Chile | Nummer 315/316 - Sept./Okt. 2000

Die geteilte Gesellschaft

Pinochet polarisiert noch immer die Menschen

In den chilenischen Streitkräften rumort es. Seit ihrem ehemaligen Oberbefehlshaber Augusto Pinochet im Fall der so genannten Todeskarawane die parlamentarische Immunität abgesprochen wurde, sind viele Militärs vor einer möglichen Strafverfolgung nicht mehr sicher.

Sandra Grüninger

Die Unabhängigkeits-Feierlichkeiten der Streitkräfte in Chile werden diesen September wohl etwas gedämpfter ausfallen. Nachdem der Oberste Gerichtshof die Aufhebung der parlamentarischen Immunität des Ehrensenators auf Lebenszeit Augusto Pinochet bestätigt hat, herrscht unter den Uniformierten und Ex-Uniformierten Katerstimmung. Nicht nur, dass die Militärs diese Vor-Verurteilung „ihres Generals“ übelnehmen, der über 25 Jahre oberster Chef der Streitkräfte war.
Vor allem die Generäle im Ruhestand fürchten nun, dass neue Tatsachen zum Vorschein kommen, deren Existenz sie zusammen mit den Verhaftet-Verschwundenen seit Jahrzehten für immer verscharrt und verschwunden glaubten und für die sie nun hinter Gitter kommen könnten. Dieses jüngste Urteil des Obersten Gerichtshofes stellt auch einmal mehr die bis vor zwei Jahren gängige Interpretation des Amnestie-Gesetzes in Frage, nach der zwischen 1973 und 1978 begangene Verbrechen nicht nur straffrei bleiben, sondern bei denen erst gar nicht ermittelt wurde.
14 der 20 obersten Richter folgten den Argumenten der Anklage, die, im Einklang mit der internationalen Rechtsprechung, das Verschwindenlassen von Menschen als andauernde Entführung ansieht, die so lange nicht beendet ist, bis die Körper der Verschwundenen auftauchen. Im konkreten Fall geht es dabei um 12 Personen, die in der Region um La Serena im Norden Chiles im Rahmen der so genannten Todeskarawane von Militärs verhaftet wurden und deren Verbleib bis heute unbekannt ist. Als militärischer Oberbefehlshaber wird Pinochet die Verantwortung für diese Verbrechen zugewiesen. Für Beobachter unerwartet war dabei, dass neben der Aberkennung der parlamentarischen Immunität in zweiter Instanz die Richter auch Stellung zum Folgeprozess nahmen und für den sie die Anwendung des Amnestie-Gesetzes oder Verjährungs-Regelungen ausdrücklich ausschlossen.

