Literatur | Nummer 387/388 - Sept./Okt. 2006

Die Insel der Poesie

Leopoldo Brizuelas zweiter Roman Inglaterra erscheint auf deutsch

Leopoldo Brizuela hat mit Inglaterra eine originelle Version von Shakespeares „Der Sturm“ geschaffen. Eine Reise von Patagonien über Shakespeare und zurück nach Patagonien, um dort den Ursprung der Poesie zu finden.

Eva Danninger

Wieder einmal ist „Der Sturm“ von Shakespeare die Allegorie, die Lateinamerika in Worte fasst. Leopoldo Brizuelas neuer Roman Inglaterra greift poetisch den Mythos von dem Wilden Kaliban auf. Diesmal ist es nicht der Luftgeist Ariel, sondern der Wilde, der Shakespeare zu seinem Stück inspiriert, als er nach Europa gebracht wird und auf den Schriftsteller trifft. Eine schicksalhafte Begegnung, die jenes Stück hervorbringt, das im Werk Shakespeares seltsam deplaziert wirkt.
Die Ritter der Rose, die Theatergruppe um Shakespeare, muss auf einem Schiff namens Almighty Word um die Welt reisen, da sie des Landes verwiesen wurden. Sie führen ausschließlich Shakespeares Stücke auf, um den Menschen das Wort nahe zu bringen, „um sie sehen zu lernen“. Erst die Gräfin Broadback, auf der Suche nach dem „Namen ihres Schicksals“, kann die Rolle des Kaliban ausfüllen und kommt bei ihrer Suche bis nach Patagonien, um dort den Namen ihres Schicksals zu finden und gleichzeitig das Stück Shakespeares zu seinem Ursprung zurückzubringen.
Der Roman unternimmt eine spannende Reise von England nach Patagonien, wo die letzten Ona, eine der Ethnien im äußersten Ende des Kontinents, ausgerottet werden. Der Reichtum ihrer Sprache ist der Ursprung der Sprache und der Poesie. Die Geschichte Lateinamerikas wird Literatur. Realität und Phantasie werden ununterscheidbar. Inglaterra stellt so den Eurozentrismus in Frage, ohne zu provozieren. Die Grenzen zwischen den Kontinenten lösen sich auf, denn Poesie ist universal. Unversehens erweitert sich der Horizont, und die künstlichen Grenzen der Weltpolitik werden nichtig.
Die Geschichte vom Werk Shakespeares verknüpft sich in einer spannenden Reise mit der der letzten Indigenen Patagoniens. Ein Appell, sich der schöpferischen Energien der Menschen zu besinnen. Das Motiv der Reise und der Suche wird einmal mehr zum sinnstiftenden Moment in einem Roman, den man auf mehreren Ebenen lesen kann: als Abenteuergeschichte, als ein Stück Weltgeschichte, als Essay über die Literatur und die verborgene Kraft der Poesie.

Leopoldo Brizuela: Inglaterra. Aus dem argentinischen Spanisch von Christian Hansen. Berliner Taschenbuch Verlag 2006, 415 Seiten, 12,90 Euro

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