Brasilien | Nummer 248 - Februar 1995

Die PT nach der Wahlniederlage

Lula, der hoffnungsvolle Kandidat der Arbeiterpartei für die Präsidentschaftswahl, ist gescheitert. Wie zu erwarten gingen nach dem Debakel inner­parteiliche Auseinandersetzungen los, wer denn an der Niederlage schuld sei. Der in unserer Dezember­ausgabe zu Wort gekommene ehemalige General­sekretär der PT Weffort hat sich inzwischen vom Parteibuch ge­trennt, um Kulturmini­ster in der Regierung Cardoso zu werden. Nun soll eine Meinung vorgestellt wer­den, die nicht die Mehrheitspositionen in der PT widerspiegelt. Carlos Vainer ist Di­rektor des Instituts für Stadt­planung an der Universität von Rio. Er ist politisch ver­bunden mit Vladimir Palmeiras, einem der pro­mi­nen­testen Vertreter der unabhängigen Linken in der Partei und ehemaliger Abgeordneter der PT. Palmeiras unter­lag im in­nerparteilichen Kampf um die Kandidatur für den Gouverneursposten in Rio nur hauchdünn. Vainer ko­ordinierte sein Regierungsprogramm. Er legt Wert auf die Fest­stellung, daß er hier seine persönliche Mei­nung wiedergibt und für niemanden als für sich selbst spricht.

Interview: Thomas W. Fatheuer

LN: Wie schätzt Du die Situation der PT nach den Wahlen ein?
Carlos Vainer: Wir müs­sen uns über die heu­tige Si­tu­ation in einem größeren Kontext klar­werden. Sie ist ge­kenn­zeichnet auf der einen Seite durch eine relative Schwäche der sozialen Bewe­gungen, auf der anderen Seite durch die Kon­solidierung eines neuen hegemonialen Blocks der Bour­geoisie. Angesichts dieser Situation wach­sen die Kräfte in der PT, die ich als die Rechten in der PT be­zeichnen möchte. Ich zögere, sie Sozial­demokraten zu nennen, das wäre eine Un­gerechtigkeit gegenüber der historischen Sozialdemokratie, denn diese Leute stehen viel weiter rechts. Nennen wir sie mal den “gemäßigten Block”. Für sie steht nicht mehr die Stär­kung autonomer politischer Subjekte im Mittelpunkt, sondern die blo­ße Teilnahme an der Regierung, die Sich­erung der Re­gier­barkeit. Natürlich gibt es an­dere Kräfte in der PT. Aber das ist die herr­schende Logik, die einen Konser­vativis­mus produziert, der nur noch die Regie­rungsbeteiligung im Auge hat. In die­ser Perspektive von Realpolitik ist es immer besser, in der Regierung zu sein, als draußen, weil man dort mehr erreichen kann. Ich kann diese Sicht nicht teilen. Das Streben nach Regierungsbeteiligung muß zwangsläufig die Formierung auto­no­mer politischer Subjekte aufgeben. Für mich sind aber Erfolge nur möglich über die Stärkung der autonomen Subjekte.
Aber muß das so entgegengesetzt ge­sehen werden? Auch eine Regierungs­beteiligung kann dazu beitragen, die au­tonomen Projekte zu stärken. Das war doch auch die Idee der ersten Admini­strationen der PT, die sich über “con­selhos populares” (Volksräte) ver­ankern wollten.
