Nicaragua | Nummer 607 - Januar 2025

Die Freude verdorben

Neue Kanalpläne trüben das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugunsten Indigener Gemeinschaften

Auf dem Wirtschaftsgipfel China-Lateinamerika und Karibik im November 2024 wartete Staatspräsident Daniel Ortega Saavedra mit neuen Plänen für den Bau des Interozeanischen Kanals auf. Nachdem die nicaraguanische Regie­rung wegen dubioser Geschäftspraktiken des chinesischen Investors Wang Jing das ursprüngliche Kanalprojekt 2024 aufgeben musste, begibt sie sich nun mit einem Alternativ­entwurf auf die Suche nach weiteren Investoren. Zeitgleich verurteilte der Interame­rikanische Gerichtshof für Menschen­rechte (IACHR) den nicaraguanischen Staat zu Entschä­digungs­zahlungen wegen der materiellen und immateriellen Schäden, die Indigenen Gemein­schaften durch den Eingriff des Bauvorhabens in ihr Territorium entstanden sind. Die LN berichten über die Hintergründe des neuen Kanalprojekts und den bitteren Bei­geschmack, den das jüngste Urteils des IACHR hinterlässt.

Von Elisabeth Erdtmann
Ortegas neues Himgespinst Ein Kanal mitten durch Nicaragua (Karte: Elisabeth Erdtmann & John Mark Shorack (mit Datawrapper)

Am 18. November 2024 fand in der nicaraguanischen Hauptstadt Managua der 17. Wirtschaftsgipfel China-Lateinamerika und der Karibik statt. Staatspräsident Ortega nutzte die Bühne, um den Gipfelteilnehmer*innen die Idee eines neuen Interozeanischen Kanalprojekts vorzustellen. Die 250 chinesischen Geschäftsleute und 70 lateinamerikanischen Delegierten bekamen jedoch lediglich eine PowerPoint-Präsentation zu sehen, in der die neue Route fast doppelt so lang ausfällt wie der Schifffahrtsweg, der dadurch aufgegeben werden könnte. Weder Machbarkeitsstudien noch Umwelt-Expertisen oder Wirtschaftlichkeitsberechnungen untermauerten sein Vorhaben; er legte lediglich eine simple Landkarte mit einer Route vor, die den Pazifischen Ozean und das Karibische Meer verbinden.

Als wollte Ortega die chinesischen Unternehmer*innen in Zugzwang bringen, betonte er laut der Nachrichtenplattform 100% Noticias die Dringlichkeit des Kanals wie folgt: „Sie wissen, dass es jeden Tag komplizierter wird, Panamá zu passieren“, da es Probleme mit der Kapazität für die Durchfahrt von Schiffen gebe, was den Seetransit extrem verlangsame. „Selbst nordamerikanische Geschäftsleute wären daran interessiert, in diesen Kanal zu investieren, weil sie (…) einen reibungslosen Transit durch die Seewege brauchen.“

Die neue Route hätte ihren Ursprung in einem Hafen in Bluefields, in der Autonomen Region Südkaribik, der dafür zunächst gebaut werden müsste. Anschließend würde der Kanal mitten durchs Landesinnere führen, den Xolotlán-See (auch Managua-See genannt, da sich die Hauptstadt bis zu dessen Südufer erstreckt) durchqueren und im Pazifikhafen von Corinto enden. Laut Ortega wäre der Kanal rund 445 Kilometer lang, zwischen 290 und 540 Metern breit und 27 Meter tief. Außerdem müssten zwei Schleusen jeweils auf der Karibik- und der Pazifikseite gebaut und ein künstlicher See angelegt werden.