Knackpunkt Entführungsthese

Die Vorgehensweise und der Ausgang der Menschenrechtsprozesse hängt weitgehend von der Interpretation ab, die der jeweilige ermittelnde Richter von der internationalen Rechtsprechung macht. Der im Pinochet-Fall ermittelnde Richter Juan Guzmán wird sich nur die Fälle vornehmen, in denen die Leichen bis heute verschwunden sind. Er stützt sich auf die Entführungsthese. Kein Wunder deshalb, dass die Militärs und die politische Rechte heute, nachdem sie sich jahrelang bemüht hatten, die misshandelten Leichen ihrer Gegner auf immer verschwinden zu lassen und Massengräber sogar im Nachhinein nochmals geöffnet und Leichen entfernt wurden, heute darauf beharren, dass die über 1.000 Verhaftet-Verschwundenen selbstverständlich schon lange tot seien, die Ermordungen Teil der Amnestie und die These der Entführung lächerlich.
Unklar ist jedoch noch, inwieweit die Aberkennung der Immunität Pinochets, ausgesprochen im konkreten Fall der Todeskarawane, auch den Weg für andere Prozesse geebnet hat, oder ob jedes Mal ein neuer Immunitätsprozess aufgerollt werden muss. 170 Klagen liegen heute in Chile gegen Pinochet vor.
Der Todeskarawanen-Prozess gegen Pinochet kann jedenfalls nur noch verhindert werden, wenn der Angeklagte nicht prozessfähig ist, das heißt, geistig nicht in der Lage ist, dem Prozess zu folgen oder sich zu erinnern. Pinochet, wie jeder Angeklagte über 70 Jahre, muss sich deshalb einer entsprechenden medizinischen Untersuchung unterziehen. Die Verteidigung wollte wegen Pinochets Gesundheitszustand schon die Aberkennung der Immunität verhindern, was jedoch von den Richtern mit 11 zu 9 Stimmen abgelehnt worden war. Nun versuchen die Pinochet-Anwälte mit diesem Argument das auf den 9. Oktober festgelegte erste Verhör Pinochets zu verhindern. Den Ex-Diktator als krank und damit nicht prozessfähig zu erklären hieße aber, ihn für senil und verrückt zu erklären, denn humanitäre Gründe sieht das chilenische Recht nicht vor. So scheint es nur scheinbar widersprüchlich, dass es Pinochet angeblich schwerfällt, sich zu konzentrieren und komplexen Gedankengängen zu folgen, er aber gleichzeitig über ein reges Sozialleben verfügt, das Pinochet furchtlos und ungebrochen bei öffentlichen Auftritten zeigt.
Diese Auftritte sind Teil der Public Relations, auf die sich die Pinochetisten nach dem Scheitern der juristischen Strategie konzentrieren. Dabei wird Pinochet als versöhnlicher Großvater im Kreise seiner Familie und bei Gedenkveranstaltungen für Opfer unter den Militärs zu Diktaturzeiten präsentiert. Höhepunkt dieser Öffentlichkeits-Offensive war am „Tag der nationalen Einheit“, am 4. September, die Pressekonferenz, bei der Pinochets Enkelin im Beisein des schweigenden Großvaters, ohne weitere Kommentare, einen „Brief an die Chilenen“ verlas. Diese Stellungnahme, ebenso wie der im letzten Jahr ins Leben gerufene „Tag der nationalen Einheit“, wurde jedoch im allgemeinen als wenig hilfreich angesehen, zumal er anstelle der erwarteten minimalen Eingeständnisse nur Allgemeinplätze enthielt, etwa: die Vergangenheit ruhen zu lassen und in die Zukunft zu blicken.

