Kolumbien | Nummer 197 - November 1990

“Die M-19 war schon immer eine ketzerische Organisation”

Interview mit Vera Grave

Interview: Juan Suárez

“Ein ausgefülltes politisches Leben zusammenzufassen ist keine leichte Aufgabe, denn wenn das Leben von Erfahrungen und Lehren geprägt ist, läßt es sich nicht mehr zusammenfassen.” Mit diesen Worten begann das Gespräch mit Vera Grave Löwenherz, Führungsmitglied der M-19, die vor einigen Monaten den Waffen­stillstand mit der liberalen Regierung Kolumbiens unterschrieben hat und deren Mitglieder heute in der Legalität leben. Nach einer kurzen und und schwierigen Wahlkampagne, in der ihr Präsidentschaftskandidat Carlos Pizarro León-Gómez ermordet wurde, ist die M-19 nun durch die Wahlen Ende Mai dieses Jahres dritte politische Kraft des Landes geworden. Die deutschstämmige ehemalige Guerillakommandantin Vera Grave, in den 70er Jahren Mitbegründerin der Organisation, ist heute Abgeordnete im Repräsentantenhaus.

Vera Grave: Für mich gibt es zwar Brüche und Sprünge im Leben, aber Leben und politische Integration sind eine gemeinsame Entwicklung. So wie der Tag zur Nacht wird, geht man vom Zuhause in die Berge und so verwandelt sich, was du bist und was du glaubst in Projekte, Taten und Verpflichtungen. Ich bin im universitären Umfeld mit der M-19 in Verbindung gekommen, dort, wo die M-19 zu dieser Zeit im kulturellen, kreativen und geistigen Bereich aktiv war. Meine Eltern sind Deutsche. Sie kamen müde von der Verfolgung durch die Nazis nach Kolumbien und suchten neue Horizonte. Wir sind zwei Schwestern und wuchsen hier in Kolumbien in einer deutschen Umgebung auf. Wir besuch­ten die deutsche Schule. Später, während meines Ethnologiestudiums, begann ich meine politische Arbeit im Untergrund mit der Organisation.

Juan Suárez: Die M-19 verfolgte auch als Guerilla eine eigenständige Dialogpoli­tik. Wie bewerten Sie ihre Friedenspolitik im internationalen Kontext heute?

Vera Grave: Seit ihrer Gründung war die M-19 eine ketzerische Organisation und war immer schon “perestroikisch”, indem die Vorgehensweise stets verändert wurde und neue Wege gesucht wurden. Zu einem Zeitpunkt, als der bewaffnete Kampf der Linken in Kolumbien sich in einer Krise befand, entwickelten wir eine neue Form des Kampfes: Während alle anderen Untergrundkämpfer in die Berge gingen, kämpften wir in den Städten. Als wir die Friedensverhandlungen began­nen, war der Krieg noch in vollem Gange. Unsere Friedensvorschläge existieren schon seit mehr als 10 Jahren. Wir haben immer versucht verschiedene Leitbilder zu entwickeln, uns mit einer eigenen Sprache auszudrücken, um von ausländi­schen und traditionellen Modellen freizukommen. In einem Land, in dem sich alle bewaffnen, schlug unsere Organisation die Abrüstung vor, mit all den Fol­gen, die das für die Mitglieder unserer eigenen Organisation hatte. Dieser dia­lektische Moment fiel zusammen mit den Veränderungen der Welt, das bedeutet, mit der Perspektive auf Freiheit und Frieden, dem Zusammenbruch alter Struk­turen und alter Blöcke hin zur Neuordnung der Welt.

J.S.: Was würde die M-19 tun, wenn sie jetzt an die Macht käme, wenn wir davon ausgehen, daß der Krieg auf die Interessen des Kapitals zurückgeht?

Vera Grave: Unsere Wahlkampagne drehte sich um Frieden und Versöhnung, um eine Gesellschaft von Besitzenden. Wir schlagen weder die Enteignung des Besitzes, noch die Aufhebung des Kapitals vor. Wir wollen aus Kolumbien ein Land machen, in dem alle etwas besitzen. In Kolumbien wollen die Menschen Arbeit und Besitz. Doch muß das Privateigentum demokratisiert werden und in die Weltwirtschaft, vor allem in die lateinamerikanische Wirtschaft, integriert werden. Ein fähiger, wirksamer und demokratischer Staat muß entstehen. Es müssen vernünftige Friedensdialoge mit den bewaffneten Gruppen des Landes geführt werden. Es ist richtig, daß der Krieg ein Krieg des Kapitals ist, aber die Pole haben sich verändert. Das Ost-West-Schema paßt nicht mehr. Es ist eine vielpolige Welt entstanden mit verschiedenen Blöcken: dem europäischen, dem asiatischen, dem arabischen, dem kanadisch-nordamerikanischen und, sehr optimistisch gesehen, dem lateinamerikanischen, dem wir alle noch sehr auf die Beine helfen müssen. Vielleicht erlaubt uns diese neue Wirtschaftsordnung die Beziehungen unter den Ländern auszudehnen. Gleichzeitig müssen neue Inve­stitions- und Entwicklungspolitiken erarbeitet werden.

