Die Brise des Wandels
Der sechste Parteitag auf Kuba bringt neue Impulse
In der Symbolik des Kongresses der „Erneuerung“ überwog die Kontinuität: Eingeläutet wurde er mit einer Militärparade auf dem Platz der Revolution zum 50. Jahrestag der Invasion in der Schweinebucht. Fidel Castros Bruder Raúl und José Ramón Machado Ventura sind nun erster und zweiter Sekretär der Partei, des Staats- und des Ministerrats. Das Durchschnittsalter des Politbüros, dem höchsten regulär arbeitenden Parteigremium, liegt bei 67 Jahren. Und auch die Äußerungen Raúl Castros in seinem zentralen Bericht scheinen eher auf Stetigkeit denn auf Wandel hinzudeuten: Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes beispielsweise sei „weit davon entfernt, eine angebliche Privatisierung zu bedeuten”, sondern vielmehr „ein Faktor, der die Herausbildung des Sozialismus in Kuba“ erleichtere.
In den diskutierten Vorschlägen und beschlossenen Maßnahmen überwogen indes die Veränderungen: Fidel Castro ist von allen Posten zurückgetreten. Alle NachfolgerInnen, inklusive seines Bruders Raúl, werden ihre Amtszeit auf maximal zwei Mal fünf Jahre begrenzen müssen. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Kubas hat seinen Frauenanteil von dreizehn auf 42 Prozent, den der afrokubanischen Mitglieder von zehn auf 31 Prozent erhöht. Insgesamt wurden mehr als die Hälfte der Mitglieder abgewählt. Beschlossen wurde zudem der Rückzug der Partei aus dem Regierungsgeschäft, eine Neu(er-)findung ihrer Rolle wurde angekündigt. Die Partei solle sich, so Raúl Castro, insgesamt mehr auf ihre führende Rolle konzentrieren und durch Dialog und moralische Autorität überzeugen. Den KubanerInnen wurden mehr Rechts- und Vertragssicherheit, eine Stärkung des Marktes, mehr Privatinitiative und eine Differenzierung des Sozialsystem unter Beibehaltung wesentlicher Errungenschaften, vor allem Bildung und Gesundheit, in Aussicht gestellt. Das politische System soll durch Dezentralisierung, die Stärkung lokaler Mechanismen und ihrer Finanzierung durch einen Umbau des Steuersystems verbessert werden. Verschiedene Institutionen wurden eigens dafür geschaffen, die Umsetzung der Maßnahmen regelmäßig zu überprüfen, und eine parteiinterne Konferenz Ende Januar 2012 soll sich ausschließlich mit der Neuausrichtung der Partei beschäftigen.
Die formale Grundlage der auf dem Parteitag verabschiedeten und bisher noch nicht in vollem Umfang veröffentlichten Resolutionen sind die Diskussionen und Änderungsanträge der ursprünglich 291 Leitlinien, die im Laufe einer dreimonatigen Debatte entstanden. Diese Leitlinien waren von einer Programmkommission zusammengetragen worden und basierten wiederum auf zuvor informell und weniger systematisch geführten Konsultationen. Von Anfang Dezember 2010 bis Ende Februar 2011 wurden diese Leitlinien laut offiziellen Statistiken in 163.000 Versammlungen mit insgesamt fast neun Millionen Beteiligten diskutiert. Mehr als die Hälfte der Einwände und Vorschläge zu den politischen Leitlinien bezogen sich auf die Sozialpolitik und die makroökonomische Strategie. Im Ergebnis wurden zwei Drittel der Texte umformuliert, die wiederum zunächst dem Politbüro, dem Ministerrat und den VertreterInnen der Massenorganisationen vorgelegt und erneut abgeändert wurden, bevor sie auf dem Parteitag dann von verschiedenen thematischen Kommissionen behandelt wurden. Von diesen beiden Modifikationsprozessen und ihren konkreten inhaltlichen Eingriffen ist allerdings bisher wenig an die Öffentlichkeit gedrungen. Mariela Castro, Tochter Raúl Castros und Leiterin des Zentrums für Sexualerziehung (CENEX) berichtete jüngst auf dem kubanischen Aktionstag für sexuelle Toleranz, dass ein Gesetz für homosexuelle Ehen vorbereitet werde und die PCC ein Verbot von Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung verhandele. Aus Gewerkschaftsversammlungen wurde bekannt, dass der große Umstrukturierungsprozess des Arbeitsmarktes unter anderem dadurch verlangsamt wurde, dass viele Entscheidungsträger nicht ausreichend vorbereitet waren und es diverse Verfahrensfehler gab, die wiederum zu Beschwerden und Überprüfungen führten.
Im Vorfeld des Parteitags entwickelte sich eine neue Debatte um die Aufgaben und Grenzen staatlicher Fürsorge, ebenso wie die Möglichkeiten und Grenzen privatwirtschaftlicher Aktivitäten. Neben den Veröffentlichungen auf privaten Internetseiten von Insel- und ExilkubanerInnen sind in den offiziellen Medien Diskussionsräume entstanden, die auf eine neue Debattenkultur hindeuten. Die Wochenzeitung der Gewerkschaft, Trabajadores, die traditionsreiche Monatszeitschrift Bohemia sowie die neuere kultur- und ideologiekritische Zeitschrift Temas haben sich alle mit originellen, kritischen und dissidenten Ansichten an der Debatte beteiligt. In der auf den doppelten Umfang gewachsene Freitagsausgabe der Parteizeitung Granma werden in Leserbriefen von Privatpersonen und Berichten aus Versammlungen von Misständen, Korruption und Unregelmässigkeiten berichtet.
