Musik | Nummer 613/614 - Juli/August 2025

Die Monster um uns

Das neue Album von Marilina Bertoldi ist eine Konfrontation mit den Krisen der Gegenwart

Von Jara Frey-Schaaber
Cover des Albums "Para quién trabajas"

Bäm! Angelehnt an die Meme-gewordene Comicszene, in der Batman Robin ohrfeigt, schlägt die lesbische, argentinische Rocksängerin Marilina Bertoldi auf ihrem neuen Albumcover eine Person im Look der 50er Jahre. PARA QUIÉN TRABAJAS schreit uns der Titel entgegen. Keine Frage, mehr eine Feststellung. Vielleicht glauben wir, für uns zu arbeiten, dabei haben wir doch im Grunde alle den gleichen unsichtbaren Boss, erklärt Bertoldi in Interviews: einen im Spätkapitalismus verinnerlichten Zwang, stets produktiv zu sein, den Hang zur Individualisierung und Konkurrenz. Das und die sich stets beschleunigenden Krisen der Gegenwart, der weltweite Rechtsruck und der aus dem Netz auf die Straßen quellende Hass sind das Panorama, das Bertoldi in zehn prägnante Songs fasst.


Entsprechend düsterer und karger als der von verzerrten Gitarren, virtuosen Solos und scheppernden Drums dominierte Vorgänger Mojigata (siehe LN 574) fällt PARA QUIÉN TRABAJAS aus. Für ein Jahr hat sich Bertoldi in ihr Homestudio zurückgezogen, alles selbst komponiert, arrangiert und eingespielt. Der Sound des Rock naciónal der 80er Jahre bot ihr dabei einen Ausdruck für die Empfindungen des Verlorenseins im gleichzeitigen Kampf ums Überleben.


Es sind die Stimmen von Milo und Juli, Kinder ihrer Schwester und Eruca Sativa-Sängerin Lula Bertoldi, die das Album eröffnen und schließen. Zwischen diesen kurzen, versöhnlichen Momenten bricht sich Schmerz, Wut und Ratlosigkeit Bahn. Ein alter Drumcomputer rast los, Synthiesounds umwabern die bewusst einfach und direkt gehaltenen Texte. Doch zwischen den Zeilen ist ein tiefes Unbehagen zu spüren, eine diffuse, gleichzeitig alles umgreifende Angst, ebenso wie der Wille, sich nicht spalten zu lassen.

In den Songs, die diese Zerrissenheit spiegeln, sind Anspielungen an berühmte Lieder von Charly García oder Luis Alberto Spinetta versteckt. Luca Prodan, der jung verstorbene schottisch-italienische Musiker, der inmitten der Militärdiktatur mit seiner Band Sumo den (Post-)Punk nach Argentinien brachte, ist sogar selbst in einer alten Aufnahme zu hören: „Mejor no hablar de ciertas cosas“ (von manchen Dingen sprechen wir lieber nicht), die das Lied „Autoestima“ (Selbstbewusstsein) schließt. Besser nicht sprechen, aber schweigen ist auch keine Option. Anders als im Video zu „El Gordo“ (Der Dicke), das einen mittleren Skandal ausgelöst hat: Der Clip spielt in einem Fernsehstudio, und während drinnen das Sommerprogramm vor sich hinplätschert, fallen draußen Bomben auf Buenos Aires. Eine von Bertoldi selbst dargestellte Popsängerin, die in der Show auftritt, besticht durch komplette Inhaltsleere und wurde als Parodie auf die Popsängerin Emilia Mernes gesehen.

Mit jedem Song – abgesehen von der wunderschönen Ballade „Por siempre es un lugar“ (Für immer ist ein Ort) – wird es düsterer. Die New Wave-artigen elektronischen Beats kulminieren in der Klangcollage „Monstruos“ (Mons­ter). Dort verarbeitet Bertoldi den mörderischen Brandanschlag auf vier lesbische Frauen in Barracas (siehe LN 600). Aus den Zeilen spricht die Monstrosität unserer Epoche genauso wie die Gefahr, den gegen uns gerichteten Hass zu sehr zu verinnerlichen und sich selbst in ein Monster zu verwandeln. Durch alles Zerbrochene dringt am Ende die Stimme von Juli: „Mach dir keine Sorgen, mir geht’s gut. Ich drück dich, ciao“.

Marilina Bertoldi // PARA QUIÉN TRABAJAS VOL. 1 // Sony Music Argentina // Mai 2025 // 10 Songs, 29:42 Minuten


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