Nummer 247 - Januar 1995 | Uruguay

Die Linke im Aufwind

Die Wahlen haben das Zweiparteiensystem geknackt

Auch zwei Wochen nach den uruguayischen Präsidentschaftswahlen vom 27. November gibt es noch immer kein offizielles Endergebnis. Das wird wohl noch bis Januar auf sich warten lassen, denn über 66 000 Stimmen -zumeist von WahlhelferInnen, die nicht in ihrem Wohnbezirk abstimmen konnten- und die Ergebnisse einiger Wahllokale müssen erst noch vom Wahlgerichtshof überprüft werden. Unruhe kam auf, als das Innenministerium am Tag nach der Wahl fast 30 Stunden lang keine klaren Auskünfte über etwa 120 Wahlbezirke geben konnte, weil der Computer dort gewisse Unregelmä゚igkeiten festgestellt hatte. Viele dieser Wahlbezirke waren in Montevideo und dort aus Stadtteilen mit einem traditionell hohen Stimmenanteil für die Linke. Zu diesem Zeitpunkt fehlte dem Mitte-Links Bündnis Encuentro Progresista weniger als ein Prozentpunkt, um die Nationale Partei, die Blancos, vom zweiten Platz zu verdrängen.

Curd Udo Juergens

Obwohl es Kritik an der merkwürdigen Informationspolitik des Innenministeriums gab, geht kaum jemand davon aus, daß es bei den Wahlen in Uruguay zu irgendwelchen Manipulationen oder Wahlfälschungen gekommen sein könnte. Zweifel haben bislang lediglich die MLN Tupamaros angemeldet. Sie fordern eine genaue Überwachung und eine vollständige Transparenz bei der erneuten Überprüfung der Stimmzettel durch den Wahlgerichtshof. Sicher aber ist: Der Colorado Politiker Dr. Julio Maria Sanguinetti wird neuer Präsident Uruguays. Am 1. März 1995 wird er seine Amtsgeschäfte aufnehmen. Es ist seine zweite Amtsperiode, denn Sanguinetti war bereits von 1985 bis 1989 Präsident, direkt nach dem Ende der Militärdiktatur in Uruguay.
Die eigentliche Gewinnerin der Wahl ist jedoch die Linke. Zehn Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur ist es ihr bei diesen Wahlen endgültig gelungen das traditionelle Zweiparteiensystem in Uruguay zu knacken. Als einzige politische Kraft konnte sie landesweit kräftige Stimmengewinne verbuchen. In Montevideo, dort lebt fast die Hälfte der etwa 3,2 Millionen UruguayerInnnen, wird sie mit dem Architekt und Stadtplaner Mario Arana erneut den Bürgermeister stellen. Arana kann zwar auf eine beruhigende Mehrheit im Stadtparlament bauen, verfügt aber nur über einen äußerst mageren Haushalt.
Machtverschiebungen in der Frente Amplio
Vor allem im traditionell eher konservativen Landesinneren hat das Wahlbündnis Encuentro Progresista, bestehend aus Frente Amplio, Christdemokraten und einigen Dissidenten der bislang regierenden Blancos, beachtlich dazugewonnen. Der Stimmenanteil verdoppelte sich im Vergleich zu den Wahlen von 1989. Die stärkste und die bestimmende Kraft im Encuentro ist die Frente Amplio – ein Listenbündnis verschiedenster Strömungen in der Linken Uruguays.
Innerhalb der Frente Amplio hat die Gruppe Asamblea Uruguay/Lista 2121 um den Ökonomen Danilo Astori einen sensationellen Erfolg verbuchen können. 40 Prozent der WählerInnen des Encuentros entschieden sich für die Liste von Astori, der damit zum neuen starken Mann innerhalb der Frente Amplio geworden ist. Auf den Plätzen folgen die Sozialistische Partei, das eher sozialdemokratische Vertiente Artiguista, die Rest-KP Uruguays und das Movimiento de Partizipación Popular (MPP) mit den MLN-Tupamaros.