ÖkonomInnen vom Zentrum für das Studium der kubanischen Wirtschaft (CEEC) wie Omar Everleny oder Pavel Vidal plädierten dabei beispielsweise für eine Entgrenzung der zugelassenen Privatberufe, eine neue Rolle der Gewerkschaften als wirkliche Interessenvertretung gegenüber dem Staat und eine Minderung der bisher vorgesehenen Steuersätze für NeuunternehmerInnen. Insgesamt begrüßen sie zwar die nun verabschiedeten Maßnahmen, bezeichnen sie aber als „Minimalprogramm“. Andere AutorInnen, wie der ehemalige Diplomat und Linkssozialist Pedro Campos kritisierten vor allem den dirigistischen Charakter der Reformen. Stattdessen gelte es, ähnlich wie in Brasilien oder Ecuador, aktiv Kooperativen und andere freiwillige und selbst bestimmte Formen wirtschaftlicher Aktivitäten zu fördern. Der Regierungsberater Gerardo Ortega mahnt zu einer aktiveren Beteiligung der kubanischen BürgerInnen an den Staatseigentümern, um damit die Zweiteilung in „aktive EntscheidungsträgerInnen“ und passive BürgerInnen zu vermeiden.
Zuerst müsste allerdings jene Mentalität verändert werden, die als „psychologische Blockade am schwierigsten zu überwinden ist, weil sie über viele Jahre dieselben Dogmen und obsoleten Kriterien aufrecht hielt”, so Raúl Castro in seiner Parteitagsrede. Die Klassiker des Marxismus, insbesondere Lenin, hätten davon gesprochen, dass in einer künftigen sozialistischen Gesellschaft der Staat als Repräsentant des Volkes Eigentum an den grundlegenden Produktionsmitteln haben würde. „Wir“, so erklärte Castro schon bei einer Parlamentsrede im vergangenen Dezember, „haben dieses Prinzip verabsolutiert“. Die Entwicklung soll nun in Richtung eines dezentralisierten Modells gehen, in dem zwar Planungselemente dominieren, „aber die Markttendenzen nicht länger ignoriert werden, damit diese zur Flexibilisierung und ständigen Aktualisierung” beitragen könnten.
Die im Herbst 2010 begonnene Flexibilisierung im nicht-staatlichen Bereich sei das Ergebnis grundlegender Überlegungen und dieses Mal gäbe es „keinen Schritt zurück.“ Nach einer durch den Zusammenbruch des europäischen Staatssozialismus erzwungenen Öffnung wurden nach einer ersten wirtschaftlichen Erholung 1996 immer weniger neue Lizenzen für Privatbereiche vergeben, bestehende wurden oftmals nicht erneuert. Im Oktober 2010 war mit nur knapp 100.000 offiziell privat Beschäftigten ein Tiefstand erreicht. Seitdem ist die Zahl der neuen Genehmigungen bereits um 200 Prozent gewachsen. Nach Regierungsangaben geht man davon aus, dass während des nächsten Fünfjahresplans rund 1,8 Millionen KubanerInnen aus dem staatlichen Bereich ausscheiden und in den privaten Sektor wechseln.
In diesem erwartet sie ein sehr progressives Einkommens- und Lohnsteuersystem, das ständig neu abgestimmt wird. Dennoch werden nicht alle dabei Erfolg haben: Die wenigsten der kubanischen JungunternehmerInnen sind mit Erfahrungen oder ausreichend Startkapital versorgt. Die in Aussicht gestellten Mikrokredite wird es angesichts knapper Staatskassen erstmal noch nicht geben. Im Gegenteil ist der Staat bemüht, durch Steuern und Vorabzahlungen einen Teil des auf 25 Milliarden Peso (circa 660 Millionen Euro) geschätzten Privatvermögens (40 Prozent des BIP) abzuschöpfen und produktiv zu investieren. Rechtzeitig vor dem Parteitag verkündete die US-amerikanische Regierung, die Höchstgrenze zulässiger Überweisungen ohne Genehmigung nach Kuba auf 2.000 US-Dollar pro Jahr und Person zu erhöhen, „um privatwirtschaftliche Aktivitäten zu unterstützen.“
Eine wichtige Frage ist deshalb die Neuausrichtung des Sozialsystems. Es soll Abschied genommen werden von einem Modell wie der Lebensmittelkarte, dass von einer homogenen Masse von Menschen ausgeht, die alle das Gleiche erhalten. Stattdessen soll eine stärker differenzierte und an den realen Bedürfnissen ausgerichtete Unterstützung aufgebaut werden.
Begrüßenswert wäre dies allemal: zwar führt das nationale Statistikamt ONE bisher keine offiziellen Armutsstatistiken (auch das soll sich im Zuge der Dezentralisierung und stärkeren Transparenz jetzt ändern), aber die kubanische Soziologin Mayra Espina schätzt die urbane Armut landesweit auf mindestens 15 Prozent. Die Einkommensungleichheit sei seit 1990 um die Hälfte gewachsen, besonders benachteiligt seien Alte, Afro-KubanerInnen und Frauen.