Die Pacha Mama melken
Die frühere Basis von Evo Morales verliert das Vertrauen, dass dessen Kabinett wirklich an einem strukturellen Wandel interessiert ist
„TIPNIS ist das schwarze Loch der Regierung“, urteilt Raúl Prada in einem Beitrag für die Internetseite bolpress.com. Der ehemalige Vizeminister für strategische Planung gehört seit Mitte 2010 zu den linken Kritiker_innen des bolivianischen Präsidenten Evo Morales. Mit dem „schwarzen Loch“ meint er, dass der Konflikt um das indigene Territorium und Naturschutzgebiet Isiboro-Securé (TIPNIS) droht, jedes Prestige der Regierung und ihren Anspruch, die indigene Bevölkerungsmehrheit des Landes zu repräsentieren, zu schlucken: „Der Konflikt um TIPNIS hat der Regierung alles abverlangt.“
Die Regierung wollte im vergangenen Jahr bereits eine Überlandstraße durch das per Gesetz „unantastbare“ Schutzgebiet bauen lassen, was aber enorme Proteste provozierte (siehe zum Beispiel LN 449, 450 und 456). Die Demonstrationen gingen von Gruppen aus, die einst zu den wichtigsten Verbündeten der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) zählten und erzwangen einen vorläufigen Baustopp. Derzeit läuft eine Volksbefragung zum Straßenbauprojekt, die bis zum 10. September abgeschlossen sein soll. „Der Kampf um den Erhalt des TIPNIS ist ein Kampf um die Fortsetzung des Prozesses“, schreibt Prada weiter. Er meint den Prozess des Wandels in Bolivien, für den die Regierung Morales einst stand.
Auf der Internetseite bolpress.com häufen sich derartige kritische Aussagen über die Regierung. Auf diesem Forum publizieren einflussreiche Aktivist_innen, Sozialwissenschaftler_innen und Politiker_innen Analysen und Meinungsartikel zur aktuellen politischen Situation in Bolivien. Zahlreiche wichtige Diskussionen gingen von diesem Medium aus. Früher galt die Seite als ausgesprochen MAS-nah, doch dieses Verhältnis hat sich nun gewandelt.
Sehr viele Vertreter_innen von indigenen und anderen sozialen Bewegungen beklagen, dass die MAS den historischen Prozess des Wandels in Bolivien verraten hätte. Deutliche Worte findet der Aymara-Aktivist und Soziologe Pablo Mamani Ramírez. Unter Evo Morales habe sich der „Präsidentenpalast in eine Festung der indigenen Aufstandsbekämpfung verwandelt. […] Die Träume hunderter Männer und Frauen auf einen besseren Tag wurden verraten“, schrieb er in einem Beitrag für das Internet-Portal.
Der bessere Tag, auf den so viele indigene Bewegungen gehofft hatten, sollte zu einem „erfüllten Leben“ führen. Das Konzept des „erfüllten“ oder „guten Lebens“ (buen vivir) ist die zentrale Forderung der indigenen Bewegungen – und der Regierung. Es soll eine Alternative zu klassischen Entwicklungsmodellen bieten. Was das buen vivir genau bedeutet, ist nicht klar. Einfacher lässt sich sagen, was es nicht sein soll: Die Unterordnung von Politik und Wirtschaft unter Profitstreben und den Maßgaben kapitalistischer Wertschöpfung. Konkret sollte sich diese neue Wirtschaftsweise nicht zuletzt in der Abkehr vom Extraktivismus äußern. Seit der Kolonialzeit ist Boliviens Wirtschaft auf die Ausbeutung von Bodenschätzen ausgerichtet, alle negativen Folgen für Menschen und Umwelt wurden dem Bergbau untergeordnet. In den Diskussionen zum buen vivir wird dagegen der Respekt vor Pacha Mama, der Mutter Erde, betont und gefordert.
