Die Kinder der Verschwundenen
Interview mit Mario Santucho von H.I.J.O.S.
Warum habt ihr H.I.J.O.S. gegründet und arbeitet nicht in einer der bestehenden Menschenrechtsorganisationen mit?
Nach einer Reihe von Gedenkveranstaltungen für “Verschwundene” unter der Militärdiktatur gab es Ostern 1995 von der Stadt La Plata aus die Initiative zur Gründung von H.I.J.O.S. Derzeit gibt es ungefähr 15 Regionalgruppen und darin sind über 1.000 Leute organisiert, in Buenos Aires-Stadt kommen zu den Treffen zwischen 70 und 100 Leuten. Einige von uns haben bei anderen Menschenrechtsgruppen mitgemacht.
Ich bin in Kuba aufgewachsen, nachdem wir in den 70er Jahren flüchten mußten. 1993 kam ich zurück nach Argentinien und arbeitete bei den Madres mit. Aber viele der Kinder von Verschwundenen machen nichts, und so versuchen wir, eine Art politischen Kristallisationspunkt zu schaffen. Bei H.I.J.O.S. arbeiten Kinder von Ermordeten, Verschwundenen, politischen Gefangenen und Exilierten während der letzten Militärdiktatur mit. [siehe LN 262] Die meisten sind so um die 20 Jahre und haben wenig politische Erfahrung.
Wie geht das zusammen und welches sind eure Schwerpunkte?
Wir sind in der Tat sehr heterogen. Das ist ein Vorteil, denn damit haben wir ein breites Spektrum an politischen Perspektiven und Meinungen. Aber gleichzeitig ist es auch ein Nachteil, denn viele Themen können nicht vertieft werden. Zur Zeit sind wir in einer Phase, in der wir sehr intensiv verschiedene Dinge diskutieren und versuchen, Mindestkonsense zu erarbeiten.
Im vergangenen Jahr ging es angesichts des 20. Jahrestages des Militärputsches vor allem um die Geschichte und deren Interpretation, um die Aufarbeitung der Kämpfe in den 70er Jahren und die damaligen politischen Einschätzungen und Perspektiven, aber auch darum, was in den 80er Jahren geschah: die Straffreiheit für die Mörder, die von der Regierung verordnete Versöhnung und anderes. In jüngster Zeit geht es uns stärker darum, die aktuelle Situation der Menschenrechte in Argentinien in den Mittelpunkt der Arbeit zu stellen: Das Verhalten der Polizei, vor allem die zunehmenden Razzien, das Thema der politischen Gefangenen, die staatliche Repression, die Situation in Armenvierteln und anderes. Auch das hat etwas mit der Geschichte und ihrer gegenwärtigen Behandlung zu tun.
Wie arbeitet ihr politisch in der Öffentlichkeit?
Nun, im letzten Jahr haben wir sehr viele Gedenkfeiern für gefallene Compañeros der Militärdiktatur veranstaltet. Wir besuchen sehr viele Schulen und sprechen mit den SchülerInnen über die jüngste Geschichte. Eine Komission kümmert sich um Kinder von Verschwundenen, die nach der Geburt ihren Eltern weggenommen und häufig von Militärs angeeignet wurden. Wir machen eine Zeitung, Kampagnen gegen konkrete Leute unter dem Titel “Die Mörder laufen durch die Straßen” oder “Die Mörder sind Teil der Regierung”.
Wie ist das Verhältnis von H.I.J.O.S. zu den anderen Organisationen wie den Madres der Asociación und Línea Fundadora, den Familienmitgliedern (sog. Familiares) und den Großmüttern (Abuelas de Plaza de Mayo)?
Mit dem Wachsen von H.I.J.O.S. nehmen auch die Spannungen zu. Wir wollen mit allen zusammenarbeiten, und das ist angesichts der Heterogenität von uns selbst schon schwierig, da wir natürlich einzelne Präferenzen für die eine oder andere bestehende Organisation haben. Die Frage der Menschenrechtsarbeit ist in Argentinien ziemlich kompliziert, und wir wollen offen bleiben – und den Kampf um Menschenrechte auch nicht auf eine Art und Weise festlegen.
Mein Eindruck ist, daß es Hoffnungen gibt, H.I.J.O.S könnte den Madres als wichtige Menschenrechtsgruppe folgen?
Ja, das glaube ich auch. Aber da müssen wir noch viel lernen. Wenn wir bestimmte Traditionen aufnehmen, müssen wir gleichzeitig viele Fehler korrigieren. Es gab z.B. zu viel internen Streit und Spaltungen in der argentinischen Menschenrechtsbewegung.
Was gilt es heute für dich aus den sozialrevolutionären Kämpfen der 70er Jahre in Argentinien zu lernen?
Meine persönliche Meinung, nicht die von H.I.J.O.S. ist, daß wir von den bewaffneten Kämpfen in den 70er Jahren lernen müssen, vor allem aber von den breiten Volksmobilisierungen und -kämpfen. Seit Ende der 60er Jahre gab es diese breiten Mobilisierungen, die sogenannte Neue Linke, und es entstanden auch bewaffnete Gruppen. In dieser Zeit hatte die dominante Klasse wie nie zuvor in der argentinischen Geschichte Legitimitätprobleme und Schwierigkeiten ihre Projekte durchzusetzen. Diese Probleme sind auch der Grund für den Militärstreich. Bis heute wurde die politische und wirtschaftliche Macht nie mehr auf diese Art und Weise in Frage gestellt. Wir können also viel lernen, was Werte, Denkweisen und anderes betrifft. Aber wir müssen auch kritisch bleiben und fragen, was zu der damaligen Niederlage geführt hat. Dafür ist es wichtig, die Geschichte aufzuarbeiten – die des Landes und die der radikalen Linken.