Argentinien | Nummer 274 - April 1997

Die Kinder der Verschwundenen

Interview mit Mario Santucho von H.I.J.O.S.

Mario Santucho, geboren 1975 in Argentinien, ist Sohn zweier früherer Akti­vis­tIn­nen der Guerilla PRT-ERP (Partido Revolucionario de los Trabajadores-Ejército Revolu­cio­na­rio del Pueblo) und wurde im März 1976 ins Exil geschickt. Sein Vater, ei­ner der Köpfe des PRT, und seine Mutter wurden im Juli 1976 in Argentinien er­mor­det. Mario Santucho ist aktiv bei der Menschenrechtsorganisation H.I.J.O.S – Hi­jo por la Identidad, por la Justicia, contra el Olvido y el Silencio (Kinder für Iden­ti­tät und Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und das Schweigen).

Ulrich Brand

Warum habt ihr H.I.J.O.S. ge­gründet und ar­beitet nicht in ei­ner der bestehenden Men­schen­rechtsorganisationen mit?

Nach einer Reihe von Ge­denk­veranstaltungen für “Ver­schwun­dene” unter der Mili­tär­diktatur gab es Ostern 1995 von der Stadt La Plata aus die In­iti­ative zur Gründung von H.I.J.O.S. Derzeit gibt es un­gefähr 15 Regionalgruppen und da­rin sind über 1.000 Leute or­ganisiert, in Buenos Aires-Stadt kom­men zu den Treffen zwi­schen 70 und 100 Leu­ten. Einige von uns haben bei anderen Men­schen­rechts­gruppen mitgemacht.
Ich bin in Kuba aufgewachsen, nach­dem wir in den 70er Jahren flüch­ten mußten. 1993 kam ich zu­rück nach Argentinien und ar­bei­tete bei den Madres mit. Aber vie­le der Kinder von Ver­schwun­den­en machen nichts, und so ver­suchen wir, eine Art politischen Kri­stal­lisationspunkt zu schaf­fen. Bei H.I.J.O.S. arbeiten Kin­der von Ermordeten, Ver­schwun­denen, politischen Gefan­ge­nen und Exilierten während der letz­ten Militär­dik­tatur mit. [siehe LN 262] Die mei­sten sind so um die 20 Jahre und ha­ben wenig politische Er­fah­rung.

Wie geht das zusammen und welches sind eure Schwer­punkte?

Wir sind in der Tat sehr hete­ro­gen. Das ist ein Vorteil, denn da­mit haben wir ein breites Spek­trum an politischen Per­spek­tiven und Meinungen. Aber gleich­zeitig ist es auch ein Nach­teil, denn viele Themen können nicht vertieft werden. Zur Zeit sind wir in einer Phase, in der wir sehr intensiv ver­schiedene Din­ge diskutieren und ver­suchen, Min­destkonsense zu er­ar­beiten.
Im vergangenen Jahr ging es angesichts des 20. Jahr­es­tages des Militärputsches vor al­lem um die Geschichte und de­ren Interpretation, um die Auf­ar­beitung der Kämpfe in den 70er Jah­ren und die damaligen po­li­tischen Einschätzungen und Per­spektiven, aber auch darum, was in den 80er Jah­ren geschah: die Straf­freiheit für die Mörder, die von der Regierung verordnete Ver­söhnung und an­de­res. In jüng­ster Zeit geht es uns stärker da­rum, die aktuelle Situation der Men­schenrechte in Ar­gen­tinien in den Mittelpunkt der Arbeit zu stel­len: Das Verhalten der Po­lizei, vor allem die zuneh­men­den Razzien, das Thema der poli­ti­schen Ge­fan­genen, die staatliche Re­pression, die Situation in Ar­men­vierteln und anderes. Auch das hat etwas mit der Geschichte und ihrer gegenwärtigen Be­hand­lung zu tun.

Wie arbeitet ihr politisch in der Öffentlichkeit?

Nun, im letzten Jahr haben wir sehr viele Ge­denkfeiern für ge­fallene Compañeros der Mi­li­tär­diktatur veranstaltet. Wir be­su­chen sehr viele Schulen und spre­chen mit den SchülerInnen über die jüngste Geschichte. Ei­ne Komission kümmert sich um Kin­der von Verschwundenen, die nach der Ge­burt ihren Eltern weg­genommen und häufig von Mi­litärs angeeignet wurden. Wir ma­chen eine Zeitung, Kam­pag­nen gegen konkrete Leute unter dem Titel “Die Mörder laufen durch die Straßen” oder “Die Mör­der sind Teil der Regierung”.

Wie ist das Verhältnis von H.I.J.O.S. zu den anderen Or­ga­nisationen wie den Madres der Asociación und Línea Fun­dadora, den Fami­li­en­mit­glie­dern (sog. Familiares) und den Groß­müttern (Abuelas de Plaza de Mayo)?

Mit dem Wachsen von H.I.J.O.S. nehmen auch die Span­nungen zu. Wir wollen mit al­len zusam­menarbeiten, und das ist angesichts der Heteroge­nität von uns selbst schon schwierig, da wir natür­lich einzelne Prä­fe­renzen für die eine oder andere be­stehende Organisation haben. Die Frage der Men­schen­rechts­ar­beit ist in Argentinien ziemlich kom­pliziert, und wir wollen of­fen bleiben – und den Kampf um Men­schenrechte auch nicht auf ei­ne Art und Weise festlegen.

Mein Eindruck ist, daß es Hof­fnungen gibt, H.I.J.O.S kön­nte den Madres als wichtige Men­schenrechtsgruppe folgen?

Ja, das glaube ich auch. Aber da müssen wir noch viel lernen. Wenn wir bestimmte Traditionen auf­nehmen, müssen wir gleich­zeitig viele Fehler korrigieren. Es gab z.B. zu viel internen Streit und Spaltungen in der ar­gen­ti­ni­schen Menschenrechts­bewegung.

Was gilt es heute für dich aus den sozialrevolu­tionären Käm­pfen der 70er Jahre in Argen­tinien zu lernen?

Mei­ne persönliche Meinung, nicht die von H.I.J.O.S. ist, daß wir von den bewaffneten Käm­pfen in den 70er Jahren lernen müs­sen, vor allem aber von den brei­ten Volksmobilisierungen und -kämpfen. Seit Ende der 60er Jahre gab es diese breiten Mo­bi­lisierungen, die sogenannte Neue Linke, und es entstanden auch bewaffnete Grup­pen. In die­ser Zeit hatte die dominante Klas­se wie nie zuvor in der argen­tinischen Geschichte Legi­ti­mi­tätprobleme und Schwierig­kei­ten ihre Projekte durch­zu­setzen. Diese Probleme sind auch der Grund für den Mili­tärstreich. Bis heute wurde die po­litische und wirtschaftliche Macht nie mehr auf diese Art und Weise in Frage gestellt. Wir kön­nen also viel lernen, was Werte, Denkweisen und an­de­res be­trifft. Aber wir müssen auch kri­tisch blei­ben und fragen, was zu der damaligen Niederlage ge­führt hat. Dafür ist es wichtig, die Geschichte auf­zuarbeiten – die des Landes und die der ra­di­ka­len Linken.


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