Auch dieses Projekt würde mit der massenhaften Umsiedlung Tausender Familien und der Enteignung Tausender Hektar Land einhergehen. Der 2012 vom Parlament genehmigte und 2024 ad acta gelegte Kanal − von seinen Befürworter*innen als „größtes Tiefbauprojekt in der Geschichte der Menschheit“ gepriesen−verlief durch den südlichen Landesteil und war„nur”278 Kilometer lang. Für Amaru Ruiz, Präsident der Umweltschutzorganisation Fundación del Río, bestehen bezüglich der Neuauflage des Projekts gravierende Ungereimtheiten: Beispielsweise sage Ortega nicht, wo er das Wasser für 27 Meter Kanaltiefe entnehmen wolle. „Der Xolotlán-See ist im Durchschnitt 9,5 Meter tief. Um zumindest im See eine solche Tiefe zu erreichen, muss eine Menge Sediment abgetragen werden, ganz zu schweigen von den anderen Gebieten, durch die das Wasser fließen soll”. Die Nachricht löste unter Umweltschützer*innen Entsetzen aus. Fundación del Rio veröffentlichte umgehend eine Erklärung, worin anprangert wird, dass dieses Projekt „nicht nur fortlaufend die Grundrechte der Indigenen und Afro-Indigenen Gemeinschaften verletzt, sondern auch gegen die Grundsätze der ökologischen Nachhaltigkeit verstößt, da es ausländischen Wirtschaftsinteressen Vorrang vor dem Wohlergehen der nicaraguanischen Bevölkerung und ihrem natürlichen Erbe einräumt“.

Neuer Kanalentwurf in PowerPoint-Version

Die Koordinatorin und Rechtsanwältin des Rechtshilfezentrums für Indigene Völker (CALPI), María Luisa Acosta, wies in einem Interview mit Confidencial in der Sendung Esta Noche darauf hin, dass die neue Trasse erneut durch mehr als 50 Prozent der Indigenen Territorien der Rama und Kriol verlaufen würde. Alle diese Gemeinschaften müssten konsultiert werden, um ihre territorialen, kulturellen und ökologischen Rechte zu berücksichtigen.Sie räumt dem Staat zwar das Recht ein, ein solches Projekte durchzuführen, doch habe er auch die Pflicht, die Betroffenen zu konsultieren, zu informieren und die Menschenrechte zu achten. „Das Problem ist also nicht, dass es gemacht wird, sondern dass es schlecht gemacht wird, wie beim ersten Mal“, klagte Acosta.

Am 18. November, dem Tag, an dem Ortega den Gipfelteilnehmer*innen sein PowerPoint präsentierte, verurteilte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IACHR) den nicaraguanischen Staat dazu, die Indigenen Gemeinschaften mit bis zu 1,5 Millionen US-Dollar für Schäden zu entschädigen, die ihnen durch die Genehmigung des gescheiterten Interozeanischen Kanalprojekts entstanden sind.

Das Urteil ist eine Antwort auf die Klage, die 2022 von den Indigenen Gemeinschaften der Rama und Kriol, der Gemeinde Monkey Point und der Indigenen Gemeinschaft der Schwarzen Kreolen von Bluefields, im Zusammenhang mit dem Interozeanischen Kanalprojekt eingereicht wurde (siehe LN 586). Hierbei ging es um die Aufhebung des Gesetzes 840, auf dessen Grundlage die Konzession für den Kanal an den chinesischen Investor Wang Jing vergeben wurde. Besagtes Gesetz wurde im Mai 2024 außer Kraft gesetzt, denn Jings Unternehmensgruppe HKND war zwischenzeitlich in Insolvenz geraten (siehe LN 600).

Der IACHR stellte in seinem Urteil fest, dass der nicaraguanische Staat „in unzulässiger Weise in die Benennung von Behörden und kommunalen territorialen Vertretern der Indigenen Gemeinschaft der Schwarzen Kreolen von Bluefields sowie der neun Gemeinden, die die Völker der Rama und Kriol bilden, eingegriffen hat“, so dass diese einer Vereinbarung über den Bau des Kanals auf Indigenem Land zustimmten. Vom Gericht gerügt wurde zudem, dass der Staat die Konzession für das Projekt des Großen Interozeanischen Kanals von Nicaragua ohne ein Verfahren der freien, vorherigen und informierten Konsultation genehmigte und vergab. Außerdem habe der Staat die Gebietsrechte der Gemeinden verletzt, auf verschiedene Klagen nicht angemessen reagiert und nicht die erforderlichen Präventivmaßnahmen gegen die Umweltauswirkungen ergriffen, die durch die Aktivitäten der Siedler (zum Beispiel illegale Inbesitznahme von Indigenem Land und Abholzung zur Gewinnung von Weideland) auf dem Gebiet der Gemeinden entstehen.