Zeugenaussage im Internet

Tränen der Wut und Enttäuschung auf der einen und knallende Sektkorken auf der anderen Seite des Justizpalastes, vor dem sich Pinochet-Anhänger und Gegner auf 300 Meter Entfernung tagelang gegenüberstanden, machten beim Prozess um Pinochet einmal mehr klar, dass Chile von nationaler Einheit noch weit entfernt ist. Zwei Monate vor den Kommunalwahlen steht es der politischen Rechten gut, mit gewisser Agressiviät auf sich aufmerksam zu machen. So wird nicht nur Präsident Lagos im Zusammenhang mit dem Thema Menschenrechte mehr oder weniger als Versager hingestellt, dem es nicht gelingen würde, den sozialen Frieden herzustellen, sondern der die Vergangenheit wieder aufwärmt und für Spaltung sorgt. Auch das Urteil des Obersten Gerichtshofs wird als politisch und die Begründung als lächerlich bezeichnet. Einer der Richter am Obersten Gerichtshof, der für die Aufhebung der Immunität Pinochets gestimmt hatte, wurde von rechten Abgeordneten umgehend wegen Vernachlässigung seiner Amtspflichten angeklagt.
Gravierender jedoch war der Umstand, dass kurz nach der endgültigen Aberkennung der Immunität plötzlich wichtige Ermittlungsakten auf dem Weg vom Obersten Gerichtshof zu Richter Guzmán verschwanden, die wenig später auf den Internetseiten der chilenischen Tageszeitung El Mostrador veröffentlicht wurden. Es handelte sich um die Zeugenaussage von Pedro Rodríguez, der zum Zeitpunkt des Putsches ein junger Soldat war und detaillierte Informationen, vor allem Namen, im Zusammenhang mit der Todeskarawane lieferte.
Rodríguez beschreibt unter anderem, wie der Coronel Marcelo Moren Brito im Verhör einem der Studentenführer der Technischen Universität eine rote Papier-Zielscheibe auf die Brust heften ließ, ihn selber erschiesst und seine Leiche in einem der Feuer auf dem Universitätsgelände verbrennen ließ. Moren Brito ist einer der ranghöheren Militärs, die an der Todeskarawane beteiligt waren.
Die Veröffentlichung dieser Zeugenaussage lieferte den Generälen im Ruhestand, die zur Zeit der Menschenrechtsverbrechen Schlüsselstellungen in den Streitkräften hatten und auf deren Informationen die heutigen militärischen Führer angewiesen sind, einen guten Vorwand. Sie erklärten, dass es unter diesen Umständen viel schwieriger geworden sei, Informationen zu bekommen, da das Vertrauen gestört und die Sicherheit des „Berufsgeheimnisses“ nicht mehr gegeben sei.
Wie die Akten auf Abwege gekommen sind, ist noch unklar. Den Militärs wurden damit aber auf jeden Fall gute Argumente in die Hand gegeben, ihre Kooperationsbereitschaft wieder ein bisschen zu mindern, zu der sie sich in der Abschluss-Vereinbarung der Mesa de Dialógo, des runden Tisches, verpflichtet hatten. Das darin gegebene Versprechen, Informationen über die Verhaftet-Verschwundenen zu beschaffen, war im Juni von den Generälen als letztes Mittel gesehen worden, um Pinochet und sie selbst vor einer möglichen Verurteilung zu schützen. Die Militärs gingen offensichtlich bis zum Schluss davon aus, dass parallel zur Justiz hinter den Kulissen noch eine politische Lösung gefunden würde, zumal zwischen der Entscheidung der Richter und deren offizieller Verkündigung nochmals zwei Wochen verstrichen waren.
Auch das Verhalten von Ricardo Izurieta, Oberbefehlshaber der Streitkräfte, der sich mit Gesten während der Zeit des Prozesses deutlich zurückgehalten hatte und auch Pinochet nur einmal zusammen mit seiner Frau einen persönlichen Besuch abgestattet hatte, deutet daraufhin, dass die Streitkräfte bis zur offiziellen Verkündigung der bereits bekanntgewordenen Aberkennung der Immunität immer noch darauf vertraut hatten, dass irgendjemand oder irgendetwas das Ergebnis noch ändern könnte.
Umso heftiger waren dann die Reaktionen, als die Aberkennung der Immunität bestätigt wurde. Noch am selben Tag der Urteilsverkündigung besuchte eine Delegation aus hochkarätigen Militärchefs Pinochet, um ihm ihre Solidarität auszusprechen. Damit war die Beziehung zwischen Streitkräften und Präsident mal wieder auf dem Tiefpunkt. Kühle Briefe wurden ausgetauscht, wer wem was zu sagen hätte, und schließlich war es Präsident Lagos, der einlenkte und vor einer längeren Auslandsreise General Izurieta mit Frau zum Abendessen nach Hause einlud.

Lebenslang für Ex-Geheimdienstler

Daneben dürfen aber die übrigen Handlanger der Diktatur und die laufenden Prozesse gegen sie nicht vergessen werden. Für Aufsehen hat die lebenslange Verurteilung von Álvaro Corbalán Castilla gesorgt, einem wichtigen Mitglied eines der chilenischer Geheimdienst zu Diktaturzeiten, des CNI, und Chef des berüchtigten Cuartel Borgoño, eines CNI-Folterortes.
Álvaro Corbalán Castilla, der auch wegen der Ermordung des Gewerkschaftsführers Tucapel Jiménez angeklagt ist, wurde wegen Mordes an dem Handwerker Juan Alegría verurteilt. Diese Ermordung steht in engem Zusammenhang mit der Ermordung von Tucapel Jiménez. Der tote Handwerker war mit einem Brief gefunden worden, in dem er sich des Mordes am Gewerkschaftsführer beschuldigte. Im Lauf der Ermittlungen kam heraus, dass der Handwerker vom Geheimdienst ermordet, der Brief unter Hypnose erzwungen und sein angeblicher Selbstmord fingiert war, um von der Beteiligung des Geheimdienstes an der Ermordung Tucapel Jiménez abzulenken. Der Hypnotiseur Osvaldo Pincetti, schon seit den 70er Jahren für den Geheimdienst tätig und an Folterungen beteiligt, um den Gefangenen Informationen zu entlocken, wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt.

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