Doch genau diese Ideen, so sagen linken Kritiker_innen, verfolge die Regierung nicht mehr. Ihre Aussagen zum buen vivir und zum Respekt vor Pacha Mama seien nurmehr Lippenbekenntnisse. Die meisten großen Regierungsprojekte seien zu sehr im alten Entwicklungsdenken verhaftet. Diese Kritik ist leicht nachvollziehbar. Ob es der geplante Abbau von Lithium ist, aus dem Batterien für Elektorautos gebaut werden sollen, oder diverse Staudammprojekte im Amazonasgebiet oder die weitere Erschließung von Erdöl- und Gasquellen: Die großen Wirtschaftspläne der Regierung setzen vor allem auf den Abbau von Ressourcen, den Ausbau von Infrastruktur und Industrialisierung.
Großen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik Boliviens hat das Komitee zur Verteidigung des Nationalen Erbes (CODEPANAL), das dem staatlichen Erdölkonzern YPFB nahe steht. Es setzt überwiegend auf konventionelles Wirtschaftswachstum. Doch dieses soll vom Staat ausgehen. Die „progressive Ausweisung transnationaler Erdöl-, Erdgas- und Bergbauunternehmen“ und ihre Ersetzung durch „eigene staatliche Unternehmen“ steht an erster Stelle in der Liste der Ziele von CODEPANAL. Diese antiimperialistisch orientierte Verstaatlichungspolitik soll erreichen, dass die Gewinne aus dem Geschäft im Land bleiben und der Bevölkerung zu Gute kommen.
In der Tat hat die Regierung die Einnahmen aus dem verhältnismäßig guten Wirtschaftswachstum der letzten Jahre in zahlreiche Sozialprogramme investiert, die nach brasilianischen Vorbild eingeführt wurden. Ein Beipiel dafür sind Beihilfen für arme Familien mit Kindern (etwa der Bono Juancinto Pinto). Zahlreiche arme indigene Gemeinden auf dem Land haben dank staatlicher Investitionen erstmals Zugang zu sauberen Trinkwasser erhalten. Derartige Hilfsprogramme erklären die nach wie vor hohe Popularität der Regierung Morales in vielen indigenen Landgemeinden.
Einige, wie der Soziologe Mamani, kritisieren aber gerade diese Hilfsprogramme: Hilfen kämen vor allem den Gemeinden zugute, die sich gut mit der Regierung stellen. So werde die indigene Bewegung Boliviens gespalten. Er sieht den Grund für den sich abzeichnenden Erfolg der Regierung bei der Volksabstimmung über das TIPNIS weniger in der Zustimmung der dortigen Bevölkerung für das Straßenprojekt. Vielmehr seien es die Geschenke seitens der Regierung, die die Bevölkerung auf Regierungslinie bringen.
Ob die Hilfsprogramme wirklich eine Art Bestechung der indigenen Gemeinden darstellen, mag umstritten sein. Sie bieten der Regierung jedoch ohne Zweifel die Möglichkeit, für mehr Akzeptanz für die Entwicklungsprojekte zu werben. Exemplarisch zeigt dies eine Rede von Evo Morales, vom August 2011: „Wenn wir Straßen bauen wollen, sind einige Brüder dagegen. Wenn wir als Regierung mehr Erdgas oder Erdöl fördern wollen, dass die Pacha Mama uns gibt, wollen das auch einige Brüder nicht. Wenn wir Wasserkraftwerke bauen wollen, sind einige Brüder dagegen. Wovon soll Bolivien denn leben?“
So verweist die Regierung auch im Konflikt um die Straße durch das TIPNIS auf den vermeintlichen Nutzen für die Bevölkerung. Über die Straße bekämen die indigenen Gemeinden in dem Gebiet besseren Zugang zum Gesundheits- und Bildungswesen. Kritiker_innen sehen dagegen den Bau der Straße als ersten Schritt zu Erschließung weiterer Erdgasquellen im Naturschutzgebiet. Sie befürchten, dass auf der Straße weniger Schulbusse und Krankenwagen fahren werden als Lastwagen, die Tropenhölzer und Kokablätter von illegal gerodeten Flächen aus dem fragilen Regenwaldgebiet abtransportieren. Die Kritiker_innen der Regierung hinterfragen grundsätzlich, ob Erdölförderung und Industrialisierung überhaupt mit den Interessen der Bevölkerung und der Natur in Einklang zu bringen ist.