Wo sind diese conselhos populares ver­wirklicht worden? Die PT hat sich dar­auf ver­legt, nur eine gute Verwaltung ma­chen zu wollen. Aber das ist nur das ab­solute Minimum. Jeder Unternehmer will doch heute eine gut funktionierende Ver­wal­tung. Gut, Cristovam Buarque, der neu ge­wählte PT-Gouverneur von Brasilia, hat auch die Umkehrung der Prioritäten auf seine Fahne geschrieben. Aber auch das un­ter­scheidet die PT nicht von irgendeiner demo­kratischen Partei. Aber was würde sie unterscheiden? Eine Politik, die wirk­lich in die Gefüge der Macht eingreift und al­ter­native politische Erfahrungen er­möglicht. Ich meine nicht, daß eine Re­gie­rungsbeteiligung per se die Stärkung au­to­no­mer politischer Projekte verhindert. Wenn aber die PT-Bürgermeisterin von Sâo Paulo, Luiza Erundina, sagte, sie wolle für alle regieren, dann will sie in Wirk­lichkeit nicht für alle regieren, son­dern sich den dominierenden Interessen unter­ordnen. Ich stehe auch den Allianzen ab­lehnend gegenüber, die die PT bei den letzten Wahlen in verschiedenen Bundes­staaten gemacht hat, um in die Regierung zu kommen. Wer heute entscheidet, das ist der Apparat
Aber die verschiedenen Erfahrungen, die die PT in verschiedenen Lokalver­waltungen gemacht hat, sind doch viel­leicht in die Richtung gegangen, in die sie gegangen sind, nicht weil böse Re­formisten sich durchgesetzt haben, son­dern weil die realen Verhältnisse wenig Spielraum für Veränderungen lassen. Wir dürfen doch auch nicht vergessen, daß die PT oft zwar den/die Bürgermei­ster/in stellte, aber nicht die Mehrheit der Abgeordneten.
Aber das hängt doch davon ab, wie ich an die Regierung herangehe, ob ich sie als ein Form der Verwaltung sehe oder eine Form der Herrschaft. Im ersten Falle wer­de ich bemüht sein, die Regierbarkeit zu sich­ern, im zweiten, mit dieser Herr­schaft zu brechen. Wenn ich das will, dann muß ich bereit sein, mit diesen In­stitutionen in Kon­frontation zu gehen. Das erreicht man natürlich nicht innerhalb die­ser In­sti­tu­tionen. Eine Partei, die Ände­rungen will, muß dann außerinstitutionelle Prozesse för­dern. Wenn aber die Frage der Regier­barkeit im Mittelpunkt steht, dann handelt es sich um eine konservative Par­tei. Die PT in ihrer Mehrheit ist heute eine demo­kratische Partei mit sozialem Anlie­gen. Von ihrem Ursprung her trägt sie noch eine Spannung in sich. Sie vereinigt noch die Kräfte, die auf die Stärkung der auto­nomen Subjekte in den sozialen Bewe­gungen setzen und den Bruch. Aber ich würde sagen, daß das heute nur noch eine schwache Tendenz ist. Das ist alles mit einer Bürokratisierung der PT verbun­den. Wer heute entscheidet, das ist der Ap­parat.
Glaubst Du, daß nach den letzten Wahlen die Linken in der Partei weiter an Einfluß verlieren werden?
Ich möchte eins klar stellen: Was die Presse jetzt so schreibt, daß die Linken in der Partei Einfluß auf die Wahlkampagne hatten und deshalb die Niederlage auf sie zurückfällt, halte ich für völligen Quatsch. Es war die Parteirechte, die die Kampagne dirigiert hat.
Die Rechten sind für die Niederlage verantwortlich
Was hatte denn die Partei für ein Regie­rungsprogramm? Was ist zum Beispiel die Position der PT zur Rolle des Staates? Zum einen verteidigt sie die korporativi­stischen Interessen der Staatsangestellten, zum andern stellt sie offen liberale Forde­rungen auf. Eine Wirtschaftspolitik der PT? Gibt es nicht. Es gibt eine Beliebig­keit, in der einfach ein Menü für alle Ge­schmäcker zusammengestellt ist. Und wer hat an der Ausarbeitung des Programms teilgenommen? Die sozialen Bewegungen sicherlich nicht.
Nach meinen Beobachtungen haben sie wohl teilgenommen. Zum Beispiel die Bewegungen, die sich um Stadtfragen kümmerten, haben Einfluß auf den be­treffenden Teil des Programms genom­men, ebenso die “ecologistas”.
