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„DIE PATRIARCHALEN FORMEN DER POLITIK MIT DRUCK VERÄNDERN“

Interview mit Mitgliedern des Kollektivs Tinta Violeta über den feministischen Notstand in Venezuela

Im Januar diesen Jahres rief ein Bündnis verschiedener feministischer Organisationen den feministischen Notstand für Venezuela aus. Grund dafür war die hohe Zahl der Feminizide im Land und die fehlende juristische Aufklärung der Gewalttaten gegen Frauen. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit Victoria Alen und Karina Chacón vom feministischen Kollektiv Tinta Violeta über die aktuelle Situation, ihren öffentlichen Protest und den Kampf um Gerechtigkeit.

Interview: John Mark Shorack (Übersetzung: Susanne Brust)

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Victoria Alen und Karina Chacón sind Teil von Tinta Violeta. Das Kollektiv wurde 2012 gegründet und setzt sich vor allem für die Verteidigung von Frauen ein. Die Mitglieder begleiten Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind – juristisch und emotional. Insbesondere will die Gruppe die Aufmerksamkeit auf die juristische Aufarbeitung von Verbrechen gegen Mitglieder der LGBTQ+-Community lenken. Die Aktivist*innen versuchen den Machismo aber auch mit künstlerischem Ausdruck zu überwinden: Ihr Projekt Amada nutzt kreative Workshops zu Poesie, Tanz und Theater, um der feministischen Bewegung innerhalb der venezolanischen Kultur neue Impulse zu geben. Tinta Violeta gehört zu La Araña Feminista, einem Netzwerk sozialistischer feministischer Kollektive in Venezuela.
(Foto: Maye Josefina)


Wieso habt ihr den feministischen Notstand für Venezuela ausgerufen?
Victoria Alen: In der zweiten Hälfte des letzten Jahres hat unsere Mitstreiterin, die Anthropologin und Feministin Aimee Zambrano, über den sogenannten Feminizid-Monitor die Zahlen der Feminizide in Venezuela für 2019 vorgelegt. Es waren 167 Fälle – eine Zahl, die uns schockiert hat. Wir haben außerdem gemerkt, wie sehr sich Frauen von Gesetzen und staatlichen Institutionen im Stich gelassen fühlen. Seit 2015 hatte es keine offiziellen Angaben zu Feminiziden mehr gegeben, damals waren es 121 Fälle. Das heißt, in den vier Jahren bis 2019 hat sich die Zahl der Feminizide um 38 Prozent erhöht. Nach dieser Erkenntnis haben wir uns mit anderen Kollektiven zusammengetan und beschlossen, eine Art Bündnis zu schaffen. Dieses vereint Gruppen etwa aus dem sozialistischen Netzwerk La Araña Feminista und andere Organisationen, die ebenso wichtige Arbeit machen.

Wir bemühen uns, über ideologische Haltungen hinauszugehen. Nicht alle Kollektive  vertreten eine klar sozialistische Ideologie, arbeiten aber nach ähnlichen feministischen Grundsätzen wie wir. Unser öffentliches Statement unter dem Namen „Feministische Erklärung” war eine sehr spontane Sache, um den Staat und die landesweiten Institutionen unter Druck zu setzen. Danach haben wir uns für eine Pressekonferenz entschieden, um den feministischen Notstand auszurufen. Für uns war dieser Schritt nötig, weil es eine ernstzunehmende Problematik ist, die bisher missachtet worden ist.

 Welche Aktionen sieht eure „Feministische Erklärung” vor, um den Staat unter Druck zu setzen?
Karina Chacón: Die erste Aktion fand bereits am 25. November statt, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Zu diesem Anlass erstellten wir unsere erste Pressemitteilung und brachten diese zum Obersten Gerichtshof, also dem leitenden juristischen Organ in Venezuela. Der rechtliche Rahmen hier gilt  in Genderfragen zwar als einer der fortschrittlichsten in der Region, wenn es um die Formulierungen und das, was berücksichtigt wird, geht. Aber für viele wichtige Gesetze gibt es nicht einmal genaue rechtliche Bestimmungen. Das heißt, wenn man die Anwendung der Gesetze untersucht, stößt man auf sehr schlechte Ergebnisse.

Habt ihr mit der Demonstration vor dem Obersten Gerichtshof etwas erreicht?
VA: Nun gut, wir haben Maikel Moreno, den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, dazu gebracht, unmittelbar während unseres Protests nach draußen zu kommen und mit uns zu sprechen. Wir wollten ein Gespräch mit den Institutionen und den verschiedenen Kollektiven vor Ort einleiten. Im Nachhinein hat es Arbeitsgruppen mit verschiedenen Vorsätzen gegeben, es gab drei Treffen, aber es wurde nie etwas erreicht. Es blieb in einem unverbindlichen Rahmen und die Treffen brachten aus verschiedenen Gründen nie Ergebnisse.

