Nummer 411/412 - Sept./Okt. 2008 | Venezuela

„Die Kolonisierung abschütteln“

Interview mit dem venezolanischen Soziologen Edgardo Lander

Edgardo Lander gilt als einer der profiliertesten Linksintellektuellen Venezuelas. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit ihm über Konsequenzen des Abberufungsreferendums in Bolivien und die im November stattfindenden Regionalwahlen in Venezuela.

Kasten:
Edgardo Lander hat in Harvard Soziologie studiert und arbeitet als Professor der Zentralen Universität in Caracas (UCV) zu Themen wie Eurozentrismus, demokratische Prozesse und soziale Bewegungen in Lateinamerika. Lander sieht sich als kritischer Unterstützer der linken Transformationsprozesse in Lateinamerika.

Olga Burkert, Tobias Lambert

Was ist in Ihren Augen das Besondere an den linken Tranformationsprozessen in Ecuador, Bolivien und Venezuela?

Ich glaube, dass es derzeit nirgendwo auf der Welt vergleichbare Prozesse gibt, in denen neue Möglichkeiten und Alternativen ausprobiert werden, die Zukunft zu gestalten. Und man muss sie kritisch und reflektierend begleiten. Das gilt insbesondere für die internationale Solidarität. Denn uneingeschränkte Solidarität spielt am Ende oftmals den autoritären Tendenzen in die Hände und verhindert Lernprozesse für zukünftige linke Projekte.

Nach dem Abberufungsreferendum am 10. August in Bolivien sehen sich sowohl die linke Regierung von Evo Morales als auch die rechten Präfekten im Tiefland gestärkt. Welche Bedeutung hat Bolivien für die anderen linken Projekte in der Region?

Bolivien ist in Lateinamerika das Land der heftigsten Konfrontation zwischen der Suche nach tief greifenden, dekolonisierenden Veränderungen einerseits und den rechten Kräften und Eliten, die von der US-Regierung unterstützt werden, auf der anderen Seite. Daher stand bei den Referenden am 10. August nicht nur der bolivianische Prozess auf dem Spiel, sondern zu einem großen Teil auch die Zukunft des Kontinents, besonders was Ecuador und Venezuela anbelangt. Die größte Gefahr, dass sich die Prozesse wieder umkehren, geht in diesen drei Ländern von Bolivien aus. Der dort begonnene Transformationsprozess ist viel profunder und radikaler als in Venezuela oder Ecuador. Denn in Bolivien findet wirklich ein Versuch statt, die Kolonisierung abzuschütteln, die seit 500 Jahren über verschiedene Mechanismen andauert.

Was für Auswirkungen hätte das Scheitern einer der Prozesse auf die Entwicklung in den anderen Ländern?

Sehr große. Denn die Prozesse in Ecuador und Bolivien wären ohne den bolivarianischen Prozess in Venezuela nicht möglich gewesen. Auch wenn sie natürlich ganz eigene Charakteristika aufweisen, eröffnete die politische Dynamik in Venezuela Möglichkeiten und Horizonte in Lateinamerika. Das heißt nicht, dass etwa der Prozess in Bolivien aus Venezuela importiert worden wäre. Aber es liegt auf der Hand, dass es Momente der Rückkopplung und des Austauschs zwischen den sozialen Bewegungen gegeben hat. Für alle Prozesse ist es von fundamentaler Notwendigkeit, dass sich die anderen jeweils weiter entwickeln.

Nach dem verlorenen Verfassungsreferendum in Venezuela im vergangenen Dezember haben Sie geschrieben, dass der bolivarianische Prozess an einem Scheideweg angelangt sei. Nötig sei eine offene, pluralistische und selbstkritische Debatte, die kurz nach dem Referendum auch begonnen habe. Wie hat sich diese Debatte seitdem entwickelt?

In den ersten Wochen unmittelbar nach Chávez‘ Niederlage beim Referendum wurde viel Luft abgelassen, die sich lange Zeit angestaut hatte. Direkt nach dem Referendum wurde auf einmal offen darüber diskutiert, welches politische Modell die Leute wollen, welche Aspekte der Politik gut funktioniert hatten und welche nicht. Es wurde auch viel über Chávez selbst und seinen Führungsstil diskutiert. Aber es war kein konfrontativer Ton, sondern eine Diskussion aus dem Inneren des Prozesses heraus. In den zehn Jahren seit Chávez‘ Amtsantritt war dies meiner Meinung nach der Moment der offensten und vielseitigsten Debatte. Diese Öffnung war extrem wichtig für den bolivarianischen Prozess.

Woran lag es, dass die Debatte vor dem Referendum nicht so offen geführt wurde?

2007 war ein Jahr, in dem sehr große Fehler begangen wurden, die schwerwiegende Konsequenzen nach sich zogen. Dadurch dass die Regierung ihr Hauptaugenmerk auf die Durchführung der Verfassungsreform legte, wurden andere wichtige politische Projekte wie die Bildung der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas PSUV vernachlässigt. Auch die Diskussion über die Reformvorschläge und das Gesellschaftsmodell, das in ihr präsentiert wurde, also die Diskussion über den Sozialismus des 21. Jahrhunderts, fielen dem Wahlkampf zum Opfer.

Was hätte beim Aufbau der PSUV anders gemacht werden sollen?

Der interne Aufbau der Partei hätte in einer Zeit ohne Wahlkampfatmosphäre, in einem offeneren und demokratischeren Raum stattfinden können. Da sich 2007 alles auf das Verfassungsreferendum konzentrierte, wurde der Gründungsprozess der PSUV in die erste Jahreshälfte 2008 verschoben. Dadurch fanden alle internen Diskussionen über den Aufbau der Partei bereits im Hinblick darauf statt, wer bei den Regionalwahlen im November als Kandidat oder Kandidatin antreten würde. Das hatte eine inhaltliche Verarmung der Debatte zur Folge.

