„Die Magna Charta verteidigt die kulturelle Vielfalt“
Der Schrifsteller Ramón Rocha Monroy über die neue Verfassung des Landes
Am 25. Januar hat ein Referendum über die Annahme einer neuen Verfassung entschieden. Der klare Sieg für das von Präsident Evo Morales und seiner Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus MAS voran getriebene Verfassungsprojekt stärkt dessen „demokratisch-kulturelle Revolution“. Aber hat Bolivien jetzt eine sozialistische Magna Charta?
Nein. Denn sie erlaubt verschiedene Produktionsverhältnisse und Institutionen, die vorkapitalistisch, kapitalistisch und staatswirtschaftlich sind. Sie verteidigt die kulturelle Vielfalt und weist den indigenen Nationen einen neuen Status zu. Wirtschaftlich erteilt sie Garantien, um die Überreste des Neoliberalismus zu tilgen, um unsere natürlichen und menschlichen Ressourcen zu verteidigen. Sie ist grundsätzlich kapitalistisch, fördert aber verschiedene Produktionsweisen nebeneinander. Politisch kann sie demokratischer nicht sein. So gibt es ein Amtsenthebungsreferendum, die Wähler und Wählerinnen können ihre Unterstützung dem entziehen, der schlecht regiert.
Warum kommt Widerstand gerade aus dem wohlhabenden Tiefland?
Nach der Revolution 1952 entwickelte der Staat bewusst einen wirtschaftlichen Pol im Osten. Das bisher vom Bergbau lebende Land wollte die Wirtschaft durch Landwirtschaft, Viehzucht, Öl und Gas diversifizieren. Überschüsse wurden gen Osten transferiert. Genau diese Gesellschaften verstärkten ihre Forderungen nach Autonomie, um alleinige Eigentümer des natürlichen Reichtums zu sein. Die Bevölkerung im Tiefland-Departamento Santa Cruz besteht durch interne Migration vor allem aus einer Mehrheit aus dem Hochland. Die angestrebte Tiefland-Autonomie war der Versuch, die Anwesenheit dieser ImmigrantInnen zu ignorieren.
Im September 2008 wurden 20 MAS-AnhängerInnen von Autonomie-AnhängerInnen massakriert. Morales-GegnerInnen warfen dem Verfassungsprojekt vor, es beschwöre einen Bürgerkrieg …
Wir sind nicht Kolumbien. Die Indigenen leben weder in Reservaten, noch sind sie in der Minderheit. Sie sind eine mächtige Wählerschaft, die städtischen Indigenen sind Vertreter einer sehr dynamischen Handelswirtschaft. Auch haben wir eine sehr organisierte Zivilgesellschaft. Je ärmer der Bürger und die Bürgerin ist, desto mehr Organisationen gehört er oder sie an: Gewerkschaften, Genossenschaften, Verbände. So entstehen kollektive Identitäten und Rechte, die mit organischer Disziplin verteidigt werden. Die Autonomie war eine von den Vorgängerregierungen systematisch verzögerte Forderung, eine Zeitbombe, die explodiert ist. Beide Visionen stehen sich gegenüber. Die Regierung von Evo sah mit Besorgnis, wie die Autonomie-Fahne in die Hände des rechten Sektors samt militanter Separatisten geriet. Darum musste sich die MAS jener Autonomie entgegenstellen. Später korrigierte sie ihre Taktik, schrieb sich eine maximierte Autonomie auf die eigene Fahne: Departamentale, kommunale und indigene Selbstverwaltung. Mit diesem Schachzug war die Annahme der Verfassung fast sicher.
Im Oktober 2008 wurde der Verfassungstext im Kongress mit der parlamentarischen Opposition modifiziert. Erst dann gab dieser grünes Licht für das bevorstehende Referendum. Die Obergrenze von Landbesitz, nämlich 5000 oder 10.000 Hektar, über die ebenfalls abgestimmt wurde, ist nicht rückwirkend, Großgrundbesitz wird nicht angerührt. Ist die MAS gegenüber den Latifundisten letztendlich eingeknickt?
