Film | Nummer 476 - Februar 2014

Die Einsamkeit in der Masse

Bilder der modernen Großstadt: der brasilianische Erfolgsregisseur Marcelo Gomes präsentiert einen Kunstfilm im Quadrat

Claudia Fix

Am Anfang ist nur Schweigen: Mit langen Einstellungen immer neuer Menschenmassen, die wie in einer einzigen Bewegung über Plätze, Bahnhöfe und Rolltreppen treiben, zeigt der neue Film von Marcelo Gomes einen äußerst schweigsamen Protagonisten, dessen einziges Vergnügen in der Beobachtung zu liegen scheint. Schweigend nimmt Juvenal sein Mittagessen in der Kantine ein, schweigend folgt er dem Gespräch der Kollegen am Nebentisch. Auch die Unterhaltung während der Fahrt zur Arbeit mit einer Kollegin wird unversehens zum Monolog.
2005 hatte der brasilianische Regisseur Marcelo Gomes mit seinem Debütfilm Cinema, Aspirina e Urubus (Kino, Aspirin und Geier) großen internationalen Erfolg. Nach einer Prämierung in Cannes gewann der Film mehr als 50 internationale Preise. Mit seiner Nominierung für einen Oscar in der Sparte des besten fremdsprachigen Films wurde das Roadmovie über einen Deutschen, der in den 1940er Jahren im Nordosten Brasiliens Aspirin verkauft, schließlich auch ein Erfolg beim brasilianischen Publikum.
In O Homen das Multidões (Der Mann der Massen) arbeitete Gomes mit dem international bekannten bildenden Künstler Cao Guimarães zusammen, der bereits in der Tate Gallery in London und dem Museum of Modern Art in New York ausgestellt hat. Gemeinsam haben sie eine prägnante Bildsprache entwickelt, bei der zunächst das quadratische Format des Films überrascht, durch das jede Einstellung unweigerlich zum Kunstwerk gerät. Unterstützt wird der Effekt durch die präzise Gestaltung jeder Szene und eine klare Farbgebung, mit der ein wie von der tropischen Sonne ausgeblichenes, karges Belo Horizonte in Beige- und Weißtönen gezeigt wird. Protagonist Juvenal ist Bahnführer in den Vorortzügen von Belo Horizonte und so schwelgt der Film in der Ästhetik von Licht und Schatten ein- und abfahrender Züge, langer Schienenstrecken und der Spiegelungen in sich öffnenden Türen.
Aber Bahnführer Juvenal ist nicht nur sehr schweigsam – im ganzen Film spricht er kaum mehr als zwanzig kurze Sätze – er ist auch einsam. Sein Beobachterstatus in der Masse zeigt ihn genauso vereinzelt wie die Szenen am Feierabend in seinem Apartment, in dem er nur ein einziges Wasserglas benötigt. Als seine Kollegin Margô ihn bittet, Trauzeuge bei ihrer Hochzeit zu werden, stürzt ihn das in einen inneren Konflikt: ein Kontakt, dem er nicht ausweichen kann.
Doch die Braut ist letztlich nicht weniger einsam. Ihren schattenhaften Verlobten, der nur zweimal flüchtig im Film zu sehen ist, hat sie im Internet kennengelernt. Hier hält sie sich in ihrer Freizeit auf, findet die Gesellschaft, die sie sucht. „Ich kenne so viele Leute im Internet“, sagt sie zu Juvenal, „doch nur dich traue ich mich zu fragen, ob du mein Trauzeuge werden willst.“
So schweigen die beiden gemeinsam, während sie die notwendigen Vorbereitungen für die Hochzeit treffen. Gelegentlich versucht Margô die Sprachlosigkeit durch die Beschäftigung mit ihrem Smartphone zu überspielen. Und während Juvenal und Margô schweigen, halten Marcelo Gomes und Cao Guimarães den Zuschauer_innen in ästhetisch ausgestalteten Bildern unbarmherzig 95 Minuten lang einen filmischen Spiegel des Menschen der heutigen Moderne vor.

O Homem das Multidões // Marcelo Gomes und Cao Guimarães // Brasilien 2013 // 95 min // Berlinale Panorama

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