El Salvador | Nummer 228 - Juni 1993

“Die Leute können vergeben, aber niemals vergessen”

Interview mit Celia Medrano von der unabhängigen Menschenrechtskommission CDHES

Im März diesen Jahres wurde der Bericht der “Wahrheitskommission” zur Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkrieges in El Salvador veröffentlicht (vgl. LN 226). Über 20.000 Zeugenaussagen hatte die unabhängige Kommission unter Vorsitz des ehemaligen kolumbianischen Präsidenten Belisario Betancur in nur sechs Monaten bearbeitet. Anhand einiger ausgewählter besonders schwerer Verbrechen wurden die Namen eines großen Teils der wichtigsten Militärs veröffentlicht, die unverzüglich entlassen werden sollten. Die rechte Parlamentsmehrheit unter Führung der ARENA-Partei peitschte innerhalb weniger Tage ein Amnestiegesetz durch, mit der eine spätere gerichtliche Verfolgung ausgeschlossen werden soll. Die unabhängige Menschenrechtskommission CDHES hatte aber zusammen mit dem Gewerkschaftsdachverband UNTS bereits Ende 1992 die Namen dieser und anderer Militärs als “Steckbrief” in einer Anzeigenserie und auf Flugblättern veröffentlicht, weshalb jetzt eine Klage gegen sie wegen “Verleumdung” läuft. Den Opfern der Repression droht, erneut verfolgt zu werden. Unter ihnen ist auch Celia Medrano, die im Vorstand der CDHES arbeitet. Das folgende Interview mit ihr führte Anette Berger am 23. April 1993 in San Salvador.

Übersetzung: Michael Krämer

LN: Welche Bedeutung hat der Bericht der Wahrheitskommission für das Land und für die Arbeit der CDHES?
Celia Medrano: Für uns bedeutet der Kommissionsbericht die Bestätigung von fünfzehn Jahren Arbeit. Seit unserer Gründung 1978 haben wir auf nationaler und internationaler Ebene die Menschenrechtsverletzungen in El Salvador angeklagt, weshalb wir immer wieder selbst Opfer der staatlichen Repression wurden. Zu Beginn wurde unseren Berichten – vor allem im Ausland – nicht viel Glauben geschenkt. Wenn wir berichteten, daß zwei bis drei Monate alte Babies massakriert und Frauen von einer ganzen Gruppe von Soldaten vergewaltigt wurden, bevor die Soldaten sie auf bestialische Weise ermordeten, dann trafen wir auf Ungläubigkeit. Viele dachten, so etwas könne gar nicht stimmen. Nach und nach wurden unsere Berichte auch von anderen Organisationen bestätigt, und der Öffentlichkeit wurde bewußt, wie schlimm es um die Menschenrechte in El Salvador wirklich steht. Nachdem zunehmend Ausländer zu Opfern der Repressionen wurden, stellten auch Regierungen anderer Länder Untersuchungen an. Dabei erfuhren sie, daß die Regierung El Salvadors die Aufklärung der Fälle behinderte und log, um die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen nicht übernehmen zu müssen.
Als die Repression während der Regierungszeit von Napoleon Duarte quantitativ zurückging, wurde uns zuerst wieder nicht geglaubt, wenn wir die Brutalität des Krieges anklagten. Mit Duarte kam das Projekt der Aufstandsbekämpfung, und vor allem im Ausland hieß es, daß mit dem christdemokratischen Präsidenten alles besser werden würde. Und auch nach Duarte hat sich die Situation nicht verändert. Die Menschenrechtsverletzungen gingen immer weiter, auch wenn die Propaganda das Gegenteil behauptete. In diesem Sinne wurden wir durch den Friedensprozeß und den Bericht der Wahrheitskommission tatsächlich in unserer Arbeit bestätigt.

Euch wurde immer wieder vorgeworfen, einseitig zu sein und euch nicht um die FMLN zu kümmern. Was meinst du dazu?
Jetzt liegt das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen für alle schriftlich vor, bestätigt von einer unabhängigen Kommission, die im Rahmen des Friedensprozesses von den Vereinten Nationen ausgewählt wurde. Uns wurde früher oft vorgeworfen, wir seien einseitig und würden die Menschenrechtsverletzungen der FMLN nicht im gleichen Ausmaß wie die der Regierung anklagen. Der Kommissionsbericht macht aber deutlich, daß die FMLN nur für einen kleinen Teil der Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Die Wahrheitskommission erhielt 22.000 Aussagen und schreibt dem Militär und den Todesschwadronen davon in 87 Prozent der Menschenrechtsverletzungen die Verantwortung zu, der FMLN jedoch nur in fünf Prozent der Fälle. Für uns bedeutet dies, daß der Vorwurf der Einseitigkeit jetzt auch offiziell widerlegt ist. Die Wahrheitskommission ist weitgehend zu den gleichen Ergebnissen gekommen wie wir in den letzten Jahren. Das ist für uns natürlich eine Erleichterung. Das Militär hat gleich nach der Veröffentlichung des Kommissionsberichts ein Dokument mit dem Titel “Der Kommunismus ist nicht tot” vorgelegt, in dem sie den Vereinten Nationen vorwerfen, der Kommissionsbericht sei eine Verschwörung gegen die salvadorianischen Streitkräfte. Die Beschuldigungen sind dieselben, wie wir sie fünfzehn Jahre lang immer wieder hören mußten.

