DIE POESIE DES WIDERSTANDS
In Rio de Janeiro positioniert sich das „Literaturfestival der Peripherie – FLUP“ gegen rechtsextreme Tendenzen in Brasilien
Brasilien unter Schock: Nach dem Wahlsieg des rechtsextremen Jair Bolsonaro bekennt das Litertaurfestival FLUP kurz darauf Farbe gegen das neue Regime. „Singt laut, singt kräftig“ wird in Anlehnung an Martinho da Vila, einen dieses Jahr geehrten afro-brasilianischer Sänger, zum Motto des Festivals. Es bringt die landauf-landab spürbare Entrüstung gegen den neuen Rechtsextremismus in Brasilien auf den Punkt.
Ausschließlich afro-brasilianische, afrikanische sowie Diasporakünstler*innen aus Afrika können ihrem Unmut auf dem Festival Ausdruck verleihen, indem sie fehlende Rechte diskutieren und einfordern. Im verflixten siebten Jahr des Literaturfestivals kann man eine noch nie dagewesene Politisierung beobachten. In seiner ersten Ausgabe 2012 stand das FLUP, das sich vor allem der literarischen Produktion der Favelas widmet, noch unter Schirmherrschaft der euphemistisch genannten „befriedenden Polizeieinheiten” Unidades Policiais Pacificadoras. Mittlerweile gilt es als zentrale Plattform für das Hör- und Sichtbarmachen marginalisierter Stimmen. Bereits die thematische Ausrichtung auf die historische, literarisch-philosophische Strömung Négritude, in der frankophone Autor*innen im 20. Jahrhundert eine Selbstbehauptung der afrikanischen Kultur dem Kolonialismus entgegenstellten, spielt auf die kolonialen Kontinuitäten im heutigen Brasilien an. Noch heute ist die meist in Favelas lebende afro-brasilianischen Bevölkerung des Landes immer wieder willkürlicher Polizeigewalt ausgesetzt.
Marielle Franco und ihr Einsatz für die afro-brasilianische Bevölkerung ist allgegenwärtig
Allgegenwärtig auf dem Festival ist nicht Marielle Francos Schatten, sondern ihre Aura, ihr Nachlass was ihren Einsatz für die Rechte der diskriminierten und marginalisierten afro-brasilianischen Bevölkerung angeht. Sowohl die inhaltliche Konzeption als auch die weit gestreuten Referenzen zeugen von der Omnipräsenz der im März 2018 ermordeten schwarzen Bürgerrechtlerin und Lokalpolitikerin. Ein ihr zu Ehren verfasstes Gedicht wird unter lautem Beifall von einem Schuljungen aus einem westlichen Armenviertel Rios vorgetragen. Am Bücherstand prangt ein richtungsweisendes Straßenschild mit Marielles Namen. Die Darbietungen werden mit „Marielle presente”-Rufen angestimmt. So wird an Marielle Franco erinnert. Gleichzeitig schreit das stark politisierte Publikum laut im Chor „ele não” („Er nicht!“), der Slogan der vor allem feministischen Proteste gegen Jair Bolsonaro.
Der Protestschrei nach einem gerechteren Leben wird zu Beginn der Veranstaltung durch einen Paukenschlag eingeleitet: Das Publikum erlebt eine politische Protest-Modenschau. Die eigens für das Festival konzipierte Bekleidung mit dem die Haute Couture ironisierenden Namen „Preta Porter” (ein Wortspiel aus „Prêt-à-porter“, zum Tragen bereit und „preta“, Schwarze Frau) tragen Models über den Laufsteg. In Anlehnung an die brasilianische Stilistin Zuzu Angel, die mit versteckten Details in ihren Modeschöpfungen auf die Ermordung ihres Sohnes durch die Militärdiktatur hinwies, sind die Kleidungsstücke der afro-brasilianischen Designer*innen mit Schriftzügen wie „Das Leben Schwarzer Menschen ist von Bedeutung” versehen. Andere Textilien verfügen über Aufschriften mit den Namen aller durch Polizeigewalt in Favelas umgebrachten Kinder und Jugendlichen. An den Wänden informieren biographische Porträts über die ermordeten Minderjährigen.
Zum ersten Mal fand die Veranstaltung außerhalb der Favelas in Rio de Janeiros Staatsbibliothek statt. Festivaldirektor Julio Ludemir erklärt in der Eröffnungsrede, ein Zeichen gegen den aufkommenden Faschismus im Lande setzen zu wollen. Das an diesem Abend stark afro-brasilianisch geprägte Publikum in der randgefüllten Bibliothek klatscht. Auf der Modeshow treten Models verschiedener Hautfarben, Altersklassen und Geschlechteridentitäten auf und werden mit tosendem Applaus bedacht. Spitze Schreie erklingen allerdings, als Kleidungsstücke mit roten Klecksen, die Kinderblut symbolisieren sollen, über den Laufsteg getragen werden.