Die Landfrage war von Beginn an die „Mutter aller Schlachten“. Das Kongress-Abkommen verdeutlicht ganz klar das Gefüge gefährlicher und schwieriger Kräfte, denen die Regierung gegenüber stand. Erst als die Regierung nach dem September-Putschversuch entschied, die Latifundien nicht anzurühren und Landbesitz lediglich für die Zukunft an seine »sozial-ökonomische Funktion« zu knüpfen, vereinfachten sich die Verhandlungen. Die bürgerlich-präfekturale Bewegung rief mit Argumenten, die an den störrischen Antikommunismus des Kalten Krieges erinnerten, bis zum Ende zur Ablehnung der neuen Verfassung auf. Doch durch die Konzessionen blieb sie ohne glaubhafte Argumente gegen die Regierung und damit verlor sie an Einfluss in der öffentlichen Debatte.
Welche Rolle spielte der „Evo-Faktor“? Die Opposition bezichtigt den ersten indigenen Präsidenten Lateinamerikas immer wieder des Populismus. Das Land stehe vor einer Diktatur.
Es ist absurd, von einer Diktatur zu reden, bei einer 67-Prozent-Unterstützung beim Amtsenthebungsreferendum August 2008. Lieber 101 Referenden, als schießend übereinander herzufallen. Wir sind ein Land, in dem viel diskutiert wird. Die indigenen Bewegungen handeln nach Verhaltenscodes, die nicht westlich sind. Sie sind keine stolzen Quijote-Adeligen, die gegen Windmühlen anrennen, um mit sinnloser Gewalt ihre Ziele anzustreben. Sicher ist Evo selbst ein zentraler Akteur. Als Symbol der Indigenen-Bewegung, und weil er weiß, wie er die Dinge sagt, welche die Menschen und vor allem seine Leute hören wollen. Über Evo hat Carlos Montenegro, Chef-Ideologe der National Revolutionären Bewegung (MNR) geschrieben, dass Bolivien das Epos des Unabhängigkeitskampfes, das Drama der Republikgründung, die Komödie der Oligarchie durchlebt habe. Die Novelle beginne, wo Bolivien sich selbst erkennt als ein indigenes, vielfältiges Land. Es hat die Komödie der Oligarchie hinter sich gelassen und ist heute eine Novelle, dessen Hauptfigur ohne Zweifel Evo Morales ist. In ihrer demokratischen Bandbreite ist die neue Verfassung vielleicht einzigartig auf der Welt, ein Ergebnis von Boliviens Vielfalt und Multiethnizität. Alle sollen sich wiedererkennen können.
Wie wird es jetzt weitergehen?
Die Verwurzelung der neuen Verfassung im von alten Angewohnheiten geprägten Alltag und weiter bestehender Machtstrukturen bedarf großer Anstrengungen. Die Verabschiedung von mindestens einhundert Gesetzesänderungen im Rahmen der neuen Verfassung wird sicher durch die Opposition blockiert, die im Senat noch immer die Mehrheit hat. Doch hat der Kampf jetzt einen verfassungsrechtlichen Rückhalt.
Und auf internationaler Ebene?
Die Ausweisung des US-Botschafters, der US-Antidrogenbehörde DEA und der US-Entwicklungshilfebehörde USAID von 2008 waren mächtige Zugeständnisse an die MAS-Wählerschaft, dessen Bindung an die Regierung auf diesem Weg sehr gestärkt wurde. Sie belasten sicher die Beziehungen zu den USA. Es gilt abzuwarten, wie Barack Obama die Angelegenheit handhabt. Die neue US-Außenministerin Hillary Clinton hat eine Ära der direkten Diplomatie mit Bolivien angekündigt, was eine Lösung darstellen könnte. Bolivien ist keine sozialistische Bedrohung, das wissen die Nordamerikaner ganz genau. Der lateinamerikanische Kontext ist günstig, vor allem wegen der Führerschaft von Brasiliens Lula da Silva und der verständnisvollen Haltung der Präsidenten Chiles und Argentiniens für unsere Lage. Dazu kommt die Unterstützung von Hugo Chávez. Zunächst gilt es die Finanzkrise zu überstehen. Doch sind wir ein bescheidenes und armes Volk, genügsamer als viele große Länder auf der Welt.