J.S.: Was bedeutet für die M-19 die Besetzung politischer Posten wie der des Gesundheitsministers mit dem Führer der M-19, Antonio Navarro Wolf, oder Ihr Amt als Abgeordnete?

Vera Grave: Wir meinen, daß revolutionäre Prozesse auf verschiedenen Ebenen möglich sind, sowohl von außen, als auch von innen. Wir wollen von der Bühne aus zeigen, daß eine ehrliche und saubere Politik, die die wirklichen Interessen des Volkes vertritt, machbar ist. Das Volk hat uns gewählt, um diese Aufgaben zu erfüllen und hat damit unsere 15-jährige ehrliche und unseren Idealen treu­gebliebene Arbeit belohnt.

J.S.: Wie würde die M-19 mit dem Problem des Drogenhandels umgehen?

Vera Grave: Kolumbien ist zum schwarzen Schaf der Welt geworden. Es wird gesagt, daß die Quelle des Übels und die Schuld bei Kolumbien liegt, obwohl wir alle wissen, daß das Problem weder moralisch noch kolumbianisch ist. Das Pro­blem ist ein wirtschaftliches, bei dem sehr viele Länder nicht nur die Droge kon­sumieren, sondern daraus vor allem wirtschaftliche Vorteile ziehen. Wirtschaftli­che Probleme können aber weder mit Polizeigewalt, noch mit Unterdrückungs­methoden gelöst werden. Wir schlagen deshalb einen Dialog mit den Drogen­händlern vor. Sie sollen ihre Waffen niederlegen, wie sie bereits selbst vorge­schlagen haben. Die Gelder, die sie ins Ausland gebracht haben, müßten in Kolumbien investiert und die Kokapflanzungen durch den Anbau von Nah­rungsmitteln ersetzt werden. Außerdem müßten Erziehungsprogramme auf allen Ebenen durchgeführt werden. Doch vor allem sind politische und soziale Refor­men notwendig.

J.S.: Der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano schrieb über die Verände­rungen in Osteuropa folgendes: “Wir sind zur Beerdigung des Sozialismus ein­geladen, doch die Totenfeier hat sich in ihrem Toten geirrt.” Was denken Sie dar­über?

Vera Grave: Meiner Meinung nach handelt es sich nicht um die Beerdigung des Sozialismus. Die Welt befindet sich in einem Umbruch, was aber nicht bedeutet, daß die Menschen nur das kapitalistische System wollen. Die Menschen wün­schen ein besseres Lebensniveau, mehr Wohlstand, den sie in den sozialistischen Ländern nicht fanden. Wir glauben, vor der Alternative zwischen einer kapitali­stischen oder sozialistisch-demokratischen Gesellschaftsform zu stehen. Dabei gibt es die Möglichkeit, daß der Sozialismus kapitalistische Elemente, wie freie Marktwirtschaft und Konsum, übernimmt. Solange diese Schritte zu einem men­schlicheren Leben führen, bedeuten sie durchaus eine positive Entwicklung der Geschichte. So bedeutet das Zusammenbrechen des geheimen Sicherheits­dienstes, des Bürokratieapparates, der Einheitspartei einen wirklichen Fortschritt für den Sozialismus, solange dieser als demokratisch verstanden wird. Wir sind zur Beerdigung nicht funktionierender Systeme eingeladen.

J.S.: Was erhoffen Sie sich nach der Vereinigung von den Deutschen?

Vera Grave: Ich habe die Hoffnung, daß die Deutschen, obwohl sie zur Zeit damit beschäftigt sind, sich neu zu ordnen, nicht diesen, unseren Teil der Erde, vergessen werden. Wir sind eine Welt und es muß eine Politik des Austausches und der Solidarität mit dem Süden geben. Es ist wahr, daß bei uns im Süden Krieg und Gewalt herrschen, aber wer produziert die Waffen, wer macht Geschäfte mit diesen Kriegen? Unser Kampf gegen den Krieg wird fruchtlos blei­ben, solange die Industrienationen ihre Kriegsgeschäfte betreiben. Ich habe Hoff­nung, daß die friedensschaffenden Menschen im neuen Europa gegen das Geschäft des Krieges kämpfen werden.

J.S.: Frau Abgeordnete Vera Grave Löwenherz, vielen Dank für dieses Gespräch.

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