Die Tupas werden zum ersten Mal in der Geschichte Uruguays mit eigenen Abgeordneten im Parlament vertreten sein. Bisher hatten sie immer unabhängige Kandidaten innerhalb des MPP unterstützt. Pepe Mujica, Gründungsmitglied der Tupamaros und während der Diktatur viele Jahre unter den schlimmsten Bedingungen als Geisel der Militärs eingekerkert, zieht für die MLN ins Abgeordnetenhaus ein. Jorge Zabalza, der ebenfalls als Geisel während der Diktatur im Gefängnis saß, sitzt als erster Tupamaro im Stadtparlament von Montevideo.
ZTFrente zwischen Machtanspruch und Basistreue
Innerhalb der Frente Amplio haben jetzt eindeutig die Moderaten um Danilo Astori die Nase vorn. Sein Flügel stellt alleine 6 Senatoren und 15 Abgeordnete im neuen Parlament. Das MPP mit den MLN-Tupamaros hat nur leicht dazugewonnen. Schwer verloren haben dagegen die orthodoxen Reste der Kommunistischen Partei.
Die interne Stimmenverteilung hat auch Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Vollversammlung der Frente Amplio und auf die Debatten über den zukünftige Kurs der Uruguayischen Linken. Die Hälfte der Sitze wird nach errungenen Prozentpunkten bei den Wahlen vergeben, die zweite Hälfte wird von den Frente Basiskomitees gewählt. Der interne Streit scheint vorprogramiert. Schon einen Tag nach der Wahl kam die erste Kostprobe, als Astori im Fernsehen verkündete, daß er sich durchaus eine Zusammenarbeit mit der Regierung Sanguinetti, zum Beispiel in den Bereichen Wirtschafts- und Bildungspolitik vorstellen könne. Viele BasisaktivistInnen der Frente sehen das etwas anders und wünschen sich eher eine starke Opposition. Nach dem ersten Frust über den heiß erträumten und knapp verfehlten Wahlsieg konnten sie dem Ergebnis aber auch durchaus positive Seiten abgewinnen: “Eine linke Regierung unter einem Präsidenten Tabare Vazquez hätte es sehr schwer gehabt gegen eine Mehrheit der traditionellen Parteien im Parlament zu regieren… “, kommentierten sie das Wahlergebnis und fügten hinzu, “es ist großartig, dass die Frente so viele Stimmen gewonnen hat, aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht alle 5 Jahre nur auf Wahlergebnisse schielen und darüber vergessen, was wir eigentlich sein wollen: eine politische und soziale Basisbewegung.”
Innerhalb des Wahlbündnisses Encuentro Progresista hat bereits der Streit darüber begonnen, wer in Zukunft die erste Geige spielt. Ob Danilo Astori als großer Wahlgewinner oder der knapp geschlagene Präsidentschaftskandidat und ehemalige Bürgermeister von Montevideo Tabare Vazquez – mit Sicherheit kommt er aus der Frente Amplio. Vazquez wollte sich im Falle einer Wahlniederlage eigentlich vornehmlich seinem Beruf als Arzt widmen. Für einen Sitz im Parlament hatte er gar nicht erst kandidiert.
Vorläufiger Punktsieger im Richtungsstreit ist Vazquez, denn das Leitungsgremium der Frente Amplio (Organo de Conducción Politica) hat am 7. Dezember entschieden, ihn als Verhandlungsführer der Frente Amplio und als Repräsentanten des Encuentros für die Gespräche mit der neuen Regierung zu benennen. Etwas beleidigt reagierten darum auch die Vertreter der Asamblea Uruguay auf diese Personalentscheidung. Sie teilten mit, sie würden die Beschlüsse zwar mittragen, gleichzeitig kritisierten sie aber, daß Vazquez erheblichen Druck ausgeübt habe und seine weitere Mitarbeit vom Fortbestand des Encuentro Progresista abhängig gemacht habe. Für die anstehende Wahl eines neuen Präsidenten der Frente käme Tabare Vazquez ohnehin nicht in Frage. Ihr Kandidat der Wahl sei Danilo Astori.
