Jugend | Nummer 303/304 - Sept./Okt. 1999

„Die Narcos sind für uns echte Symbole“

Yocupitzio Arrellano, Drummer der Ska-Salsa Band Los de abajo, über Nietzsche, Sex und Politik.

Sie verstehen sich als radikal links, sind für die EZLN (Zapatistisches Heer der Nationalen Befreiung )und finden Politik total scheiße, Nur die Regierung von Bürgermeister Cauhtemoc Cárdenas in Mexiko-Stadt halten sie für einen Glücksfall. Sie sind Repräsentanten der jugendlichen Subkultur im Mexiko-Stadt der 90er Jahre. Im Sommer 1999 räumten Los de abajo, die ihre erste Platte im Studio des Ex-Talking Head David Byrne aufgenommen haben, beim Heimatklänge-Festival in Berlin richtig ab. Vor dem Konzert sprachen die Lateinamerika Nachrichten mit dem Drummer der Gruppe: Yocupitzio Arrellano ist 25 Jahre alt und studiert Philosophie an der Nationalen Universität.

Markus Müller

Wenn du wählen müßtest, ob du dich als Mexikaner oder als Jugendlicher definierst, wofür würdest du dich entscheiden?

Ich glaube, ich würde mich als Jugendlicher definieren, weil es uns sehr schwer fällt, auszusprechen, daß wir Mexikaner sind. Es gibt eine Klischeevorstellung des Mexikaners, mit der wir nichts zu tun haben wollen. Wir Jugendlichen wollen Selbstbestimmung.

Was heißt Selbstbestimmung?

Zum einen wollen wir einfach so herumlaufen können, wie wir wollen. Außerdem wollen wir Literatur haben, vielleicht sogar Pornographie. Ich möchte einfach sagen können: „Ich bin schwul, ich nehme Drogen, ich bin Rocker oder Punk!“, ohne mit Repression rechnen zu müssen. Unter den Jugendlichen gibt es keine Vorurteile oder Beleidigungen gegen Schwule.

Was gibt es außer der Musik noch für Symbole für euch? Seht ihr Che Guevara noch als Idol?

Nein, viel mehr Marcos und die EZLN, glaube ich. Marcos ist ein echter underground-Guru .

Wie sieht es mit Schriftstellern aus? Ich habe gehört, daß Nietzsche sehr viel gelesen wird. Was bedeutet er für euch?

Ich denke, Nietzsche ist so was wie ein Mexikaner, ohne Mexikaner zu sein. Da stehst du nicht als Mexikaner, sondern als Individuum im Vordergrund. Ich nehme an, Nietzsche hat uns stark beeinflußt, weil er so etwas ist wie eine Ikone der Rebellion, einer der Nein sagt und mit jedem Schema bricht.

Wie haltet ihr’s mit der Religion? Versteht ihr euch als antireligiös?

Natürlich glaubt niemand von uns an den Katholizismus. Aber ich glaube, die fernöstlichen Religionen üben gerade eine große Anziehungskraft aus, weil sie dir erlauben, dein eigener Gott zu sein. Ich würde sagen, es gibt ein religiöses Wiederaufleben im Sinn einer Negation der herrschenden Religion und einer Suche nach mystischen Elementen.

Liegt das vielleicht daran, daß niemand mehr daran glaubt, eine Befreiung mit politischen Instrumenten herbeiführen zu können?

Natürlich! Man hat uns zu apolitischen Menschen gemacht. Alles was mit Politik zu tun hat, stinkt. Das ist sicherlich zuerst einmal eine Flucht, aus der vielleicht eine Befreiung werden könnte. Wir kämpfen ja für politische Partizipation, aber dazu brauchen wir zuerst eine neue Politik.

Könnte die Regierungsweise von Cauhtemoc Cárdenas in Mexico-Stadt eine solche neue Politik sein?

Cárdenas wurde von allen Seiten kritisiert. Aber der Jugend in Mexiko-Stadt hat er auf eindrucksvolle Weise geholfen. Die gesamte Rock-Bewegung konnte deswegen so erfolgreich sein, weil jetzt Konzerte auf öffentlichen Plätzen erlaubt sind. Wir meinen, wenn Cárdenas nicht mehr Bürgermeister ist, verlieren wir unsere Freiheit und müssen wieder von vorne anfangen. Kulturell gesehen ist Cárdenas also das beste, was uns passieren konnte. Und noch ein wichtiger Punkt: Wir hatten früher richtige Angst vor der Polizei. Seit Cárdenas Bürgermeister ist, hat sich das geändert. Wir haben keine Angst mehr.

Welche existentiellen Zukunftsängste und welche Hoffnungen hast du?

Zum einen gibt es eine große Angst davor, die Demokratie nicht verwirklichen zu können. Wir haben Angst, daß es bei dem Versuch, die Regierung loszuwerden, zu einem Bürgerkrieg kommen könnte, oder daß es ein zweites Chile geben könnte. Die mexikanische Armee hat ihre glorreichsten Schlachten gegen die eigene Bevölkerung geschlagen. Wir haben Angst davor, gegenüber der ersten Welt immer Menschen zweiter Klasse zu bleiben und für die Reichen arbeiten zu müssen. Vor allem in den Discos werden die blonden und hellhäutigen Kids der Oberklasse bevorzugt, während wir wie der letzte Dreck behandelt werden. In der Subkultur ist das genau andersherum. Außerdem hoffen wir, daß es keine Luftverschmutzung mehr gibt, daß der Regenwald nicht abgeholzt wird, und, daß die Menschenrechte respektiert werden.

Würdest du denn die Regierung als euren größten Feind bezeichnen?

Nein, als unseren größten Feind würde ich die Demagogie bezeichnen, die uns weißmachen will, daß der Kommunismus nicht funktioniert hat und daß der Unterschied zwischen arm und reich eine natürliche Sache ist. Wir wollen nach wie vor die Gleichheit aller erreichen. Aber natürlich gibt es auch konkrete Personen, die wir wirklich als unsere Feinde betrachten: Den Präsidenten, jedes einzelne Mitglied der Armee, die Leute des Massakers von 1968, die heute immer noch auf der Straße rumrennen als wäre nichts passiert. Ich würde sagen, die Narcos (Drogenmafia) sind eher unsere Freunde als die Regierung. Die Narcos sind für uns echte Idole. Mittlerweile sind schon Lieder für Narcos entstanden, es gibt Mythen über sie. Rafael Carlos Quintero, ein Narco der jetzt im Knast sitzt, ist ein wirkliches Idol der Nation.

Und was hast du für ganz persönliche Träume?

Ich habe immer den Traum gehabt, irgendwann einmal stolz darauf sein zu können, Mexikaner zu sein. Ich möchte auf die Frage, ob ich Mexikaner bin, endlich „ja“ sagen und mich mit bestimmten Dingen identifizieren können. Ich denke, wir MexikanerInnen haben das große Problem, daß wir nicht wissen, wer wir sind. Deswegen hoffe ich, wir werden uns irgendwann bewußt, wer wir sind und welche Kultur uns gemein ist. In Mexiko gibt es soviel Diversität, daß niemand weiß, wie unsere Identität aussieht.

Aber meinst du nicht, daß bei dieser Suche nach einer Identität die Diversität verloren geht?

Natürlich sind wir uns bewußt, daß Identität nicht mit Gewalt durchgesetzt werden kann. Wir glauben, daß es vor allem die Diversität ist, die uns eint. Das mag paradox klingen, aber wir wollen, wie Marcos sagt, gleich sein, aber verschieden.


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