Entwicklungspolitik | Nummer 291/292 - Sept./Okt. 1998

Die Kosten der Einheit

Altschulden gegenüber der DDR belasten Nicaragua

Die “Bruderhilfe” der DDR kommt Nicaragua seit der Wende teuer zu stehen. Die ehemals in weichen Währungen verrechnete Entwicklungshilfe wurde nach der Währungsunion in harte Devisen umgerechnet. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung beliefen sich die Forderungen auf einen Wert von insgesamt 648,6 Millionen US-Dollar. Im Zuge des Einigungsvertrags wurden sie von der Bundesrepublik Deutschland übernommen und wie Handelsforderungen, also zu marktüblichen Konditionen, behandelt. Durch die Übernahme dieser Forderungen avancierte die Bundesrepublik zum größten Einzelgläubiger Nicaraguas im Pariser Club, eines Zusammenschlusses westlicher Gläubigerländer. Es stellt sich die Frage, wie die Bundesrepublik heute die Einstufung der „Bruderhilfe“ als „Handelsforderungen“ legitimiert, die zu ihrer Zeit im Zeichen der internationalen Solidarität für die wirtschaftlich-soziale Entwicklung eines Landes gedacht waren und jetzt die Verschuldungskrise verstärken.

Angela Bähr

Noch heute fahren in den entlegenen ländlichen Regionen Nicaraguas, auf Sand und Schlammstraßen, IFA-LKWs aus DDR-Produktion und befördern täglich Hunderte von Personen bei widrigsten Straßenverhältnissen. Diese Relikte vergangener Solidarität sind heute längst ins Eigentum von Fuhrunternehmen oder Beförderungskooperativen übergegangen und gelten technisch als unverwüstlich. Noch heute sind ehemalige Vorzeigeprojekte der DDR, wie das deutsch-nicaraguanische Krankenhaus in Managua (ehemaliges „Carlos Marx“-Krankenhaus) und eine Berufsschule mit dualem Ausbildungssystem stumme Zeugen dieser vergangenen Solidarität.
Die Kehrseite dieser praktischen Entwicklungshilfe heißt heute „Schuldentilgung“: Nicaragua zählt zu den höchstverschuldesten Ländern dieser Welt und verwendete zum Beispiel 1996 33,9 Prozent seines Haushalts zur Tilgung der diversen bilateralen und multilateralen Schulden, die sich im Laufe der unterschiedlichsten politischen Systeme in den vergangenen 40 Jahren angesammelt haben.

Nicaragua auf dem absteigenden Ast

Im Laufe der vergangenen Jahre hat es verschiedene – teils erfolgreiche – Initiativen gegeben, um eine Schuldenreduzierung von Seiten der Bundesregierung zu erreichen. Gründe für eine Schuldenreduzierung gibt es genug: seit Nicaragua 1994 einen IWF-Strukturanpassungsplan durchführt, haben sich die sozio-ökonomischen Daten und damit die Lebensbedingungen eines Großteils der Bevölkerung in den vergangenen Jahren stetig verschlechtert. Nach dem „Bericht für menschliche Entwicklung“ der Vereinten Nationen ist Nicaragua im Laufe der Jahre 1996 bis 1998 von Platz 127 auf Platz 137 von insgesamt 176 Ländern abgerutscht, und ist heute nach Haiti das ärmste Land Lateinamerikas und der Karibik. Die AnalphabetInnenrate ist erneut auf über 30 Prozent gestiegen, über 80 Prozent der nicaraguanischen Haushalte leben nach Kriterien der Vereinten Nationen in Armut und von 1.000 Kindern, die geboren werden, sterben 67 vor dem fünften Lebensjahr.
Wurden in den achtziger Jahren unter der sandinistischen Regierung noch 50 US-Dollar pro Person für das öffentliche Gesundheitswesen ausgegeben, waren es 1997 nur noch 16 US-Dollar. Hauptsächlich Frauen sind die Leidtragenden der mangelnden Gesundheitsversorgung, die durch die Kürzungen des Staates im Rahmen der Strukturanpassung hervorgerufen wurde: die registrierte Müttersterblichkeit liegt bei 211 Toten auf 100.000 Geburten, während die Dunkelziffer mindestens das Doppelte beträgt.
Die Unterzeichnung des ersten Strukturanpassungsprogramms 1994 ebnete Nicaragua aber auch den Weg zu weiteren Verhandlungen über Schuldenreduzierungen. Es folgten zahlreiche Kontroversen zwischen der Bundesregierung und der mittlerweile neoliberalen Regierung Nicaraguas, die rund 50 Prozent der aufgelaufenen Schulden als militärische Lieferungen an die SandinistInnen deklarieren wollte. Bonn argumentierte, daß es sich bei den DDR-Lieferungen zu keiner Zeit um Kriegswaffen, sondern um sogenannte „Dual use“-Güter (Mehrzweckgüter) gehandelt habe – wie jene noch heute genutzten IFA-Lastwagen. Im Juli 1994 kam es zu den ersten erfolgreichen Gesprächen zwischen der nicaraguanischen und der bundesdeutschen Seite, und im September desselben Jahres wurde eine Vereinbarung unterschrieben, welche Nicaraguas Zahlungen in bezug auf die Schulden aus der DDR-Ära faktisch um 78 Prozent reduzierte.
Die aktuellste Schuldenumwandlung im Falle Nicaraguas stammt vom 18. August 1998: Im Rahmen der im Pariser Club beschlossenen Umschuldung von 80 Prozent der akkumulierten Schulden (berechnet ab dem Moment, als Nicaragua zum ersten Mal im Pariser Club um einen Schuldenerlaß gebeten hat) wurden folgende Streichungen bzw. Umwandlungen in Aussicht gestellt: im Bereich der Handelsforderungen werden 111 Millionen DM von den fälligen Schuldendienstzahlungen in den Jahren 1998 bis 2000 erlassen und abhängig von den Regierungsverhandlungen können weitere 12 bis 21 Millionen DM umgeschuldet werden.