Aber ist das zu einem Gesamtkonzept zu­sam­men­geführt worden? Den ent­schei­den­den Einfluß hatten einige In­tel­lek­tuelle, die oftmals keine historischen Ver­bin­dungen mit den sozialen Bewegun­gen ha­ben. Arbeiter, die soziale Basis – wo? Die Erfahrung der sozialen Kämpfe ist eine Leerstelle im Programmm der PT. Das Programm enthält das gesammelte technische und intellektuelle Wissen der PT-Experten.
Ich will regieren – wofür? Um die Ge­sund­heitsversorgung, die Bildung zu ver­bes­sern. Das sagen doch alle. Ein Pro­gramm müßte vielmehr die Strategie einer Regierung bestimmen. Was sind die Machtinteressen, die ich angreifen will? Wer sind meine Feinde? Nehmen wir die Landfrage: Welche sozialen Kräfte auf den Land will ich schwächen, mit welchen gehe ich auf Konfrontation. Solche Fragen müßten gestellt werden. Das muß ein strategisches Programm diskutieren. Das jet­zige Programm will die Regierungsfä­higkeit untermauern und nicht eine Dy­namik sozialer Kämpfe. Das ist für mich die große Scheidelinie. Jede linke Partei trägt wohl diese beiden Linien in sich, dieses Moment der Spannung muß es ge­ben, es vitalisiert das Leben der Partei. Was ich befürchte, ist die Erstarrung auf­grund der Vorherrschaft der institutionali­sierten Seite. Das geschieht zur Zeit in der PT.
Und die Wahlkampagne?
Das war doch die Herausstellung einer Persönlichkeit (Lula) und nicht die For­mierung einer sozialen Dynamik. 1989 war das anders. Da waren die Massen und die PTistas auf den Straßen. Diesmal ha­ben selbst die PT-Mitglieder die Kampa­gne nicht als ihre angesehen. Schwerwie­gend war nicht die Wahlniederlage. Von den Stimmen her war das Ergebnis gar nicht schlecht.
“Die PT wurde politisch massakriert”
Schwerwiegend ist die politische Nie­derlage. Politisch wurde die PT massa­kriert. Sie konnte kein alternatives politi­sches Projekt stärken. Die PT erschien nicht als eine Partei mit einem grundle­gend anderen Vorschlag, sondern als eine Partei mit sozialen Anliegen.
Aber vielleicht hat dies nicht nur mit Schwierigkeiten der PT zu tun. Weltweit stellt sich doch die Frage, was ist denn eigentlich noch ein linkes Projekt. Das heißt, wo ist überhaupt eine grundle­gende Alternative in Sicht, wenn es im Augenblick wenig realistisch erscheint, einen Bruch mit den ökonomischen Macht­strukturen im Weltmarkt in Erwä­gung zu ziehen.
Ich glaube, das ist mehr eine politische denn eine ökonomische Frage. Laß mich ein Beispiel geben: Auf dem letzten Par­teitag hat die PT aus ihrem Entwurf für das Regierungsprogramm die Legalisie­rung der Abtreibung gestrichen. Das war eine große politische Niederlage. Es war ein Verrat an einer ganzen Dynamik sozi­aler Kämpfe, um politische Allianzen zu suchen. Ein weiteres Beispiel: Die beiden gewählten Gouverneure der PT haben Militärs zu den Verantwortlichen für Si­cher­heitsfragen in ihren Regierungen er­nannt.
“‘Wählt Lula’ ist kein Programm!”
Das heißt, die PT gibt demokratische Grundforderungen auf, nämlich daß die bewaffneten Kräfte einer zivilen Kontrolle unterstehen müssen. Hier geht es doch gar nicht um revolutionäre Forderungen. Selbst ganz gewöhnliche demokratische Zie­le werden aufgegeben. Das ist die Kon­sequenz der Logik der Regierungsfä­higkeit. Sie führt letztendlich zu einer Schwind­sucht auch der Demokratie in der Partei.
Das führt mich zu der Frage nach dem Platz der Basis innerhalb der Partei. Gut sichtbar in der PT sind die Tendenzen, die spezifischen Gruppen wie Gewerk­schaften und die professionalisierten Po­litiker. Schwierig ist es aber, eine funk­tionierende Basisgruppe (nucleo) der PT zu finden.