Aber ist es nicht sehr demokratisch, dass die PSUV im Gegensatz zur Opposition ihre KandidatInnen für Gouverneurs- und Bürgermeisterposten trotz des Zeitdrucks in internen Vorwahlen bestimmen ließ?

Einerseits ja. Es ist das erste Mal in den zehn Jahren unter Chávez, dass die Wahl der Kandidaten nicht von oben, von der Parteiführung oder durch Chávez‘ Fingerzeig, vollzogen wurde. Und tatsächlich wurde in vielen Fällen von der Basis ein Kandidat gewählt, der ganz klar nicht der Wunschkandidat der Parteiführung war. Aber andererseits gab es auch Probleme. Der Mechanismus der Vorwahlen sah beispielsweise vor, dass, wenn kein Kandidat ein bestimmtes Quorum erreicht, die Parteiführung aus den drei bestplatzierten Kandidaten einen auswählt. Darüber hinaus nahm die PSUV, vor allem aus zeitlichen Gründen, keine Rücksicht auf ihre kleineren Verbündeten in der Wahlallianz. Parteien wie PPT (Vaterland für Alle) oder die Kommunistische Partei (PCV) wurden vor die Entscheidung gestellt, die Kandidaten der PSUV zu unterstützen oder es sein zu lassen.

Und liegt Chávez damit richtig, wenn er annimmt, die Unterstützung der kleineren Parteien sei für einen Wahlsieg nicht entscheidend?

Wahltechnisch vermutlich schon. Aber politisch betrachtet hat es durchaus Folgen. Parteien wie die PCV und die PPT, die beim Putschversuch gegen Chávez maßgeblich für ihn und seine Rückkehr an die Macht gekämpft haben, werden dadurch brüskiert. Diese Allianz nun aufrecht zu erhalten ist immens schwierig, solange der Prozess auf eine solch wichtige Person wie Chávez fokussiert ist, der nicht nur Staatschef, sondern auch Chef der PSUV ist, welche die weitaus größte Partei der Allianz darstellt.

Die Opposition in Venezuela rechnet sich bei den diesjährigen Regionalwahlen am 23. November gute Chancen aus. Mit Recht?

Insgesamt ist es ziemlich wahrscheinlich, dass die Opposition bei den Wahlen Fortschritte erzielen wird. Sie bildet sich seit Chávez‘ Niederlage beim Verfassungsreferendum neu und erkennt ihre Fehler an. Der moderate Teil der Opposition wurde gegenüber dem radikaleren, putschistischen Teil gestärkt. Das politisch-institutionelle Spektrum des Landes würde sich mit einigen Bürgermeister- und Gouverneursämtern mehr in den Händen der Opposition, zu Ungunsten der Regierung verändern. Das hätte nicht nur Auswirkungen auf die Wahlen zur Nationalversammlung 2010, sondern vor allem auf die Präsidentschaftswahlen 2012.

Da die Verfassungsreform gescheitert ist, wird Chávez 2012 nicht noch einmal antreten dürfen…
Ich glaube, das Thema der Wiederwahl von Chávez wird wieder auf die Agenda gebracht werden. Sollte es aber nicht gelingen, auf demokratische Art und Weise die in der Verfassung verankerte Wiederwahlbeschränkung des Präsidenten aufzuheben, muss der Chavismo das Problem der Nachfolge lösen. Das ist bisher nicht geschehen.

Warum nicht?

Chávez‘ Regierungsstil lässt keine alternativen Führungspersönlichkeiten zu. Der Chavismo ist sehr heterogen. Eine der prinzipiellen Formen, um das Ausbrechen von Konflikten zu vermeiden, ist es, eine Person zu haben, die Konfrontationen und Spaltungen verhindert. Und jeder in den unterschiedlichen Strömungen erkennt an, dass der Prozess ohne Chávez nicht fortbestehen würde. Daher gibt es eine Art der permanenten impliziten Verhandlungen, um unter Chávez ein gewisses Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Kräften zu erhalten. Ich glaube jedoch, für die demokratische Gesundheit des venezolanischen Prozesses ist das lange Verbleiben einer personalisierten Führung negativ.

Kann dieses Problem der starken Konzentration auf die Person Chávez denn innerhalb des Chavismo und des bolivarianischen Prozesses gelöst werden?

Aristóbulo Istúriz zum Beispiel hat bei den Vorwahlen der PSUV in Caracas 95 Prozent der Stimmen bekommen. Die Leute haben ihn wegen seiner guten Arbeit in puncto Demokratisierung während seiner Zeit als Bürgermeister von Caracas [1993 bis 1996; Anm. d. Red.] in Erinnerung behalten. So etwas stimmt mich optimistisch. Ich glaube, dass dies tatsächlich ein Ausdruck dafür ist, dass es eine alternative Führung gibt, die über breite Unterstützung verfügt und eine eigene politische Basis hat.
Was aber würde innerhalb des Chavismo passieren, wenn es darum geht, sich zum Beispiel zwischen Aristóbulo Istúriz und Diosdado Cabello [dem amtierenden Gouverneur von Miranda und Vertreter des rechten chavistischen Flügels; Anm. d. Red.] zu entscheiden und Chávez Cabello unterstützen würde? Wie würde sich die chavistische Basis verhalten? Ich weiß nicht, ob der Chavismo in der Lage sein wird, diesen Punkt vor 2012 zu lösen.

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