Der Staat wird laut dem Urteil des IACHR dazu verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zur Sanierung der Gebiete zu ergreifen sowie die friedliche Koexistenz, die Nutzung von Grund und Boden und den Schutz des Eigentums zu gewährleisten. Die Entschädigungssumme für die verursachten materiellen und immateriellen Schäden an den Gemeinden wurde auf 1,5 Millionen Dollar festgesetzt. Die Verwendung der Entschädigung hat der IACHR detailliert festgelegt. Gefordert wird die Einrichtung eines Fonds, aus dem „Projekte für Bildungszwecke, Wohnraum, Ernährungssicherheit, Gesundheit, Trinkwasserversorgung, Bau von sanitärer Infra­struktur, Abwasserentsorgung, Umwelt­sanierung, Sicherheit und Rückkehrpläne zugunsten der Mitglieder der Opfergemeinden finanziert werden, welche im Einklang mit ihren eigenen Entscheidungsmechanismen und Institutionen entschieden werden“, heißt es in dem Urteil. Der Staat wird dazu verpflichtet, den Fonds innerhalb eines Jahres nach Bekanntgabe des Urteils einzurichten, die Auszahlung erfolgt in Teilbeträgen, je nach den Erfordernissen der von den Gemeinden eingereichten Projekte. Der Gerichtshof genehmigte außerdem eine Entschädigung für einzelne Vertreter*innen der Indigenen Gemeinschaften, die sich dem Kanalprojekt widersetzt hatten und deswegen Opfer von Repression geworden waren.

Um den Schaden, der den Opfern zugefügt wurde, wiedergutzumachen und um zu verhindern, dass sich die Ereignisse wiederholen, ordnete der IACHR an, „dass der Staat einen öffentlichen Akt der Anerkennung der internationalen Zuständigkeit in Bezug auf den Sachverhalt des vorliegenden Falles vornimmt“. In diesem Akt müsse der Staat auf die in dem Urteil festgestellten Tatsachen und Menschenrechtsverletzungen hinweisen. Die Anwältin María Luisa Acosta erklärte hierzu, dass das Urteil die Indigenen Gemeinschaften tief berührt habe und sie vom Staat nun erwarteten, dass er seinen Verpflichtungen nachkomme.

Urteil spricht Rama und Kriol 1,5 Millionen US-Dollar Entschädigung zu


Wie wir miterleben, können neoliberale Extremist*innen, autoritäre Regierungen und Diktatoren, die sich um die Rechte der Indigenen Gemeinschaften nicht scheren, in Lateinamerika wieder Fuß fassen. Als Folge werden nicht nur international verbindliche Standards des Völkerrechts zunehmend ausgehöhlt, sondern auch die Verbindlichkeit der Rechtsprechung internationaler Gerichte, insbesondere derer, die sich mit Menschenrechtsverletzungen befassen. Insofern mischt sich in die Genugtuung über das IACHR-Urteil unweigerlich Bitterkeit. Denn es ist unwahrscheinlich, dass die nicaraguanische Regierung die Auflagen des Urteils erfüllt. Bislang hat sie es nicht einmal zur Kenntnis genommen: Bei der Urteilsverkündung, die durch den Vizepräsidenten des IACHR, Rodrigo Mudrovitsch, in einem virtuellen Akt erfolgte, war der Staat Nicaragua nicht anwesend. Dieser ist bereits 2022 wegen Missachtung des Gerichts verurteilt worden, weil er weder die Entscheidungen des IACHR befolgt noch auf seine Mitteilungen reagiert hat.

Nach Amaru Ruiz ist die Ankündigung der Route für einen neuen Schifffahrtskanal „nichts weiter als eine Illusion, um die Moral der Befürworter [des Kanals] angesichts der internationalen Niederlage vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte zu stärken“. Einiges spricht dafür, wenn Ortega ausgerechnet am Tag der Verurteilung seiner Regierung mit einem völlig unausgegorenen Projekt daherkommt. Andererseits bestätigt sich aber auch die nie zur Ruhe gekommene Befürchtung der vielen Kanalgegner*innen, dass der Abgang des chinesischen Fehlspekulanten Wang Jing keineswegs vor einer Reanimation des Projekts schützt.


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