Doch Industrialisierung ist das erklärte Ziel der regierungsnahen CODEPANAL. Im vergangenen Oktober publizierte die Organisation einen Entwicklungsplan für die Zeit von 2011 bis 2021. Ziel ist, die Energieproduktion Boliviens zu vervielfachen. Dafür sollen Wasserkraftwerke gebaut werden, was im Regenwaldgebiet Madidi im Nordosten des Landes geplant ist. Dies sei eine „Mindestanforderung, um aus der Dritten Welt in die industrialisierte Zweite Welt aufzusteigen“, wie es im Text von CODEPANAL heißt. Das buen vivir fordert eigentlich die Abkehr von derartigen Hierarchisierungen in „Dritte“ und „Zweite“ Welt, die eine „nachholende Entwicklung“ implizieren. In den Debatten um das buen vivir geht es eigentlich darum, ob angesichts der Klimaerwärmung Pacha Mama nicht besser gedient wäre, wenn man ihr Gas und Öl da lässt, wo es ist, und ihre Flüsse nicht anstaut.
Diese Ignoranz bemängeln immer mehr soziale Aktivist_innen an der Regierung. Zudem stellt sich die Frage, wie neu der Neo-Extraktivismus eigentlich ist. Das Dekret zur Nationalisierung des Erdöls von 2006 trägt den Namen „Helden des Chaco“. Schon der Name erinnert an den Einzug der Erdölkonzessionen des US-Unternehens Standard Oil im Jahr 1937, eine direkte Folge des Chaco-Kriegs (1932-1935). Bereits die damaligen Regierungen des sogenannten „militärischen Sozialismus“ versuchten, die Einnahmen aus der Erdölförderung der armen Bevölkerungsmehrheit zugute kommen zu lassen. Ein ähnliches Muster verfolgte die Verstaatlichung der Zinnminen im Jahr 1952. Doch eine staatliche Kontrolle des Extraktivismus bedeutet nicht, dass weniger Umweltschäden entstehen.
So schreibt Rebecca Hollender von der Sozial- und Umweltorganisation Klimawandel und Gerechtigkeit (ccjusticia) auf bolpress.com, dass die aktuelle Ressourcenpolitik Boliviens ein direktes Hindernis auf dem Weg zum buen vivir darstelle: „Das neo-extraktivistische Modell ist nur ein geringer Fortschritt gegenüber dem, was vorher herrschte: Das klassische extraktivistische Modell, das seit 500 Jahren eine Schneise der Zerstörung durch Umwelt und Gesellschaften in Lateinamerika gezogen und die Länder ökonomisch vom Export von Rohstoffen abhängig gemacht hat.“
Doch solcher Kritik am Neo-Extraktivismus sprechen Regierungsvertreter_innen jegliche Legitimation ab. Der Soziologe Eduardo Paz Rada unterstellt seinerseits Kritiker_innen der Entwicklungspolitik, den revolutionären Wandel im Land zu verraten. In einem Artikel mit dem Titel „Ein falsches Dilemma: Neo-Extraktivismus gegen Umweltschutz“, der auch auf bolpress.com erschien, schreibt er, dass sich multinationale Unternehmen und Umweltorganisationen miteinander verschworen hätten: „Beide Pole sind Teil der imperialistischen Strategie, die wichtigsten Ressourcen des Planeten zu kontrollieren.“
So scheinen sich soziale Bewegungen und Regierung in Bolivien deutlich entzweit zu haben. Doch trotz dieser Konflikte, schreibt Pablo Mamani Ramirez in seinem Artikel, sei der Prozess des Wandels in Bolivien noch nicht tot: „Wenn man meinen Artikel liest, könnte man das glauben.“ Der Prozess müsse nur wieder von den sozialen und indigenen Organisationen ausgehen, und er glaubt, dass dies auch geschehe: „Die Bevölkerung hat sich erhoben und ist nicht bereit, sich wieder niederzuknien.“ Auch nicht vor einer sich indigen gebenden Regierung.