Nummer 464 - Februar 2013 | Uruguay

Die Motas begehren auf

Afro-Uruguayer_innen zwischen staatlicher Akzeptanz und Alltagsrassismus

Seit März 2005 wird Uruguay von der linksgerichteten Partei Frente Amplio regiert. Seitdem zeichnen sich für die afrodescendientes, Uruguayer_innen afrikanischer Abstammung, zumindest von institutioneller Seite her positive Veränderungen ab. Im Oktober 2012 hatte das Abgeordnetenhaus Uruguays einstimmig einen Gesetzesentwurf zur „positiven Diskriminierung“, sprich einer höheren Inklusion der afrouruguayischen Bevölkerung im Bildungssektor und auf dem Arbeitsmarkt angenommen. Auch vom Senat wird ein positives Votum erwartet. Im Alltag ist Rassismus jedoch immer noch präsent.

Ricardo Amigo

Welche Ausmaße der alltägliche Rassismus in Uruguay annehmen kann, zeigt der Fall von Tania Ramírez, Mitarbeiterin des Ministeriums für Soziale Entwicklung (MIDES). Ramírez, zudem Aktivistin vom afrouruguayischen Frauenkollektiv Mizangas, wollte laut der Tageszeitung El Observador am 14. Dezember 2012 am Ausgang einer bekannten Disko ein Taxi zur Heimfahrt anhalten. Das Taxi hielt jedoch einige Meter weiter, bei einer Gruppe von Frauen, die ihr zuriefen: „Bei dir haben sie nicht angehalten, weil du eine schmutzige Schwarze bist, bügele dir das Haar!“ Couragiert wandte sich Ramírez gegen diese rassistischen Äußerungen und verlangte nicht beleidigt zu werden. Hierauf verließen die vier Frauen das Taxi und schlugen sie zusammen. Die Täterinnen fuhren im Taxi weg und ließen Tania am Straßenrand liegen. Sie musste daraufhin mit einer gefährlichen Verletzung der Leber in ein Krankenhaus eingeliefert werden.
Wenige Tage später, am 19. Dezember, demonstrierten Tausende Menschen in Montevideo bei der „Marcha de las motas“ – mota bezeichnet in Uruguay schwarzes, lockiges Haar – auf der Hauptstraße 18 de Julio gegen Rassismus und soziale Ausgrenzung von Afro-Uruguayer_innen. „Als afrouruguayische Frauen haben wir das Gefühl, dass nicht nur Tania angegriffen wurde, sondern dass es sich um eine allgemeine Angelegenheit handelt“, sagt Leticia Rodríguez, die den Vorfall auch mit der wachsenden Gewaltbereitschaft in der uruguayischen Gesellschaft in Verbindung bringt. „Im Vorhinein denken wir immer, dass diese Dinge nicht passieren, aber wenn es dann jemand Nahestehenden betrifft, können wir ermessen, wie stark so etwas sein kann und wie konstant es tatsächlich ist.“ Denn der Fall von Ramírez ist kein Einzelfall. Rassismus ist auch in Uruguay noch längst nicht überwunden.
Im heutigen Uruguay ist der Einfluss der in der Kolonialzeit versklavten Afrikaner_innen und ihrer Nachfahr_innen auf die Kultur und Gesellschaft unübersehbar, insbesondere bei der für Uruguay so charakteristischen Candombe-Trommelmusik. Neben der eher symbolischen Einrichtung eines „Nationalen Tages des Candombe, der afrouruguayischen Kultur und der Rassengleichheit“ im Jahr 2006 wurden im MIDES und in anderen Ministerien Sonderstellen zur Erarbeitung von Politiken zur Förderung der Afro-Uruguayer_innen eingerichtet. Dabei scheint es jedoch zu bleiben: So sind die Afro-Uruguayer_innen ähnlich wie die Afro-Argentinier_innen auf der anderen Seite des Río de la Plata (siehe LN 455) in der Geschichte des „weißen“ und „europäischen“ Uruguay unsichtbar gemacht worden. Dies bezieht sich nicht nur auf ihre entscheidende Rolle in diversen Kriegen im 19. Jahrhundert als wichtiger Bestandteil des uruguayischen Heeres, sondern auch auf vielfältige soziale und kulturelle Leistungen, die von der vorherrschenden Geschichtsschreibung kaum gewürdigt werden. Wer weiß schon, dass beispielsweise afrouruguayische Intellektuelle und Aktivist_innen seit dem 19. Jahrhundert – gemessen an der Bevölkerungszahl des Landes – die umfangreichste „schwarze“ Presse Lateinamerikas hervorgebracht haben, die auch in absoluten Zahlen nur hinter dem viel größeren Brasilien zurücksteht? Oder dass es hier eine der wenigen lateinamerikanischen Parteien gab, die sich für die Interessen der Nachfahr_innen versklavter Afrikaner_innen einsetzten?