ZTFlügel in der Frente geschwächt
Der linke Flügel innerhalb der Frente Amplio setzt jetzt vor allem auf die Delegierten der Basiskomitees in der neuen Vollversammlung. Der MPP Senator Helios Sarthou erklärte in einem Interview, der linke Flügel innerhalb der Frente werde es in Zunkunft schwer haben. Er kritisierte gleichzeitig den zukünftigen Präsidenten Sanguinetti, der sich gerne einige moderate PolitikerInnen vom Encuentro als Gesprächsspartner über die Bedingungen für eine punktuelle Zusammenarbeit mit der Regierung ausgesucht hätte . Sarthou wies solch patriarchale Anbiederungen zurück: “Die Verhandlungspartner aus der Linken bestimmen die Linken selbst”.
ZTDie Blancos im Tal der Tränen
Der ganz große Verlierer der Wahl sind die Blancos des noch amtierenden Präsidenten Dr. Luis Alberto Lacalle. Erdrutschartig verloren sie fast 10 Prozent ihrer Stimmen. In fünf Landkreisen müssen den Regierungssessel an einen Colorado Politiker abtreten.
Innerhalb der Blancos hat nun ein Richtungsstreit begonnen, der sich zu einer Frage zuspitzt: Wer wird in Zukunft an der Spitze der Partei stehen. Die Strömung, die dem Noch-Präsidenten Lacalle nahesteht, hat bei den Wahlen weniger Stimmen errungen als die, an deren Spitze dessen Widersacher Volonte steht. Volonte könnte nun mit seiner gestärkten Hausmacht die Führungsposition übernehmen
ZTWahlsieger Sanguinetti auf der Suche nach Koalitionen
Wahlsieger Sanguinetti steckt bereits in Beratungen, um sich eine tragfähige Mehrheit im Parlament aufzubauen. Er will sowohl mit den Blancos als auch mit dem Encuentro Progresista verhandeln. Denn seine Partei, die Colorados, verfügt im neu gewählten Parlament nicht einnal über eine relative Mehrheit und ist daher auf Bündnispartner und Absprachen angewiesen. Sanguinetti liess aber keinen Zweifel aufkommen, daß für ihn lediglich der moderate Flügel des Encuentro Progresista ein Gesprächspartner sein wird. Die Abgrenzungen haben bereits begonnen: Colorado Politiker beschuldigten den linken Flügel der Frente Amplio, für einige Glasschäden an Parteilokalen und Handgreiflichkeiten gegen Colorado Anhänger in der Wahlnacht verantwortlich zu sein. Man darf gespannt sein, welche Positionen die Frente Amplio in den Gesprächen mit Sanguinetti und seiner Regierungsmannschaft einnimmt.
Sanguinetti hofft auf einen reibungslosen Wechsel. Im Mittelpunkt seines Regierungsprogramms stehen die Förderung der nationalen Wirtschaft, die Bekämpfung der Inflation und die sozial leicht abgefederte Integration Uruguays in den gemeinsamen südamerikanischen Markt MERCOSUR. Für drohende Konflikte zwischen ArbeitnehmerInnen und -arbeitgeberInnen schwebt ihm Sozialpakt vor. Sanguinetti verfügt über beste Beziehungen zum Internationalen Währungsfond und hat bereits in seiner ersten Amtszeit (1985-89) ein Strukturanpassungsprogramm mit der Weltbank unterzeichnet. Er rühmt sich, in seiner letzten Amtszeit keinen einzigen Arbeitskonflikt verloren zu haben. Auf die uruguayischen Gewerkschaften kommen schwere Zeiten zu.

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