Mit dem Festa Literária das Periferias 2018 kam die Peripherie ins Zentrum. Denn der Austragungsort liegt in der als „Pequena Africa” bezeichneten Region in Rios Stadtmitte. Dieser Name hat eine intensive symbolische Strahlkraft: In Zeiten der Sklaverei war dieses Viertel in der Nähe des Hafens der erste Anlaufpunkt der aus Afrika verschleppten Menschen. So soll metaphorisch eine Brücke zwischen dem afrikanischen Mutterkontinent und der neuen brasilianischen Heimat gebaut werden, erklärt der Festivaldirektor Ecio Salles. Die jahrhundertalte, oft verleugnete afrikanische Herkunft verdichtet sich in dem Begriff „Sankofa”, der Rückbesinnung auf kulturelle sowie historische Werte des Kontinents. In Gesprächsrunden über Panafrikanismus, die Einsamkeit Schwarzer Frauen und Empowerment diskutieren diesen Begriff sowohl bekannte brasilianische als auch afrikanische (Diaspora-) Wissenschaftler*innen wie Bonaventure Ndikung, Djamila Ribeiro oder auch der einflussreiche Musiker und frühere Kulturminister Gilberto Gil.
Auch in den verschiedenen Spielarten des Poetry Slam ist diese Rückbesinnung deutlich zu spüren: Morde an Schwarzen Frauen, Alltagsdiskriminierung sowie kulturelle Identität werden thematisiert. Stehende Beirufe begleiten die bis ins Mark gehenden Slams. Ohrenbetäubend laut wird es, als Negafya, die brasilianische Siegerin des internationalen Poetryslams, herausschreit, das billigste Fleisch auf dem Markt sei „Schwarzes Menschenfleisch”. Klartext, klipp und klar! Empörung und starke Emotionen verbinden sich symbiotisch zu einem kollektiven Wir-Gefühl. Die Slamkonkurrent*innen umarmen sich, hüpfen auf und ab. Das begeistert! Ein durch und durch bunt gemischtes Publikum geht mit, verwandelt die Bibliothek in einen brodelnden Protest-Hexenkessel. Der aus Südbrasilien stammende Rapper Dekilograma wirft dazu lachend ein, die Poesie des Widerstands wäre der einzige Sieger des Wettbewerbs.
Das Festival ist nicht nur Plattform der Marginalisierten, sondern auch eine Manufaktur für Hoffnungen
Die FLUP ist nicht nur wichtige Stimm-, sondern auch Gesichtgeberin. Die zweite Geehrte des Literaturfestivals, Maria Firmina (1822-1917), gilt als erste schwarze Romanautorin in den Amerikas. Vor kurzem wiederentdeckt, wird ihr Erstlingswerk wieder neu aufgelegt. Von der Autorin existieren keine Fotos. Die nicht mehr vorhandene bildliche Erinnerung der Autorin wurde durch einen künstlerischen Wettbewerb, der landesweit nach dem besten Maria-Porträt suchte, ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Auf T-Shirts, im Programmheft sowie auf das Etikett des eigens für die FLUP gebrauten Blond-Ale-Bier gedruckt, wird ihr Konterfei dauerhaft sichtbar gemacht. In pädagogischen Gesprächsrunden wird über antirassistische Erziehung diskutiert, Kindern afro-brasilianische Sagen szenisch vorgespielt; spontan versammelt sich eine Handvoll der Poetry Slam-Teilnehmer*innen zum Vortragen von Gedichten. Ein Nachwuchspoet gesteht dabei, früher Hehlerware sowie Drogen verkauft zu haben, heute bietet er stattdessen sein erstes selbstgeschriebenes Buch an.
Das Literaturfestival ist also nicht nur Plattform der Marginalisierten, sondern auch eine Manufaktur für Hoffnungen. Sie bringt neue Autor*innen hervor, deren Leben sich durch das Schreiben verändert. Paradebeispiel ist FLUP-Teilnehmer der ersten Stunde Geovani Martins. Kometenhaft ist der erst 26-jährige Favelabewohner zum internationalen Literaturstar aufgestiegen. Seine erste Kurzgeschichtensammlung wird in neun Sprachen übersetzt. Bislang der erste globale Erfolg der FLUP Schreibwerkstatt, gehört Geovani zu den 250 neuen Autor*innen, welche über die letzten Jahren publiziert wurden. Monatelang feilten die Verfasser*innen mit erfahrenen Literaturproduzent*innen an ihren Texten. Ohne Allüren diskutiert Martins auf der FLUP über das Vermächtnis des afro-brasilianischen Kanonautors Machado de Assis in Rio de Janeiros Favelas und rezitiert spontan Gedichte. Er sinniert ferner über Rassismus, Peripheriekultur und die Zukunft Brasiliens.
Eine Vielzahl der Veranstaltungsbesucher*innen sieht ihr Leben nachhaltig durch den Kontakt mit Literatur verändert. Wie etwa Joyce Silva, Ballettlehrerin aus der berüchtigten Favela Cidade de Deus: Vor zwei Jahren hat sie auf dem Literaturfestival gratis am Büchertisch einen Roman von Joaquim Maria Machado de Assis herausgefischt. Durch die Lektüre habe sie ein anderes Bewusstsein bekommen, bemerkt sie mit großen Augen. Oder Pollianna Oliveira, als Teenager durch den Schul Poetry Slam vor zwei Jahren auf die FLUP aufmerksam geworden, ist sie dieses Jahr als viel lesende Designerin für die Modenschau von Preta Porter zurückgekehrt. Auf ihrem für die Veranstaltung entworfenen Kleid ist der Schriftzug „Hört unsere Stimmen” zu lesen.
Allen Unkenrufen zum Trotz bleibt inständig zu hoffen, die Fortsetzung des Festivalmottos möge wahr werden. Martinho da Vila singt nämlich weiter, dass „das Leben besser werde”. Etwas Optimismus in solch düsteren Zeiten sollte allen gut tun, Widerstand in aller Munde sein, also: „Singt laut, singt kräftig!”