Ich weiß nicht, ob es an der Ineffizienz, der Apathie oder den fehlenden Mitteln bzw. der Infrastruktur der Institutionen liegt, jedenfalls kamen wir zu nichts. Tatsächlich hatte Moreno sich am 25. November zu dem Vorhaben verpflichtet, dass es am 8. März bereits etwas Konkretes geben sollte. Der 8. März kam und ging und es ist absolut nichts passiert.

Am Internationalen Frauentag, dem 8. März, habt ihr eine unabhängige Protestaktion veranstaltet…
KC: Wir haben eine Aktion geschaffen, mit der wir uns alle identifizieren konnten, obwohl es innerhalb des Bündnisses sehr unterschiedliche Gedanken und ideologische Strömungen gab. Wir sind uns aber einig über den feministischen Notstand und unsere Forderung nach Gerechtigkeit für alle Frauen. Wir haben mehr als 100 Personen versammelt. Das ist für eine spontane Aktion im kleinen Raum, die unabhängig von Parteistrukturen und offiziellen oder traditionell oppositionellen Institutionen organisiert wurde, gar nicht so wenig und ein erster Erfolg.

Unser wichtigstes Vorhaben ist es, wieder Räume zu schaffen, in denen es eine offene Debatte geben kann, in denen wir uns zuhören und durch die wir Frauenrechte durchsetzen können. So können wir auch Vertrauen schaffen. Eines der Dinge, die wir in der politischen Aktion und ihren Räumen in Venezuela verloren haben, ist die notwendige Diskussion oder Gegenüberstellung auch von politisch abweichenden oder gegensätzlichen Meinungen.

Wie steht es aktuell um Feminizide in Venezuela?
KC: Wir zählen heute 67 Tage in diesem Jahr und – laut dem Feminizid-Monitor von Aimee Zambrano – 51 Feminizide. Das ist eine Zahl, die uns alarmiert. Nehmen wir zum Vergleich unsere spanischen Mitstreiterinnen, die auch den feministischen Notstand erklärt haben: In Spanien waren es in diesem Jahr laut offiziellen Angaben 14 bis 16 Feminizide – und dort leben deutlich mehr Menschen als in Venezuela.

Gibt es irgendeinen Weg, Gerechtigkeit für diese Verbrechen zu schaffen?
KC: Im Allgemeinen gehört es nicht zur venezolanischen Kultur, Verbrechen zur Anzeige zu bringen. Wenn eine Frau, die Gewalt erfährt oder erfahren hat, zu Tinta Violeta kommt, ist unser erster Schritt, ihr zur vermitteln, dass sie nicht allein ist und sie von einer Anzeige zu überzeugen. Wenn Frauen aber allein zur Polizei gehen und eine Gewalttat anzeigen wollen, werden sie von den Beamtinnen und Beamten dort wiederum zum Opfer gemacht. Das bringt viele dazu, eher von einer Anzeige abzusehen. Der Fall wird auf Eis gelegt, die Anzeige zurückgezogen und nicht weiterverfolgt, weil die Frau nicht darauf besteht. Zum Glück sind wir als Organisation eine juristische Person. Das heißt, wir dürfen rechtlich gesehen, Teil einer Anzeige sein. Nur so, mit diesem Druck, gelingt es uns, dass die Beamtinnen und Beamten den Fall bearbeiten und irgendwann Ergebnisse erzielen, auch wenn sie uns erst einmal vier Stunden warten lassen.

Wie war die Situation, bevor die offiziellen Statistiken eingestellt wurden?
VA: In den 2000er Jahren traten mehrere neue Gesetze in Kraft, es gab politische Bewegungen und die staatlichen Institutionen hatten einen Weg gefunden, auf die Problematik zu antworten. Das Problem war nicht so schlimm, wie es heute ist. Die Besorgnis über die Gewalt an Frauen hat die öffentliche Politik beeinflusst. Außerdem haben die Frauen während der gesamten Bolivarischen Revolution mit Hugo Chávez sehr stark an den politischen Prozessen teilgenommen, vor allem in den Basisorganisationen. Natürlich war die Gewalt an Frauen ein Thema, aber die Frauen fühlten sich nicht so im Stich gelassen und hatten Möglichkeiten, politische Lösungen dafür zu finden, weil sie politische Protagonistinnen waren.

