuschöpfen und das Land danach zurückzugeben. Sonst müssten sie die sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Kosten tragen.

Was ist der aktuelle Stand bei der Agrarreform?
Bereits das Agrargesetz von 1992 ermöglicht ausländische Investitionen auf dem Land, beispielsweise über Verpachtung. Auch möglich ist, dass kollektiver Landbesitz in Privatbesitz umgewandelt wird. Dazu gibt es ein bekanntes Programm – PROCEDE, jetzt FANAR – wodurch die Bauern in den Übergang von der kollektiven, eijdalen Besitzordnung des Landes zum Privatbesitz einwilligen. Die Regierung steht bereit für weitere Schritte. Kurz bevor Ex-Präsident Felipe Calderón 2012 sein Mandat beendete, schickte er eine Initiative an den Kongress – darin liegt der Schlüssel für die kommende Landreform.

Kann man daraus ableiten, wie die geplante Agrarreform aussehen wird?
Die Regierung betrachtet die ejidale Versammlung als größtes Hindernis für ihre Pläne zur Modernisierung und Marktliberalisierung. An vielen Orten ist die Versammlung eine historische Institution der indigenen Gemeinden, deren Geschichte weit über das Agrargesetz hinausgeht. Es ist jetzt einfacher, dass ein einzelner Bauer mit seiner Parzelle Opfer von Ausbeutung wird oder dass er sein Land verkauft – hier gab es eine Schranke, weil in der vorhergehenden Ordnung das Land nicht verkauft werden konnte. Das bevorstehende Agrargesetz ist einfach nur der Abschluss all dieser Reformen: die Ausbeutung von Land wird legalisiert.

Mit der Energie- und Landreform gehen weitere Reformen einher, die Einfluss auf den Landbesitz haben…
Innerhalb dieses ganzen Reformpakets wird zum Beispiel das „Schutzgesetz“ (ley de amparo) reformiert. Im gültigen Agrargesetz stand den Bauern noch der amparo als Weg der Verteidigung ihres Landes offen. Der amparo ist eine Verfassungsbeschwerde, eine Institution in Mexiko. Es ist der legale Mechanismus jedes mexikanischen Bürgers oder von Körperschaften wie der ejidalen Versammlung gegen staatlichen Machtmissbrauch und Verletzung von Verfassungsrechten vorzugehen, zum Beispiel bei der Durchsetzung von Regierungsprogrammen.
Das wird bereits unterwandert: Die Staatsanwaltschaft in Agrarsachen, deren Funktion es wäre, die Rechte der Gemeinden zu verteidigen, überzeugt stattdessen die Bauern davon, ihre Rechte abzugeben – auch mithilfe illegaler Mittel. Sie agiert damit als Vertreterin von Unternehmen oder der Regierung, die Interessen an dem Land haben.

Wie steht es um die Menschenrechte der Landbevölkerung nach den Energiegesetzen?
Die Energiereform verletzt internationale Instrumente, die Menschenrechte von indigenen Gemeinschaften schützen. Der einzige legale Mechanismus, den es für Gemeinschaften, wie ejidos gibt, um ein Programm oder Projekt auf ihrem Territorium zu auszusetzen, war bisher der amparo. Das wird sich ändern. Es wird davon gesprochen, dass der amparo nicht bei Verfassungsänderungen, das heißt der Energiereform, greift. Die Energiereform und die kommende Agrarreform entziehen den indigenen Gemeinschaften das Recht auf Land sowie auf vorherige Konsultation. Es gibt auf nationaler Ebene keinen bindenden Schutzmechanismus, da keine Regelungen darüber bestehen, wie der Prozess einer Konsultation ablaufen sollte. Die Regierung entscheidet also darüber. Sie hält zum Beispiel ein Forum ab, das sie dann als Konsultation darstellt, obwohl sie die Eingeladenen bezahlt und kontrolliert.

Manche schätzen die Energiereform als Gnadenstoß für Formen des gemeinschaftlichen Landbesitzes ein…
Ich denke vielmehr, dass sie die Legalisierung dessen ist, was schon vorher passierte. Es ist lediglich ein noch komplizierteres Szenario mit wenig Verteidigungsmöglichkeiten. Die Gemeinschaften können auf keinen Schutzmechanismus zurückgreifen. Hinzu kommt, dass auch die Richter von der Regierung kontrolliert werden. Der Oberste Gerichtshof hat gezeigt, dass er im Interesse der Regierung und Unternehmen handelt, anstatt eine unparteiische und juristische Position zu garantieren.

Wo sehen Sie Handlungsspielräume für den Widerstand?
Die Reformen zwingen die Menschen zu neuen Widerstandsformen. Wir haben die Möglichkeiten der kommunitären Konsultation noch nicht ausgeschöpft. Ich denke, hier könnten wir ansetzen. Die Gesetze verletzen die Rechte der Gemeinschaften auf Territorium. Deshalb muss die Kampfstrategie darin bestehen, selbst Mittel zur Konsultation zu entwickeln. Wir können hier keine Organisation überstülpen. Es muss ein Prozess an der Basis stattfinden, ohne dass die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Religionen oder politischen Parteien von Bedeutung ist. Die sozialen Organisationen können die Prozesse begleiten. Das ist die einzige Form, das soziale Netz wiederherzustellen.

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