Wo siehst du die Schwächen des Berichts der Wahrheitskommission?
Der Bericht hat einige Lücken. Er geht kaum auf die Rolle der USA ein, die den Genozid in El Salvador finanziert haben. Er untersucht auch nicht die Rolle der Christdemokraten, als diese die Regierung stellten. Im Fall der FMLN wurden nur einige der Morde an Bürgermeistern untersucht, und die Schuldzuweisung geht lediglich an die Führungsspitze des ERP [eine der fünf Mitgliedsorganisationen der FMLN], ohne auf die Verantwortung der anderen FMLN-Organisationen einzugehen. Bei den Todesschwadronen wissen wir, daß die Kommission eine Liste der Namen von Unternehmern hat, die die Todesschwadronen finanziert haben, aber diese Namen werden nicht genannt. Der Bericht hat also ganz klare Mängel; er verschweigt einige sehr wichtige Aspekte. Aber wir wollen ihn nicht diskreditieren, er enthält keine Lügen. Alle Fälle im Bericht sind klar belegt, und es werden keine unüberlegten Einschätzungen oder Verurteilungen vorgenommen.

Glaubst du, daß der Kommissionsbericht den Friedens- und Demokratisierungsprozeß unterstützen kann?
Auf jeden Fall. Trotz seiner Lücken ist der Kommissionsbericht ein wichtiges Dokument zur Beurteilung dessen, was in den letzten Jahren in El Salvador geschehen ist. Es ist von enormer Bedeutung, daß der Bericht nicht nur Ereignisse untersucht, sondern auch die Namen der Verantwortlichen nennt. Es war ein offenes Geheimnis, daß d’ Aubuisson die Ermordung von Erzbischof Romero befahl und General Ponce und andere für die Ermordung der Jesuiten verantwortlich sind. Aber heute sind diese Fakten in einem anerkannten Bericht der Vereinten Nationen nachzulesen, das hat eine ganz andere Qualität.
Der Bericht hat auch bewiesen, daß die Menschenrechtsverletzungen in El Salvador System hatten. Auch wenn nur 30 Fälle detailliert im Bericht aufgelistet sind, werden die unzähligen anderen Fälle doch nicht vergessen. In einem Anhang von 300 Seiten sind die Namen von ungefähr 22.000 Menschen aufgeführt, die in El Salvador ermordet wurden oder die spurlos verschwunden sind.

Im Bericht wurde auch die Reform des Justizsystems und die Absetzung aller Mitglieder des Obersten Gerichtshofes gefordert. Welche Reaktionen gab es darauf?
Der ARENA-Vorsitzende Calderon Sol hat eine Reform genauso abgelehnt wie Verteidigungsminister Ponce. Am schlimmsten war aber die Reaktion des Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, der ja selbst im Kommissionsbericht genannt wird. Er sagte, daß er gar nicht daran denke, zurückzutreten und daß nur Gott ihn da wegbringe. Aber auch Cristiani will eine Reform des Justizsystems vermeiden. Das jetzige Justizsystem ist ja die legale Grundlage für das System der Straffreiheit der Militärs und anderer Verantwortlicher von Menschenrechtsverletzungen.

Nach der Veröffentlichung des Berichts hat das Parlament eine Amnestie beschlossen…
Diese Amnestie ist nicht rechtens. Das Amnestiegesetz ist die klarste Antwort der Rechten auf den Kommissionsbericht. Es darf doch für einen Gerichtshof keine Amnestie geben. Am gleichen Tag als das Amnestiegesetz in Kraft trat, wurden Oberst Benavides und Leutnant Mendoza [die wegen der Ermordung der Jesuiten zu dreißig Jahren Haft verurteilt wurden; die Red.] freigelassen. Bezeichnend ist, daß die beiden Guerilleros, die wegen des Mordes an zwei US-Militärberatern im Gefängnis sind, noch immer nicht freigelassen wurden. Die Amnestie soll jegliche gerichtliche Untersuchung der im Kommissionsbericht genannten Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen verhindern. Wir haben beim Obersten Gerichtshof bereits Einspruch gegen das Gesetz erhoben. Aber bei diesem Gerichtshof glauben wir natürlich nicht daran, daß sie unserer Klage stattgeben.