Seit 2014 ist die Verzweiflung aber groß. Die Jahre 2015 und 2016 waren eine Zeit der starken Brüche. Nicht nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern alle möglichen Aspekte waren betroffen: in der Politik, der Gesellschaft, der Kultur. Das hatte starke Rückwirkungen auf die Frauen, die am Ende die schwerste Last zu tragen hatten. Es kam zur Feminisierung der Armut. Frauen sind diejenigen, die in ihrem Zuhause direkt betroffen sind, am meisten natürlich von der Gewalt. Diese Umstände haben zu einem bedeutenden Anstieg jeglicher Formen der Gewalt geführt, sei sie symbolisch, politisch oder institutionell.

Welche Forderungen ergeben sich aus eurer „Feministischen Erklärung” in Bezug auf die aktuelle Situation?
KC: Unsere erste Forderung ist die nach offiziellen Statistiken. Die zweite Forderung bezieht sich auf rechtliche Aspekte: Wie schaffen wir es, dass die Beamtinnen und Beamten das geltende Recht umsetzen? Dafür braucht es eine Leitlinie, an die sich gehalten werden muss. Das fängt schon damit an, dass wir nicht durchgelassen werden, um Anzeige zu erstatten, wenn wir ein Kleid tragen. Wenn der Beamte an der Tür nicht mit der Kleidung der jeweiligen Frau einverstanden ist, kommt sie nicht rein und muss stattdessen zurück nach Hause, zurück zu dem Gewalttäter, der sie vielleicht umbringen wird.

Eine andere Forderung richtet sich auf die Entkriminalisierung von Schwangerschafts-abbrüchen – das ginge zum Beispiel durch die Zulassung einer Nichtigkeitsklage. Wir fordern außerdem, dass die Gewaltverbrechen an Bäuerinnen, indigenen Frauen und Mieterinnen nicht als Verbrechen am Eigentum oder Land, sondern als Fälle sexualisierter Gewalt behandelt werden. Diesen Frauen widerfährt keine Gerechtigkeit angesichts solcher Taten. All diese Forderungen gehören zu einem Plan, der jetzt gestaltet werden muss. Dieser Plan muss von den Beamtinnen und Beamten dauerhaft und grundlegend angewandt werden.

Wie steht es um die Aufklärung von Verbrechen gegen Mitglieder der LGBTQ+-Community?
VA: Wir begleiten diese Fälle freihand, weil es keine besonderen Richtlinien gibt. Die Verfassung verbietet jedoch im Artikel 20 und 21 jegliche Form der Diskriminierung, egal in welcher Situation. Darauf basiert unsere Arbeit, denn die Verfassung steht über allem. Fälle, in denen dagegen verstoßen wird, müssen bearbeitet oder zumindest entgegen genommen werden.

KC: Weil Venezuela noch keine Gesetze über die Geschlechtsidentität erlassen hat, sieht das Gesetz beispielsweise transmaskuline Personen als Rechtssubjekte nach ihrem biologischen Geschlecht. Wir haben mehrere solcher Fälle von Menschen betreut, die sich als Männer definieren, vom Gesetz aber als Frauen geschützt werden. Es ist ein sehr komplexes Thema. Wir müssen den Beamtinnen und Beamten erklären, dass die Person eine Frau mit männlicher Identität ist, damit diese Person nicht verletzt oder wiederum zum Opfer wird. Es ist sehr schwierig, weil es immer darum geht, wie die Person zu nennen ist und, weil es viele Vorurteile gibt. Die Betreuung von trans Menschen ist um einiges schwieriger, weil es keinen rechtlichen Rahmen für die geschlechtliche Identität gibt. Verschiedene Organisationen fordern bereits eine Gesetzesreform, tatsächlich existiert sogar schon ein Vorschlag dafür, Gewalt gegen trans Frauen in das Gesetz aufzunehmen. Bisher wird sie das nicht. Mit der Reform würden auch Morde an trans Frauen als Feminizide gezählt werden.

Gibt es Fortschritte der feministischen Bewegung in eurer Region?
KC: Wir vertrauen als feministische Bewegung darauf, dass wir die patriarchalen Formen der Politik, die bis jetzt keine Ergebnisse erzielt haben, verändern können. So lautet die Forderung der feministischen Bewegung in der ganzen Region: eine Alternative zu schaffen, die alle berücksichtigt und einer ganzen Hälfte der Bevölkerung das Recht auf Leben garantiert, was bis heute nicht beachtet wird.

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