Kunst | Nummer 346 - April 2003

Die Darstellung des Schreckens

Eine Ausstellung „im Zeichen der verlorenen Utopie“ zeigt engagierte zeitgenössische Kunst aus Argentinien und Deutschland

Alltag und Vergessen sind zwei Konstanten in unserem Umgang mit der Vergangenheit. Immer wieder gibt es aber auch Menschen und KünstlerInnen, die versuchen, das Vergangene zu rekonstruieren, die zum Verstummen gebrachten Stimmen der politischen und künstlerischen AktivistInnen zu retten. Dabei entsteht meist eine alternative Geschichte. Eine Ausstellung in Berlin versucht nun, dieser Version der Geschichte nachzuspüren und daran anzuknüpfen, ohne sich ideologisch vereinnahmen zu lassen.

Timo Berger

Ein unbesetzter Stuhl an einem Schreibtisch, auf dem Tisch, unter eine Glasplatte geklemmt, noch zu ordnende Dokumente, Fotos und Skizzen. Jeden Augenblick könnte der Archivar zurückkommen, suggeriert ein über die Stuhllehne geschlagenes Sakko. An der Wand hängen die Ergebnisse seiner Klassifizierungsarbeit, aufgeklebt auf gleich großes Papier: ein Foto eines Priesters aus der Basisbewegung der argentinischen Kirche neben einer Postkarte von Joseph Beuys, Zeitungsausschnitte mit Berichten über die peronistische Guerilla, Briefbögen des argentinischen Senats, auf die nackte Menschen gezeichnet sind – in Anspielung auf Bestechungsvorwürfe werden die Senatoren entblößt. Die Installation von Eduardo Molinari (*1961) mischt Fakten und Fiktion, macht daraus eine andere Geschichte, die das Material der offiziellen Geschichtsschreibung in einen neuen Kontext setzt und fragt: Was ist ein Dokument? Wie sind angemessene Formen des Erinnerns, und wie erreichen wir, dass diese Erinnerung für die Kämpfe der Gegenwart bedeutsam wird? Wie retten wir die Sehnsüchte der „Verschwundenen“, der Toten der Diktatur, nach gesellschaftlicher Transformation?
Molinaris Installation ist Teil der Ausstellung „Alltag und Vergessen – Argentinien 1976/2003“, die am 14. März in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in Berlin eröffnet wurde und noch bis zum 20. April zu sehen sein wird. Die Schau vereint Kunst von argentinischen und deutschen KünstlerInnen mit Bezug auf die sozialen und politischen Kämpfe der vergangenen dreißig Jahre. Dabei versucht die Ausstellung, eine Kommunikation zwischen Werken, KünstlerInnen und Publikum über die Länder- und Genregrenzen hinweg in Gang zu bringen und heterogenes Material im Zeichen der verlorenen Utopie zusammenzuführen. Die blutige Militärdiktatur (1976-83) markiert eine Zäsur in Argentinien, an der die Hoffnungen auf raschen gesellschaftlichen Wandel im Land zerbrachen. Doch danach ist nicht alles nur Trauerarbeit – die aktuelle Kunst macht sich zwar auf die Suche nach den Spuren jener Kämpfe, zeigt aber auch, dass Träume weiterbestehen, die politischen und künstlerischen Aktivismus damals wie heute inspiriert haben.
Wie Andreas Fanizadeh, Mitglied der kuratierenden „Arbeitsgruppe“ erzählt, stand am Anfang der Ausstellung aufgeräumte Leere: „In der NGBK war alles abmontiert, wir mussten tagelang Rigipswände errichten“. Eine Aufbauarbeit von Grund auf, die gleichwohl als Konstruktionsprinzip der Ausstellung verstanden werden kann. Die BesucherInnen erwartet deshalb kein Museum der Erinnerung, kein Archiv des Schreckens. Vielmehr ein offener Raum, der einlädt, Bezüge zwischen den Fotos, Installationen, Zeichnungen, Gemälden und Videos herzustellen. Es gibt Werke, die durch die Interaktion mit dem Betrachter vervollständigt werden – der Soundtrack zu einem Video von Alicia Herrero (*1954) über die Arbeiterinnen der Textilfabrik Confecciones Brukman entsteht „live“, indem die Geräusche der Zuschauer aufgezeichnet und abgespielt werden. Das Kunstwerk aus Argentinien komplettiert sich so erst durch seine Rezeption in Deutschland. Ein utopisches Zeichen – da der historische Austausch zwischen den beiden Ländern eher zu deren dunklen Kapiteln zu rechnen ist: Nach dem zweiten Weltkrieg fanden Nazischergen, protegiert von Perón, in Argentinien Unterschlupf, die deutsche Regierung unterstütze die Militärdiktatur der siebziger Jahre.