Klar, wenn die Partei ein Kanal der po­litischen Repräsentation, der Stellvertre­terpolitik ist, dann sind die Basisgruppen der Partei nicht mehr wichtig. Die PT ist nicht mehr vorwiegend ein Ort der Orga­nisation sozialer Kämpfe. Der nucleo ist nur noch wichtig als Organ der Repräsen­tation, das heißt: um gewählt zu werden, um an den Hierarchien der Partei teilzu­haben. Was für eine zentrale politische Forderung hat denn die PT in den vergan­genen Jahren lanciert, außer “Wählt Lula”? Was waren die politischen Kämpfe, die die Partei in den letzten fünf Jahren geführt hat, bei denen sie die Be­wegungen mobilisiert hat? Außer dem Kampf für die Amtsenthebung von Collor sehe ich da nichts. Dagegen sehe ich heute die große Gefahr, daß die PT die Kraft verliert, die Erfahrungen der Basis, der sozialen Bewegungen aufzugreifen. Das ist es, was mit den klassischen sozialde­mokratischen Parteien, aber auch mit den kommunistischen Parteien geschehen ist. Ich will dabei gar nicht behaupten, daß die Basis gut und der Apparat schlecht ist. Auch bei der Basis, den sozialen Bewe­gungen gibt es Machtkämpfe, Intrigen. Aber ich will, daß diese Spannung zwi­schen Basis, zwischen Gruppen, die den Bruch wollen, und den konservativen Kräften aufrecht-erhalten bleibt. Nach den Wahlen versucht man nun, die Niederlage den Linken in der PT in die Schuhe zu schieben. Das ist ein Skandal. Die PT hat doch keine linke Kampagne gemacht. Wen hat sie denn bedroht?
Nun, die “Rechten” in der Partei, al­len voran Genoino behaupten, der große Fehler sei gewesen, nicht schon am An­fang der Kampagne eine Politik der Bündnisse entwickelt zu haben. Sie be­haupten, daß eine Allianz mit der PSDB möglich gewesen sei, ja sogar der Eintritt der PT in eine Regierung Itamar. “Der Plano Real hätte unser sein können”, war zu hören.
Ja, das führt zu einer anderen Frage. Was ist denn der Charakter des neuen he­gemonialen Blocks? Sich an der Regie­rung beteiligen zu wollen, setzt voraus, daß es in diesem Block einen Platz für die Volksbewegungen gibt. Die PT hat ihren Ursprung im demokratischen Kampf ge­gen die Militärdiktatur. Damals war es möglich auf der Grundlage demokrati­scher Forderungen, wie der nach Direkt­wahl, Bündnisse zu schließen. Diese Etappe hat sich erschöpft. Heute haben wir eine Demokratie in Brasilien, eine brasilianische Demokratie, die via Wahlen ein System der Repräsentation geschaffen hat. Heute muß sich doch die Frage so stellen: Was ist der Platz der progressiven, radikalen Volksbewegungen in einem neo­liberalen Projekt? Welche Hoffnungen gibt es innerhalb dieses Projekts? Was heute die Gesellschaft spaltet, ist nicht mehr die Frage Diktatur versus Demokra­tie. Der neue hegemoniale Block hat sich entlang anderer Fragen herausgebildet und das hat die Linke nicht begriffen. Er ist heute etabliert, mit Widersprüchen und Schwierigkeiten, um neoliberale Politik in Brasilien effektiv umzusetzen. Fernado Henrique verkörpert diese Wendung gut. Er war ein demokratischer Kämpfer gegen die Diktatur. Er muß heute nicht aufhören Demokrat zu sein, um die Führungsfigur der Rechten zu werden. Fernado Henrique hat verkündet, daß wir in eine neue histo­rische Etappe eintreten. Ich glaube, er hat recht, als Präsident und als Soziologe. Für die Linken kann sich doch nicht die Frage stellen, wie beteilige ich mich an diesem neuen hegemonialen Pakt, sondern wie kann ich ihn besiegen. Das haben weite Kreise in der PT nicht begriffen. Die PT ist heute ein Waisenkind des demokrati­schen Kampfes.

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