Starre Bundesregierung

Die Bundesregierung lehnt nach wie vor eine besondere Umwandlungsoption im Falle von Nicaragua ab und tut keinen Schritt mehr, als im Pariser Club beschlossen. Trotzdem gab es in den vergangenen Jahren kleine Lichtblicke am Horizont der Entschuldung, die auf weitreichendere Lösungen hoffen lassen. Im Rahmen der Ergebnisse der Rio-Konferenz, erleichterte die Bundesregierung die Umwandlung von Forderungen aus der bundesdeutschen Entwicklungshilfe. 30 Millionen DM würden Nicaragua erlassen, wenn die nicaraguanische Regierung in Landeswährung den Gegenwert von sechs Millionen DM in einen Fonds einzahlte, der für Projekte zum Umweltschutz oder zur Armutsbekämpfung verwendet würde. Im Fall von Nicaragua ist die Säuberung des Managua-Sees zur Trinkwasseraufbereitung für ein solches Umschuldungsprojekt ausgewählt worden, dessen Planung und Durchführung bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KFW) läge. Bis zum heutigen Zeitpunkt gibt es nach wie vor kein grünes Licht für dieses Vorhaben, da die nicaraguanische Alemán-Regierung nicht bereit ist, ihren eigenen, finanziellen Beitrag zu leisten.
Währenddessen läuft die Sanduhr für viele Menschen in Nicaragua ab: Fehlende Kleinkredite für kleine und mittlere Bauern und Bäuerinnen, ungeklärte Eigentumsfragen, Ernteverluste durch Dürreperioden und Korruption auf Seiten der Regierung tragen zu fortschreitender Verarmung und Mangelernährung bei. Ein Anstieg der Beschaffungskriminalität, mangelnde Strafverfolgung durch die marode Justiz und das Ansteigen von Gewalt gegen Frauen und Kinder prägen das Krisenszenario Nicaraguas. Das Bild der Armut ist weiblich dominiert: So erklärten 1996 mehr als 75 Prozent der Frauen bei einer Untersuchung in über 40 kleinen Gemeinden, daß sie ohne regelmäßige Erwerbsarbeit leben. Über 30 Prozent der Haushalte in Nicaragua werden von einer Frau als Haushaltsvorstand geführt. Diese Haushalte weisen eine noch größere Armut auf als die Familien, in denen ein Mann als Familienoberhaupt gilt. Kein Wunder, da Frauen vorwiegend im informellen Sektor tätig sind und dort durchschnittlich mehr als 30 Prozent weniger Geld als die Männer verdienen.

“Nicaragua braucht Entschuldung”

Schon seit Jahren gibt es eine von deutschen entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen (NROs) ins Leben gerufene Initiative „Nicaragua braucht Entschuldung“, die eine grundsätzliche Lösung der anhaltenden Verschuldungssituation Nicaraguas fordert und damit in erster Linie auch die Bundesregierung anspricht:
* Neueinstufung der Schulden aus der DDR-Ära, die es ermöglicht, diese Schulden wie bundesdeutsche Entwicklungshilfegelder zu behandeln – womit sie Subjekt von Schuldenerlassen und Schuldenumwandlungen werden könnten.
* Umwandlung der restlichen Schulden zu Gunsten eines Fonds, der ein alternatives Kleinkreditsystem für die arme Bevölkerung speisen soll. Es besteht bereits ein Netzwerk von zwölf nicaraguanischen Nichtregierungsorganisationen (FOCAD – Alternativer Kreditfonds für Entwicklung), die im Bereich von alternativen Kleinkreditfonds arbeiten und diesen Vorschlag aus der nicaraguanischen Zivilbevölkerung weiterverfolgen.
Darüber hinaus hat sich auf nicaraguanischer Seite eine politische Lobby-Fraktion aus anderen Nichtregierungsorganisationen gebildet (grupo prepositivo de cabildeo), die eher im Bereich der sozialen und gesellschaftlichen Entwicklung angesiedelt ist und sich vor allem um die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung kümmert. Damit bildet sie quasi das Gegengewicht zur nicaraguanischen Regierung, die zwar den Zugang zu Leistungen von IWF und Weltbank sucht, jedoch wenig Interesse an einer nachhaltigen Lösung zugunsten der Bevölkerung zu haben scheint.
Alternativen sind möglich, wenn der politische Wille besteht – das zeigt unter anderem das Beispiel der Vereinigten Staaten, die nach dem Wahlsieg des neoliberalen Wahlbündnisses UNO in Nicaragua schon im Jahre 1991 die gesamte Schuld aus der Entwicklungszusammenarbeit konditioniert erlassen haben. Die Bedingung: die nicaraguanische Regierung verpflichtete sich, die Zinsen auf die nun mehr fiktiven Schulden in heimischer Währung in einen sogenannten „America Fund“ einzuzahlen.
Der bundesdeutschen Regierung als größtem Einzelgläubiger Nicaraguas stünde es gut an, diesem Beispiel zu folgen. Währenddessen beharrt die bundesdeutsche Regierung auf der Unmöglichkeit einer vollständigen Schuldenumwandlung – und das zum Teil bei Forderungen, die ihr, wie die aus den Zeiten der DDR, nur vererbt worden sind.

Angela Bähr koordiniert für das INKOTA-netzwerk in den neuen Bundesländern die Kampagne „Erlaßjahr 2000. Entwicklung braucht Entschuldung“.

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