Vergangene und zeitgenössische Dialoge

Ein anderer Dialog dieser Ausstellung entwickelt sich zwischen den Werken der argentinischen Comicautoren Héctor G. Oesterheld (1919–1977) und Francisco Solano López (*1928) und den deutschen Künstlern Eva–Christina Meier (*1967) und Daniel Richter (*1962). Oesterheld ist Texter, Solano López Zeichner, ihre Bildergeschichten über todbringende „Schneeflocken“ über Buenos Aires erzählen von einer Welt der immer währenden Bedrohung. Vorausahnend, denn einige Jahre später werden Oesterheld und drei seiner Töchter „verschwinden“, verfolgt und ermordet von der Junta wegen ihres politischen Engagements.
Eva–Christina Meier ist nach Buenos Aires gefahren und hat einen Enkel Oesterhelds ausfindig gemacht. Sie fotografiert ihn auf offener Straße in Palermo, einem Stadtviertel von Buenos Aires. Entgegen aller Erwartungen portraitiert sie ihn aber nicht als Opfer einer grausamen Vergangenheit, sondern als jungen, gut aussehenden Mann, fast ein Dandy, der dem Objektiv standhält, es sogar schafft, den Ausblick hin auf eine andere, hoffnungsvolle Gegenwart zu verschieben. Ein anderes Foto jedoch zeigt seine Wohnung in einem Hochhaus, in dem auch viele ehemalige Angehörige der Streitkräfte, vielleicht die Mörder seiner Verwandten, leben. Kontinuität und Diskontinuität historischer Prozesse verdichten sich so im Bild eines einzigen Menschen. Auf einem weiteren Foto ist eine Kommode in seiner Wohnung zu sehen, auf der eine Plastikfigur des eternauta, der Comicfigur Oesterhelds, neben Büchern aus dem argentinischen Literaturkanon steht. Damit bekennt sich die Ausstellung zu den oft als subkulturell disqualifizierten Genres, auch weil diese durch den Umstand der Verfolgung ihrer Autoren eine politische Relevanz bekommen haben.
Die Comicspur wird in einem bis zur Decke reichenden Wandgemälde von Daniel Richter wieder aufgegriffen: Eine Szene aus einem Oesterheldcomic – die abgebildeten Menschen träumen, dass sie erschossen werden. Was ihnen so real vorkommen muss, dass sie fliehen.
Der Argentinier Molinari betont im Gespräch vor allem die Notwendigkeit, „immer wieder Visionen über dasselbe Territorium zu entwerfen“. Geschichte darf nicht zu einem Denkmal erstarren. Alltag und Vergessen sind zwar Konstanten unseres Umgangs mit dem Vergangenen, die gezeigten Werke versuchen aber diese Prozesse umzukehren, aktuelle und historische Kämpfe zu rekonstruieren, und sie auf die Gegenwart zu beziehen. Die Kunst, so Molinari auf die Frage, welche Veränderungen die Krise mit sich gebracht hat, findet in Argentinien nicht mehr im Elfenbeinturm statt. Auch ohne realistisch zu sein, hat sie wieder gesellschaftliche Relevanz bekommen. Und Alicia Herrera ergänzt: „Du fragst dich mittlerweile nicht nur, was du machst, sondern auch für wen du es machst?”

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