Nach der Veröffentlichung des Berichts ist der Diskurs der Streitkräfte wieder härter geworden, so wie in früheren Zeiten. Es scheint, daß sich beim Militär nicht viel verändert hat. Wie kann heute verhindert werden, daß sich die Geschehnisse aus der Zeit des Krieges demnächst wiederholen?
Vor allem müssen natürlich die Empfehlungen der Vereinten Nationen erfüllt werden. Zusätzlich sind Aktionen der sozialen Bewegungen nötig, um Druck auszuüben, damit die Friedensvereinbarungen alle erfüllt werden. Entscheidend sind hier einerseits die Reformen im Militär, andererseits das, was im ökonomischen Bereich passiert. Es gibt zur Zeit harte Auseinandersetzungen zwischen den ArbeiterInnen und den UnternehmerInnen im “Wirtschaftlich-Sozialen-Forum” [im Rahmen des Friedensvertrages gebildetes Forum, in dem Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Regierung sitzen. Eigentlich sollen hier Kompromisse zwischen Kapital und Arbeit gefunden werden, die Unternehmerverbände haben das Forum jedoch lange Zeit boykotiert; bislang wurden kaum konkrete Ergebnisse erzielt; die Red.]. Die UnternehmerInnen weigern sich, die arbeitsrechtlichen Übereinkommen der “Internationalen Arbeitsorganisation” (ILO) anzuerkennen, die die Rechte der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder und die Rechte der ArbeiterInnen festlegen. Die Anerkennung dieser Rechte hätte natürlich negative Folgen für die UnternehmerInnen, weshalb sie zur Zeit die Arbeit des Forums wieder blockieren.

Eines der Ziele des Kommissionsberichtes ist es, in El Salvador Gerechtigkeit herzustellen. Auf der Grundlage der Gerechtigkeit sollen die Menschen lernen, einander zu verzeihen. Glaubst du, daß dies nach allem, was passiert ist, möglich sein wird?
Die Menschen können vergeben, aber sie werden niemals vergessen, was passiert ist, was das Leben so vieler Familien geprägt hat. Wie soll ein Mensch die Schreie seiner Kinder vergessen, die er aus einem Versteck heraus hörte, während die Soldaten sie gerade umbrachten. Wie sollen wir eine Mutter bitten zu vergessen, die nach einer Bombardierung in ihre Hütte zurückkehrte und dort die zerfetzte Leiche ihres Kindes fand. Wie sollen wir von der Tochter eines Bürgermeisters, der von der Guerilla ermordet wurde, verlangen, das zu vergessen. Wie sollen wir von all diesen Menschen erwarten, daß sie vergessen, was geschehen ist. Das Verzeihen ist möglich und auch notwendig, aber es ist unmöglich zu vergessen. Aber wie sollen die Menschen heute noch vergeben, nachdem der Staat mit dem Amnestiegesetz bereits alle Verbrechen vergeben hat. General Ponce zum Beispiel sieht sich nicht dazu verpflichtet, um Verzeihung zu bitten, obwohl doch klar bewiesen wurde, das er für die Ermordung der Jesuiten verantwortlich ist. Was wirklich notwendig ist, daß der Staat, die Regierung jetzt die Bevölkerung um Vergebung bittet.

Dann müßte aber die FMLN genauso um Vergebung bitten!
Die FMLN hat das bereits getan. Die gesamte (ehemalige) Generalkommandantur hat sich dazu verpflichtet, zehn Jahre lang keine öffentlichen Ämter auszuüben. Der Kommissionsbericht hat das nur von Joaquin Villalobos verlangt, aber auch Shafik Handal, Leonel Gonzalez, Roberto Roca und Ferman Cienfuegos haben sich dazu verpflichtet. Sie wollen die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen kollektiv übernehmen. Und Jorge Melendez hat bei einer öffentlichen Veranstaltung der FMLN, die Anwesenden im Namen der Frente um Verzeihung gebeten und erklärt, daß er sogar bereit wäre, mit Ponce in einer Gefängniszelle zu sitzen.
Ich glaube wirklich, daß die FMLN in Bezug auf den Kommissionsbericht eine klare Haltung eingenommen hat und daß sie im Gegensatz zum Militär wirklich an das Wohlergehen des Landes denkt und weniger an irgendwelche Vorteile für sich als politische Kraft.

Wie wird sich die Lage der Menschenrechte weiterentwickeln?
Die Repression hat in den letzten Monaten wieder zugenommen. Wahrscheinlich wird die ganze Zeit des Wahlkampfes in einem Klima der Gewalt stattfinden. Und das, obwohl die Vereinten Nationen (ONUSAL) im ganzen Land präsent sind. Wir haben vor allem Angst, daß sich die Situation weiter verschlechtert, wenn die BeobachterInnen der ONUSAL das Land verlassen haben werden. Es wäre natürlich auch ganz wichtig, daß die Straffreiheit der Militärs endlich ein Ende hat und ein effizientes Justizsystem entsteht. Wenn du dein Haus sauber machen willst, muß der Müll raus und darf nicht unter dem Teppich verschwinden. Sonst kommt er wieder zum Vorschein, wenn du den Teppich hebst.

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