„Wie dieses Land entstand, ist nicht aus der Perspektive der kulturellen Vielfalt erzählt worden“, meint die afrouruguayische Aktivistin Leticia Rodríguez. „Es ist aus der Perspektive der Gewinner der Geschichte erzählt worden, der großen Sieger. Vieles wurde vergessen und anderes soll versteckt bleiben.“ Zusammen mit ihrem Lebenspartner Martín Niérez hat Rodríguez deshalb das Projekt „Güe! Die afrikanische Spur in Montevideo“ ins Leben gerufen. „Güe” war ein Ausruf unter versklavten Afrikaner_innen in Montevideo, um sich zu versammeln. Das Projekt macht afro-uruguayische Erinnerungsorte durch künstlerische Interventionen im Stadtraum sichtbar. „Es ist wie eine Wegmarke, um zu verdeutlichen, dass dieser Ort eine von Afrikaner_innen abstammende, afrikanische Erinnerung birgt, die es wieder zu erkennen gilt – um davon ausgehend Rassismus und Diskriminierung zu bekämpfen.“
Solch ein kreatives Sichtbarmachen afrikanischer Präsenz in der Geschichte ist bitter nötig in dem kleinen Land, das 1996 erstmals nach über 100 Jahren wieder damit begann, statistische Daten über die Afro-Uruguayer_innen zu erheben. Demnach bezeichneten sich zwischen acht und neun Prozent der uruguayischen Bevölkerung in den letzten Jahren als von Afrikaner_innen abstammend, das entspricht annähernd 280.000 Menschen. Die Mehrheit von ihnen lebt in Montevideo und im angrenzenden Departamento Canelones. In den Departamentos Artigas und Rivera, an der Grenze zu Brasilien, machen sie sogar fast ein Fünftel der Bevölkerung aus. Die Afro-Uruguayer_innen, auch das zeigen die offiziellen Statistiken, sind doppelt so häufig wie die „weißen“ Uruguayer_innen arm: 50 Prozent befinden sich unterhalb der Armutsgrenze und fünf Prozent sind wohnungslos. Hierin spiegelt sich ihre Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssektor und im städtischen Alltag wider, wo sie oft mit rassistischen Vorurteilen und Ausgrenzung konfrontiert sind (siehe auch das Interview mit Sergio Ortuño in LN 337/338). Besonders afro-uruguayische Frauen sind hiervon betroffen, wie Leticia Rodríguez aus eigener Erfahrung weiß. In ihrem Dokumentarfilm „Die Anderen, Wir“ („Las Otras, Nosotras“, 2009) hat sie sich den Schicksalen afrouruguayischer Frauen gewidmet.
Dass es auch Fortschritte für die Afro-Urugayer_innen zu verzeichnen gibt, bestreitet Rodríguez nicht. Sie führt diese positiven Entwicklungen jedoch hauptsächlich auf die Organisationen der Afro-Uruguayer_innen selbst zurück und weniger auf die Initiative der Politiker_innen. „Es fehlt zweifellos ein größerer politischer Wille damit aufzuhören, uns von Seiten der Linken selbst mit Rassismus zu behandeln, denn es kommt immer noch vor, dass wir für sie in gewisser Hinsicht die lästigen kleinen Schwarzen sind“, meint sie. Dem von konservativen Meinungsmacher_innen geäußerten Vorwurf, dass die Forderungen der afro-uruguayischen Bewegung überzogen und diskriminierend für andere Bevölkerungsgruppen seien, hält sie entgegen: „Was wir fordern, ist eine wirkliche Gleichheit, die es de facto nicht gibt. Und die es niemals gegeben hat. Es geht nicht darum, um etwas zu bitten. Es geht um eine historische Wiedergutmachung, die schon viel früher hätte beginnen müssen. Es geht darum, die Perspektive dessen einzunehmen, was uns zusteht, und dessen, was eine wirklich integrierte uruguayische Gesellschaft sein sollte. Eine Gesellschaft, die auch wirklich die vorhandenen Gesetze anwendet, die bisher oft nur unbenutzt in der Schublade liegen. Nicht umsonst haben wir schließlich alle zusammen dieses Land erschaffen.“

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